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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 17. Oktober 2012; 04:04
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International:
> Der Krieg in Syrien
Bericht einer Fact-finding-Mission, Teil 1
Von *Leo Gabriel, Wilhelm Langthaler, Evangelos Pissias (GR) und 
Fernando Romero Forsthuber (Spanien)*; Uebersetzung aus dem 
Englischen.
*
Vom 29.August bis 12.September 2012 unternahmen wir eine Reise nach 
Syrien, die wir als Vorbereitung eines groesseren Unterfangens sehen, 
einer Friedensmission von Persoenlichkeiten der internationalen 
Zivilgesellschaft. Auf dieser Reise hatten wir die Gelegenheit zu 
Gespraechen mit Vertretern von fast allen politischen Kraeften im 
syrischen Konflikt, die offen jede auslaendische Militaerintervention 
ablehnen und ein Ende der Gewalt und Repression wuenschen, die im 
groessten Teil des Landes zum Buergerkrieg gefuehrt haben.
Wir versuchen unsere Analyse so objektiv wie moeglich zu halten, indem 
wir die Meinungen vieler unterschiedlicher Menschen, mit denen wir 
gesprochen hatten, wiedergeben und nicht so sehr unsere eigenen - 
durchaus unterschiedlichen - Sichtweisen der Situation. Wenn es 
Widersprueche zwischen den verschiedenen Aussagen gibt, dann 
praesentieren wir sie als solche.
Geschichte und Struktur des Regimes:
Laut Dr. Fayez Favas, einem sehr angesehenen Oppositionellen 
(Gruendervater der syrischen KP, 12 Jahre Gefaengnis waehrend der 
Regierungszeit von Hafez Assad, stuetzt sich das syrische Regime 
einerseits auf Armee und Sicherheitskraefte und andererseits auf die 
Baath-Partei mit mehr als einer Million Unterstuetzern. "Die Armee 
ist - ob wir es wollen oder nicht - der Staat. Wenn sie zerstoert 
wird, hoert Syrien auf, ein souveraener Staat zu sein." zitiert Fayez 
Favas einen der Oppositionsfuehrer. Zur Zeit des Kalten Krieges 
gruendete Hafez Assad die sogenannte Nationale Front, um absolute 
Kontrolle ueber das politische Leben zu haben, und verbot gleichzeitig 
Gewerkschaften, linke Parteien und die Muslim-Bruderschaft. Dabei 
hielt er die Menschen durch grosse Landreformen und 
Vollbeschaeftigungspolitik ruhig. Die vielen rivalisierenden 
(angeblich ca. 16) Sicherheitsbehoerden zeigten ihre Macht dadurch, 
dass selbst fuer einzelne Eheschliessungen ihre Bewilligung noetig 
war. Die Probleme begannen mit der Entstehung groesserer Bewegungen 
wie z.B. 1976 gegen die Invasion im Libanon, 1979 als Rechtsanwaelte 
(Verteidiger der Muslimbruederschaft) eine Demokratisierung der 
Gesellschaft verlangten und schliesslich 1982 mit dem Massaker von 
Hama mit tausenden Opfern.
"Anders als sein Vater fuehrt Bashar al Assad das Land zusammen mit 
seiner Frau wie ein Angestellter einer Werbeagentur", sagt Fayez 
Fawas. Waehrend seiner Amtszeit oeffnete er die Tuer zu neoliberalen 
Privatisierungen und foerderte oder duldete Spekulationen einer 
aufstrebenden Oligarchie, was die Kluft zwischen Arm und Reich enorm 
vergroesserte. In der Folge sind mehr als eine Million Menschen 
ausgewandert, vor allem in den Libanon, Jordanien, die Golfstaaten und 
Griechenland.
Vom Konflikt zum Krieg
Vor diesem Hintergrund verstehen wir, warum es zu einer Krise kam, die 
sich zunaechst als breite soziale Unzufriedenheit der unteren Klassen 
und da vor allem bei der sunnitischen Bevoelkerung (etwa 55 Prozent 
der Gesamtbevoelkerung) entwickelte. Im Gegensatz zu den anderen 
Religionen wie Alawiten, Schiiten und verschiedenen christlichen 
Konfessionen (vor allem russische und syrisch-orthodoxen sowie 
roemisch-katholisch) hatten die syrischen Sunniten einen politischen 
Bezugspunkt in der Muslimbruederschaft gefunden, die schon immer 
dogmatischer als die aegyptische, tunesische oder tuerkischen Pendants 
gewesen sein sollen.
