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 akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 25. September 2012; 22:42
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Verkehr/Debatten:
> Marxismus und Autofahren
Schon seit Jahrzehnten kritisieren zahlreiche Raum- und 
VerkehrsplanerInnen immer wieder, teils mit drastischen Worten und 
Vergleichen, die Mechanismen der gegenwaertigen Autokultur. Die Kritik 
am Auto ist evident: Jedes Jahr werden in der EU 40.000 und weltweit 
eine Million Menschen Opfer des Autoverkehrs. Das Automobil ist damit 
das gefaehrlichste Verkehrsmittel ueberhaupt. Nicht mit eingerechnet 
sind hier die gesundheitsschaedigenden Langzeitfolgen und auch ueber 
die massive Umweltbelastung durch den Individualverkehr (Stichwort 
Klimawandel) gibt es keine Zweifel. Dazu kommt der enorme 
Flaechenverbrauch des motorisierten Individualverkehrs.
Durch die Dominanz des Automobils im Strassenverkehr werden andere 
VerkehrsteilnehmerInnen - FussgaengerInnen und RadfahrerInnen - im 
wahrsten Sinn des Wortes an den Rand gedraengt, oft auf handtuchbreite 
Streifen. Waehrend fuer Autos die Ampeln haeufig so geschalten werden, 
dass "gruene Wellen" entstehen, muessen Zebrastreifen nicht selten im 
Laufschritt ueberquert werden, bevor die Ampel wieder auf "rot" 
schaltet.
KritikerInnen des Autoverkehrs setzen unserer Ansicht nach allerdings 
sehr oft an der falschen Stelle an - naemlich beim Individuum bzw. der 
individuellen Verantwortung. Mit einer Mischung aus Ueberheblichkeit 
und Abscheu werden AutofahrerInnen betrachtet, die sich, den 
KritikerInnen zufolge, zu faul, zu egoistisch oder zu wenig 
umweltbewusst verhielten. Ausgeblendet wird hier, dass individuelle 
Entscheidungskompetenz im Kapitalismus immer nur beschraenkt gegeben 
ist.
Bei Wohnen oder Mobilitaet ist der Lebensstil oft nicht voellig frei 
gewaehlt, sondern durch unterschiedliche materielle Moeglichkeiten und 
Zwaenge vorgegeben. Schliesslich muessen wir uns schon die Frage 
stellen: Wenn Autofahren derart schaedlich ist, und wir die Masse der 
Bevoelkerung nicht fuer zu dumm halten, um die Kritik am Automobil zu 
verstehen, warum ist Autofahren dann immer noch derart beliebt und 
verbreitet?
Anfangs ein absolutes Luxusobjekt, wurde das Automobil in den USA ab 
den 1930er Jahren und in Westeuropa ab den 1950er Jahren schrittweise 
zum Konsumgut der Massen. Vor allem ab den 1970ern setzte in Europa 
eine wahre Massenmotorisierung ein.
Unzweifelhaft war die Automobilbranche eine der zentralen 
kapitalistischen Schluesselindustrien der letzten Jahrzehnte. 
Gemeinsam mit dem Einfamilienhaus und der Kleinfamilie wurde das Auto 
zu einer der Saeulen der kulturellen Ordnung des 
Nachkriegskapitalismus stilisiert. Assoziationen mit dem Auto gingen 
und gehen bis heute weit ueber seine praktische Bedeutung als 
Fortbewegungsmittel hinaus. Das Auto steht fuer Freiheit, 
Individualitaet oder die Beherrschung von Technik. Alles Dinge, die 
die meisten Lohnabhaengige im Kapitalismus nur sehr eingeschraenkt 
vorfinden. Ebenso dient es als Statussymbol - in einer Welt die sich 
auf dem Privateigentum gruendet, nicht weiter verwunderlich.
Freiheit auf vier Raedern?
Ungeachtet der vielen Barrieren (Staus, Kosten etc.) entsteht das 
Gefuehl, voellige Kontrolle ueber ein Geraet zu haben, welches seiner 
Besitzerin Mobilitaet zu jeder Zeit ermoeglicht. Viele Lohnabhaengige 
erleben in der Benutzung des Autos einen diametralen Unterschied zu 
ihrer Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess, wo sie in der 
Regel weder Zeit, Ort noch Taetigkeit frei bestimmen koennen. Waehrend 
hier die Maschine den Menschen kontrolliert, kontrolliert beim 
Autofahren der Mensch die Maschine. Das erklaert auch, warum es viele 
Menschen so geniessen, nach der Arbeit ins eigene Auto zu steigen - 
obwohl der Weg mit den oeffentlichen Verkehrsmitteln vielleicht sogar 
schneller waere.
