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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 10. Oktober 2012; 03:38
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Schwerpunkt: WIDERSTAND! Aber wie?
> Griechenland: Ohne Job kann man nicht streiken
Stimmungsbericht vom Generalstreik
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Gerade noch rechtzeitig kommen wir am Morgen des 26. Septembers in 
Athen an. Die Busse fahren noch und wir fragen uns, ob heute wirklich 
ein Generalstreik stattfindet. Wie wir spaeter erfahren, haben die 
Gewerkschaften abgemacht, dass der oeffentliche Nahverkehr nur frueh 
morgens und abends bestreikt wird, damit alle an der grossen 
Demonstration im Stadtzentrum teilnehmen koennen. Flugzeuge und 
Faehren bleiben den ganzen Tag ausser Betrieb.
Um 10.30 ist der Treffpunkt der zwei grossen Gewerkschaften ADEDY (des 
oeffentlichen Dienstes) und GSEE (der Privatwirtschaft), von kleinen 
Gewerkschaften, von linken Netzwerken, Basisorganisationen und dem 
linken Wahlbuendnis Syriza. Die kommunistische Partei hat sich an 
einem anderen Ort in der Naehe getroffen und demonstriert separat. Wir 
haben die Nachricht erhalten, dass die neonazistische Organisation 
"Goldene Morgenroete" ebenfalls aufgerufen hat, sich an diesem Tag mit 
griechischen Flaggen auf dem Syntagma Platz zu versammeln. Dieser ist 
auch Teil der Demoroute der Linken. Es herrscht Unsicherheit in Teilen 
der Demonstration was passieren und ob es zu Auseinandersetzungen 
kommen wird. Die Neonazis werden jedoch den ganzen Tag ueber nicht zu 
sehen sein. In den Nachrichten am Abend wird berichtet werden, dass in 
ganz Griechenland grosse Demonstrationen stattgefunden haben und in 
Athen bis zu 120.000 Menschen auf den Strassen waren. Versammlungen 
der Neonazis werden nicht erwaehnt.
In einer sehr kurzfristigen Mobilisierung haben zuerst die zwei 
grossen Gewerkschaften zum Streik gegen die anstehenden Sparmassnahmen 
aufgerufen. Wie uns im Laufe der Demo erzaehlt wird, ist dieser Aufruf 
nur ein Anlass fuer die eigentliche Mobilisierung, die ueber eine 
Vielzahl von Netzwerken und Basisorganisationen stattfindet. Die 
Aufrufenden waren sich unsicher, wie viele Menschen wirklich an dem 
Streik teilnehmen wuerden: In den meisten Familien gibt es nur noch 
eine Person mit Einkommen und immer mehr koennen es sich nicht 
leisten, den Lohn eines Tages zu verlieren. Andererseits sind 
mittlerweile so viele Menschen erwerbslos oder nur zeitweise 
beschaeftigt, dass sie ohne weitere Verluste demonstrieren koennen.
Sie alle sind wuetend. Wuetend auf die griechische Regierung, wuetend 
auf die Troika und die Regierung Merkel. Alle diese Akteure sind daran 
beteiligt, das dritte Paket von Sparmassnahmen voranzutreiben, welches 
den griechischen Staat vor einem Bankrott und der Zahlungsunfaehigkeit 
gegenueber internationalen Banken "retten" soll. Das bisher 
umfassendste Sparpaket von 11,5 Milliarden Euro bedeutet den Abbau 
dessen, was vom griechischen Sozialstaat nach den ersten zwei 
Sparpaketen noch uebrig geblieben ist. Unter den Menschen in 
Griechenland wird die Situation mit einem Wortspiel ausgedruckt: "Sie 
sagen, dass sei das Ende der Sparmassnahmen. Aber es ist UNSER Ende." 
Es wird darueber beraten, noch 20.000 Menschen im oeffentlichen Sektor 
zu feuern. Das Rentenalter soll von 65 auf 67 Jahre angehoben werden. 
Schulen, Kindergaerten und Krankenhaeuser sollen geschlossen und 
Gelder fuer Medikamente gekuerzt werden. Insbesondere fuer die unteren 
Einkommen sollen die Steuern angehoben werden. Die Umverteilung von 
unten nach oben, von oeffentlich zu privat, veraendert die griechische 
Gesellschaft schnell und radikal. Ein Grossteil der griechischen 
Bevoelkerung ist davon betroffen und draengt mit grosser Wut auf die 
Strasse.
Anschwellendes Gewusel bei 35 Grad
Um 11.30 finden wir uns in dem Gewusel vor dem Archaeologischen Museum 
wieder. Die Demo geht vor 12.30 Uhr nicht los und die Menschen in den 
Strassen um den Treffpunkt herum werden immer mehr. Es sind 35 Grad. 
Wir sitzen auf der Treppe des Museums. Im Schatten des Gebaeudes 
relaxen junge Menschen und faechern sich Luft zu. Ein Mann mit 
Motorrad-Helm pfeift und winkt seine Freunde mit ihrem Transparent 
herbei. Neben uns setzen sich Jugendliche mit Irokesen-Frisur und 
einer Handvoll roter Fahnen mit dicken Stoecken. Nach und nach gehen 
alle zum Auftaktsort.
Den Weg pflastern Plakataufrufe des Verbandes von Kleinunternehmen zu 
dieser Demonstration. Die Demonstration ist lang. Als wir am Syntagma 
Platz ankommen, sagt uns eine Frau, dass bereits seit zwanzig Minuten 
der Demonstrationszug an ihr vorbeizieht. An uns zieht eine 
Organisation von KulturarbeiterInnen entlang, die symbolisch einen 
Sarg mit der Aufschrift "Kultur" mit sich tragen. Darauf folgt die 
Gewerkschaft der FremdsprachenlehrerInnen, danach die aelteste 
Basisgewerkschaft Griechenlands: die Buch- und VerlagsarbeiterInnen. 