Dabei soll nicht vergessen werden, dass die Syrer gewoehnt sind in 
einer nationalistischen Tradition ohne Praeferenz fuer irgend eine 
Religion zu leben. Als daher am 18.Maerz 2011 in Daraa die Proteste 
ausbrachen, war der Konflikt laut einem Augenzeugen eher 
zurueckzufuehren auf eine allgemeine Unzufriedenheit mit den lokalen 
Behoerden, dem Buergermeister und den Sicherheitskraeften als auf 
irgendeine ideologische Vision. Der sogenannte "arabische Fruehling", 
stark von Al Jazeera beeinflusst, lieferte die Funken. Was dann folgte 
in Homs, Hama, Idlib und anderen Orten wurde eine wirklich populaere 
Bewegung durch nicht bewaffnete Demonstranten, mit der Forderung nach 
demokratische Reformen und spaeter, als diesen Forderungen nicht 
nachgegeben wurde, nach dem Sturz des Assad-Regimes. "Es ist wahr, 
dass die Sicherheitskraefte angriffen", erzaehlte Dr. Bouthaina 
Shabaan, die sehr renommierte Beraterin des Praesidenten, "aber wir 
haben von Anfang an gesagt, dass da Waffen vorhanden waren. Sie toeten 
unsere besten Leute und jetzt greifen sie Flughaefen an wie die 
Israelis. "
Diese Diskussion, "wer den ersten Stein geworfen" habe, wurde, so 
sinnlos wie es in einem Konflikt erscheint, der nach UN-Angaben mehr 
als 20 000 Menschen das Leben gekostet hat, zum Grundstein einer 
ganzen politischen Architektur auf beiden Seiten des Konflikts. 
Einerseits rechtfertigt die Regierung damit den enormen Anstieg der 
Unterdrueckung der Volksbewegung, andererseits liefert es fuer viele 
einen Grund zur Intervention von aussen wie im Irak und in Libyen.
"Ich habe noch nie einen Auslaender in meiner Nachbarschaft gesehen, 
aber ich habe viele Todesschwadronen herumlaufen gesehen nach der 
Explosion von Bomben", sagt einer der Teilnehmer einer Volksbewegung 
in den Aussenbezirken von Damaskus, nur eines von vielen 
Schlachtfeldern der Freien Syrischen Armee (FSA). Andere Zeugen sagen, 
dass die Verfolgung ihrer Opfer und die Praxis der Massenhinrichtungen 
anscheinend ein gemeinsames Merkmal dieser ungleichen Konfrontation 
zwischen den paramilitaerischen Gruppen der Opposition und der Shabiha 
(Miliz), die in enger Abstimmung mit den Sicherheitskraeften und der 
Armee arbeiten, sind. Es ist sehr schwierig, die Staerke der 
militarisierten Kraefte zu vergleichen. Die Aufstaendischen, mit denen 
wir gesprochen haben, sprechen von ca. 40.000 Bewaffneten auf ihrer 
Seite, waehrend die Syrische Armee allgemein auf 160.000 eingeschaetzt 
wird, und sie ist eine der am besten ausgestatteten in der Region.
In den interreligioesen Konflikten, die zugenommen haben, war die 
Armee nicht sehr beteiligt, zumindest laut einem Direktor einer 
NGO-Zeitung, weil auch in der Armee verschiedene Religionen vertreten 
seien. Andere meinten, dass auch die Armee an diesen 
Auseinandersetzungen beteiligt sei. Allerdings seien die Soldaten 
nicht zum Schutz der Zivilbevoelkerung da, ganz im Gegenteil. Sie 
zerstoeren aus der Luft zu oder aus weiter Entfernnung gesamte 
Bereiche, in denen Kaempfe stattfinden. Auf diese Weise wurde z. B. 
mehr als die Haelfte von Homs komplett verwuestet.
Wenn einer unserer Interview-Partner sagte, dass ""in Syrien die 
einzige Macht, die es gibt, die Waffe ist" und dass es keine 
"befreiten Zonen in Syrien geben koennen, solange sie durch Raketen 
und Flugzeuge erreichbar sind ", gibt es nur eine Schlussfolgerung: Es 
gibt einen internen Krieg hoher Intensitaet, den keine der beiden 
Seiten militaerisch gewinnen kann. Der Rest sind die Stille der 
Friedhoefe und die riesige Menge von Menschen, die unterwegs sind.