Nur unter Betrachtung dieser Faktoren laesst sich die starke 
Emotionalitaet erklaeren, mit der Debatten zur Regulierung des 
Autoverkehrs haeufig gefuehrt werden. Als Beispiel mag die Debatte um 
die Parkraumbewirtschaftung in Wien dienen. Viele AutofahrerInnen 
reagieren nicht unbedingt nur deswegen so gereizt, weil mit dem 
sogenannten "Parkpickerl" zusaetzliche Kosten auf sie zukommen moegen, 
sondern weil sie das Gefuehl beschleicht, dass ihnen von oben herab 
ein bestimmter Lebensstil aufgezwungen werden soll.
Wer faehrt welche Autos?
Das Auto ist heute ein zentrales Element grosser Teile der 
proletarischen Alltagskultur in Westeuropa. Beliebte Vorurteile sind 
hier allerdings nicht angebracht. Das bildungsbuergerliche Klischee 
von den ruecksichtslosen "Proleten" mit ihren motorisierten 
Statussymbolen ist eine Vorstellung ohne breite materielle Grundlage. 
Schliesslich fahren die meisten ArbeiterInnen eher kleine, billige 
Autos.
Jenes Segment der maennlichen ArbeiterInnenjugend, welches sich 
Mercedes oder Audi als Statussymbole zumeist auf Pump bzw. als 
Leasing-Gefaehrt kauft, ist keineswegs repraesentativ fuer die 
ArbeiterInnenklasse. Oft sind das auch migrantische Schichten, wo das 
teure Auto dann auch als Symbol dafuer herhalten muss, dass die 
jeweilige Person den Aufstieg geschafft haette - die Kreditkosten und 
das Minus auf der Bank werden da schnell ausgeblendet.
Insgesamt aber sind es selbstverstaendlich die Viertel der Reichen, wo 
es die meisten teuren Autos gibt. In den buergerlich gepraegten 
Bezirken Berlin-Charlottenburg oder Wien-Josefstadt draengen sich dann 
die SUV aneinander - und wir fragen uns, ob hier mitten in der Stadt 
die Vierrad-Antriebe wirklich so unumgaenglich sind wie es scheint.
Autos sind fuer alle anderen sichtbare Symbole von Status und 
Wohlstand. In Firmen etwa ist ganz genau geregelt, wer auf welcher 
Ebene der Hierarchie welchen Dienstwagen bekommt. Und so ist bereits 
beim Einparken am Firmenparkplatz klar, wer es wieweit geschafft hat 
in der Firma.
Stadtentwicklung und Autoverkehr
Kommen wir nun aber zu der rein praktischen Bedeutung des Autofahrens. 
GegnerInnen des Autoverkehrs argumentieren haeufig, dass dieser in 
vielen Faellen nur mit Bequemlichkeit zu tun haette, schliesslich sei 
die Zeitersparnis oft nur minimal oder gar nicht gegeben. Nun, 
Bequemlichkeit ist in diesem Zusammenhang ein Wort mit negativem 
Beigeschmack. Ist es einer lohnabhaengigen Kollegin, die vielleicht 9 
oder 10 Stunden schwere Arbeit verrichtet, wirklich zu verdenken, wenn 
sie das Auto nimmt und sich damit hin und retour insgesamt eine Stunde 
Freizeit mehr ermoeglicht?
Die gesellschaftliche Dimension des Problems wird hier wiederum 
offensichtlich: der Zwang und/oder Wunsch moeglichst schnell von A 
nach B zu kommen (ein haeufiger Grund fuer die Verwendung eines Autos) 
hat mit der wenigen frei verfuegbaren Zeit der lohnabhaengigen 
Bevoelkerung zu tun. Eine Verkuerzung der Arbeitszeit, Arbeitsplaetze 
in der Naehe der Wohnumgebung und eine Ausdehnung des Urlaubsanspruchs 
etwa koennten hier zu einer massiven Entspannung fuehren. Autofahren - 
und Mobilitaet an sich - ist Teil unseres kollektiven Lebensstils; und 
der ist massiv von kapitalistischer Lohnarbeit und ihrer Hektik 
gepraegt.
Zersiedelung hat ihre Gruende
Viele koennen ihren Arbeitsplatz mit oeffentlichen Verkehrsmitteln 
auch nur schlecht oder gar nicht erreichen. Ja, aber niemand muesse am 
Land wohnen, antworten dann manche Auto-KritikerInnen. Dem waere 
entgegenzuhalten, dass nicht alle PendlerInnen in einer Villa mit Pool 
und protziger Garage im "Speckguertel" der Grossstaedte wohnen. Viele, 
vor allem Familien mit mehreren Kindern, ziehen auch an den Stadtrand 
oder in Kleinstaedte, weil sie sich angesichts steigender Mieten und 
Gentrifizierung das Leben in der Grossstadt nicht mehr leisten 
koennen.