Singend und mit grossen Transparenten gehen dann die Bankangestellten 
vorbei. Sie haben sich eigenstaendig organisiert, als eine von den 
beiden staatlichen Banken dieses Jahr privatisiert wurde und ihre 
Gewerkschaft ihren Streik nicht unterstuetzen wollte. Wir beobachten 
eine starke Praesenz von antifaschistischen und antirassistischen 
Initiativen, die sich explizit gegen die zunehmende Praesenz von 
faschistischen und neonazistischen Organisationen in der griechischen 
Gesellschaft wenden. Mit schwarzer Fahne, gemeinsamen Parolen und 
lauten Pfeifen wird im Block der in weiss gekleideten ArbeiterInnen 
aus dem Gesundheitsbereich am meisten Stimmung gemacht. Sie rufen: 
"Sie ruinieren alles, was wir in einem Jahrhundert aufgebaut haben. 
Kommt runter auf die Strasse!". Viele Erwerbslose und prekaer 
Beschaeftigte laufen in der Demonstration und oftmals ist zu hoeren: 
"Einen Job suchen zu muessen, das ist Terrorismus!". Wir laufen vom 
unteren Teil des Syntagma Platzes, vorbei an den von bewaffneten 
Polizisten bewachten Nobelhotels, nach oben zum
Parlamentsgebaeude. Von dort haben wir einen guten Blick und 
beobachten den Demonstrationszug, der sich um den grossen Platz 
schlaengelt.
"Jetzt gehts los"
Ein scheinbar endloser Strom von DemonstrantInnen zieht an uns vorbei. 
Manche tun es uns gleich, bleiben einen Moment und setzen sich in den 
Schatten der Baeume. In einigen Bloecken tragen die meisten Helme und 
Gasmasken mit sich. Wir unterhalten uns entspannt mit einem Freund, 
als er ploetzlich unterbricht und ruft: "Achtung! Jetzt geht es los."
Leute rennen an uns vorbei. Wir springen auf, hoeren einen lauten 
Knall und etwas explodiert. Wir ziehen uns zurueck und bekommen 
Atemschutzmasken in die Hand gedrueckt. Schon kommt der 
Traenengasnebel. Augen und Atemwege fangen an zu brennen. Die meisten 
DemonstrantInnen schuetzen sich ebenfalls mit Schals oder Schutzmasken 
und laufen die Route weiter. Einige stellen sich der Polizei 
gegenueber, draengen sie mit Steinen und Brandsaetzen zurueck. Das 
Werbungszelt fuer eine Luftschau in der Mitte des Platzes geht in 
Flammen auf. Immer wieder hoeren wir hinter uns Detonationen. Diese 
Bilder werden in wenigen Minuten um die Welt gehen.
Wir nehmen den Weg der Demontrationsroute wieder auf. Das Traenengas 
ist ueberall. An einer Strassenecke werden Steinplatten zerschlagen. 
Wir gehen durch eine Seitenstrasse und treffen auf das Ende der 
Demonstration, das immer noch nicht den Syntagma Platz erreicht hat. 
Es ist der Block des Syriza-Buendnisses. Wieder erreichen wir den 
Syntagma Platz, der mittlerweile von Polizisten mit Gasmasken 
abgesperrt ist. Der Demonstrationsblock muss einen Bogen laufen, kommt 
aber schliesslich am Parlamentsgebaeude vorbei. Die Demo laeuft 
weiter, aber wir ziehen uns erschoepft zurueck. Bis in den Abend kommt 
es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.
Jeden Monat gekuendigt
Wir treffen uns mit ein paar AktivistInnen, die uns ihre 
Einschaetzungen der Situation schildern. Hier wird deutlich, was die 
Massnahmen bedeuten und wie die Krise erlebt wird. Eine Aktivistin 
erzaehlt: "Das Unternehmen, bei dem ich arbeite, ist pleite. Mein Chef 
schuldet mir mehrere Monatsgehaelter und ist der Sozialversicherung 
70.000 Euro schuldig. Meine gerade einmal 300 Euro Lohn erhalte ich 
nur, wenn ich androhe, zu kuendigen." Sie haette sich mehr Dynamik und 
staerkeren Widerstand in der Demonstration gewuenscht. So wie am 
Vortag in Madrid, als einige Tausend versuchten, das 
Parlamentsgebaeude zu blockieren. Es sei merkbar, dass viele Menschen 
seit zwei Jahren massenhaft auf die Strassen gehen und erschoepft 
sind. Langsam verlieren sie den Geduld. Die Lebenssituation der 
meisten ist noch schlimmer geworden.
"Ich arbeite im IT-Bereich, taeglich zehn Stunden. Die Firma, bei der 
ich angestellt bin, kuendigt mir an jedem Monatsende. Jedes Mal ist 
unsicher, ob ich am naechsten Tag wieder angestellt werde", berichtet 
ein anderer Aktivist. Er sieht den heutigen Streik positiver. Es kann 
der Anfang einer neuen Reihe von Protesten gewesen sein. In ganz 
Griechenland waren hunderttausende Menschen auf den Strassen, ganze 
Kleinstaedte wurden lahmgelegt. Das hat die ganze Welt gesehen. Ein 
Slogan auf der Demonstration drueckt den gemeinsamen Wunsch der 
AktivistInnen aus: "Athen, Madrid, Lissabon - ganz Europa, kaempf auf 
der Strasse!"
(Hanno Bruchmann und Kelly Mulvaney/via Interventionistische 
Linke/leicht gek.)
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