Die Zahlen von 1,2 Millionen internen Fluechtlinge und 250 000 in den 
Nachbarlaendern scheinen Unterschaetzungen. Der Direktor der Caritas 
Libanon zum Beispiel widerspricht der offiziellen Version, dass es nur 
60 000 syrische Fluechtlinge im Libanon gaebe: "Es muessen mindestens 
150 000 sein", sagt er. Gespraeche mit diesen Fluechtlingen zeigen die 
Grundstimmung der grossen Mehrheit der syrischen Bevoelkerung, die von 
nur einem Wort charakterisiert werden kann: ANGST; Angst vor den 
Bomben, Angst vor Schiessereien, Angst vor der Ermordung durch 
unmenschliche Extremisten und Angst, es nicht bis zur Grenze zu 
schaffen. Man kann nicht sagen, dass die Mehrheit der Menschen auf der 
einen Seite oder der anderen steht, da gibt es viele, besonders in den 
mittleren Klassen, die auf jeden Fall gegen das Regime von Basher al 
Assad sind, aber noch mehr Angst haben vor der "Zeit danach" . Und es 
gibt viele, die (oft ohne es zu wissen) in den bewaffneten Widerstand 
verwickelt wurden, und die haben ebenso viel Angst vor dessen 
militaerischer Inkompetenz, wie vor den Bomben aus den Flugzeugen.
All diese Elemente muessen in Betracht gezogen werden, daher kann die 
Antwort auf die Frage ,Wer wird den Krieg gewinnen?' nur lauten: 
Niemand!
Die Vielfalt der Gegensaetze
Es ist nicht leicht, die syrische Opposition zu charakterisieren. In 
den unteren Bevoelkerungsschichten, in den Vororten und auf dem Land 
hat sie eine starke soziale Komponente. Aber es gibt auch eine 
politisch gebildete Minderheit, die dezidiert politisch fuer eine 
Demokratisierung eintritt. Unter ihnen gibt es viele Intellektuelle, 
die Jahre in den Gefaengnissen von Hafez al Assad verbrachten. Andere 
leben heute im Ausland, viele von ihnen in Paris.und sie koennen auf 
viele Anhaenger und eine gewisse organisatorische Infrastruktur 
innerhalb des Landes zaehlen.
Die linken und linksliberalen Demokraten betrachteten die Aufstaende 
im Maerz 2011 als Chance fuer einen demokratischen Wandel. Zwei von 
ihnen, Dr. Fayez Fawas und Salim Kheirbek, schrieben einen Brief an 
den Praesidenten, aber sie erhielten keine sofortige Antwort. Wenige 
Monate spaeter bat ein Armeegeneral um weitere Erlaeuterungen.
Einige hochrangige Vertreter der libanesischen Hisbollah und der 
palaestinensischen Hamas sagten uns, dass Bashar al Assad nicht nur 
durch den Druck der Strasse zu demokratischen Reformen gedraengt 
wurde. Auch der Vize-Praesident von Syrien und einige seiner Minister 
waeren fuer eine politische Loesung des Konflikts gewesen, eine 
Perspektive, die mit dem Praesidenten formal vereinbart worden war.
Aber es dauerte fast ein Jahr und kostete die syrische Bevoelkerung 
mehr als 10 000 Tote, bis es zu den sogenannten "demokratischen 
Reformen" im Februar 2012 kam:
Gestrichen wurde die Bestimmung der alten Verfassung, dass die einzige 
Partei in Syrien die Baath-Partei ist. Diese Reform hatte zur Folge, 
dass bei den Parlamentswahlen die Baath-Partei 67 Prozent der Stimmen 
bekam, waehrend 25 Prozent Mandate an so genannte "unabhaengige" 
Kandidaten gingen.
Die Gewaehrung buergerlicher Freiheiten, z.B. das Recht zu 
demonstrieren und auf unabhaengige Medien, stand allerdings in 
scharfem Kontrast zu der extremen Gewalt und den systematischen 
Toetungen der Demonstranten. Der verlangte "Respekt fuer kulturelle 
Unterschiede" zielte darauf ab, das Verbot der Muslimbrueder, der 
Salafisten und anderer islamischer Organisationen, die eine religioese 
Herrschaft durch die Einfuehrung der Scharia etablieren wollten, 
aufrechtzuerhalten.
Allen unseren Gespraechspartnern mit Ausnahme derer der Regierung war 
klar, dass diese "Reformen" nicht nur schwach in ihrer 
institutionellen Form waren, sondern dass die Veroeffentlichung am 
Hoehepunkt der militaerischen Auseinandersetzung unguenstig war.
Andererseits zeigt dies auch die Spannungen innerhalb der Regierung, 
wo ein "innerer Kreis" die Vernichtung der Opposition mit 
militaerischen Mitteln forderte, und ein "aeusserer Kreis", der auf 
geopolitische Ueberlegungen Ruecksicht nahm. Auf Seiten der Opposition 
ist die Kluft zwischen den Vertretern einer politischen Loesung mit 
dem Ziel eines demokratischen Wandels und dem Prinzip der nationalen 
Souveraenitaet ohne auslaendischen Einfluss und andererseits den 
Vertretern einer bewaffneten Revolution mit starker Unterstuetzung 
oder sogar offener Intervention durch Laender wie Qatar, 
Saudi-Arabien, Tuerkei, Frankreich oder die USA noch groesser. Die 
erste Gruppe unterlag der zweiten wegen der starken Polarisierung des 
Konflikts und weil die "Militaristen" von den Salafisten aufgehetzt 
werden, wobei etliche Anfuehrer der Muslim-Bruderschaft in der Tuerkei 
oder in den Golf-Staaten leben und keine Verbindung zur syrischen 
Realitaet haben. Aber die Staerke dieser Gruppe soll auch nicht 
ueberschaetzt werden.
Wir haben den Eindruck, dass es wenig Koordination zwischen den 
verschiedenen politischen und militaerischen Gruppen gibt. Die "Freie 
Syrische Armee" sei keine Organisation, sondern eine 
Markenbezeichnung, die sich jeder Kaempfer nimmt, meint einer unserer 
Interviewpartner. Er erzaehlte uns auch von dem Beispiel von zwei 
FSA-Gruppen in Idlib, die sich gegenseitig bekaempften -- die einen 
waeren stammesorientiert gewesen waehrend die anderen zu einer Gruppe 
von Drogenschmugglern gehoeren sollen.
Daher ist auch bis heute nicht gelungen, einen Generalstab zu 
gruenden. Da die offizielle syrische Armee aber keinen "Kopf" 
vorfindet, den sie abhacken kann, hat sie Schwierigkeiten, die 
Rebellen zu bekaempfen. Andererseits haben sowohl die zivile 
Oppositionsbewegung als auch die FSA durch diese Strukturlosigkeit 
Schwierigkeiten, sich politisch zu artikulieren.
(Uebersetzung: -ig- / gekuerzt)
Engl. Original: 
http://akinmagazin.wordpress.com/2012/10/02/war-in-syria-the-threads-of-a-blood-drained-carpet/
Teil 2 in der naechsten akin zu den Themen "Auslaendische Intervention 
und Sektierertum" und "Vorschlaege fuer Frieden durch politischen 
Dialog"
***
Kasten:
> Zitiert
"Eine Alternative waere, die diplomatischen Bemuehungen zuerst auf die 
Beendigung der Gewalt und die Durchsetzung eines humanitaeren Zugangs 
noch unter Assads Herrschaft durchzusetzen. Das koennte zur Schaffung 
'sicherer Haefen' und 'humanitaerer Korridore' fuehren, die durch 
begrenzte militaerische Kraefte (aus dem Ausland) geschuetzt werden 
muessten. Diese Entwicklung wuerde natuerlich hinter den eigentlich in 
Syrien verfolgten US-Absichten zurueckbleiben und Assad zunaechst im 
Amt belassen. Von diesem Ausgangspunkt waere es jedoch moeglich, eine 
breite Koalition mit dem passenden internationalen Mandat auszustatten 
und weitere Veraenderungen zu erzwingen." (Aus dem Bericht des 
US-amerikanischen Think-Tank Brookings Institution, Maerz 2012)
"Es ist unbekannt, ob die Moerser-Granaten von syrischen 
Regierungstruppen oder von Rebellen abgefeuert wurden, die den 
Praesidenten Baschar al-Assad stuerzen wollen. Die Antwort der Tuerkei 
laesst darauf schliessen, dass sie die syrische Regierung fuer den 
Angriff verantwortlich macht." (Kommentar in der New York Times, 
4.10.2010)
Beides zitiert nach: linkezeitung.de
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