Und so geht die Zersiedelung munter weiter. Diese aber ist oekologisch 
sehr problematisch - zwangslaeufig muessen die meisten Wege mit dem 
Auto zurueckgelegt werden, immer mehr Boeden werden versiegelt und und 
die Zersiedelung bedeutet auch extrem hohe Infrastruktur- und 
Erschliessungskosten, die real meist von der oeffentlichen Hand 
getragen werden.
Doch Arbeitsplatzangebot, der Immobilienmarkt, die Ausduennung der 
Nahversorgung durch Einkaufszentren oder die kapitalistische 
Raumplanung an sich - all das sind Bereiche, wo sich die freie 
Entscheidung des Individuums in engen Grenzen haelt.
Ein Beispiel: Eine Familie will, dass ihre Kinder ohne Abgase und 
Strassenlaerm, "im Gruenen", wie es so schoen heisst, aufwachsen 
koennen und zieht deshalb aufs Land. Da die Eltern aber wieder mit dem 
Auto in die Stadt zur Arbeit pendeln muessen, verschlimmern sie 
dadurch nur jene Probleme, wegen denen sie weg gezogen sind - fuer 
alle anderen, die es sich vielleicht nicht leisten koennen.
Lenkungseffekte und ihr Klassencharakter
Massnahmen, die auf den Geldbeutel der Einzelnen abzielen, lehnen wir 
MarxistInnen unter den gegenwaertigen Bedingungen ab. Dazu gehoert 
beispielsweise auch die Ausweitung des "Parkpickerls" in Wien. Wie 
alle anderen Massensteuern auch, haette diese Massnahme einen 
Lenkungseffekt, der vor allem Schichten mit niedrigeren Einkommen 
trifft. Waehrend sich besser verdienende Schichten 
Parkraumbewirtschaftungsmassnahmen locker leisten koennen, trifft es 
jene besonders hart, die sich das Auto jetzt schon kaum leisten 
koennen, aber es moeglicherweise aus verschiedenen Gruenden brauchen. 
Oder auch nicht. Doch auch dann sollten alle die gleiche Moeglichkeit 
haben, Auto zu fahren - oder im Stau zu stehen oder darauf verzichten 
zu muessen.
Gleichzeitig muessen wir aber feststellen, dass sich Teile der 
ArbeiterInnenklasse heute gar kein Auto (mehr) leisten koennen. In 
Deutschland besitzen 18 Prozent der Haushalte kein Auto, aber nur vier 
Prozent geben an, sie haetten keines, obwohl sie sich eines leisten 
koennten.
Und so bedeutet die nahezu kostenlose Bereitstellung von oeffentlicher 
Flaeche fuer Privateigentum immer auch eine Subventionierung 
"wohlhabenderer" Schichten (auch des Proletariats) auf Kosten 
einkommensschwaecherer oder umweltbewussterer Schichten, die das Auto 
nicht benuetzen wollen oder koennen und auf den oeffentlichen Verkehr 
oder auf Fusswege angewiesen sind.
Fuer einen anderen Verkehr in einer anderen Gesellschaft!
Soll der Autoverkehr also wirklich eingeschraenkt werden - was absolut 
zu befuerworten waere - muesste es zumindest alle gleichermassen 
betreffen. Zum Beispiel durch die Einschraenkung von Parkraum zu 
Gunsten von Gruenflaechen, durch die Ausweitung von eigenen Bus- und 
Strassenbahnspuren sowie Radwegen auf Kosten von Autospuren. Oder 
durch die Aufhebung von Gesetzen, die die Schaffung von neuem Wohnraum 
automatisch an neuen Parkraum koppeln. Eine Lenkung also nicht ueber 
den Preis (wie sie im Uebrigen auch vielen Gruenen vorschwebt, die 
sich hoehere Benzinpreise herbeisehnen) sondern ueber das Angebot. 
Gleichzeitig muesste aber der oeffentliche Verkehr massiv ausgebaut 
und als erste Massnahme im Nahverkehr auf Nulltarif umgestellt werden. 
Finanziert werden koennten solche Massnahme ueber die Besteuerung von 
Vermoegen und hoeheren Einkommen. Im Bereich des Verkehrs waeren zum 
Beispiel speziell auch hohe Abgaben auf teure Autos oder stark 
einkommensgestaffelte Parkgebuehren denkbar.
Die Macht der Auto- und Oelmultis brechen
Der marxistische Autokritiker Winfried Wolf rechnet vor, dass die mit 
Abstand maechtigste Branche des globalen Kapitalismus der Block aus 
Oelfoerderung und Autoproduktion ist. Sieben der zehn weltweit 
umsatzstaerksten Konzerne sind Oelgesellschaften. Und jene Konzerne, 
die bei Oelfoerderung, Oelverarbeitung, Autoherstellung, 
Flugzeugbau/Airlines und bei der Erzeugung und Verteilung der fossilen 
Energien entscheidend sind, machen ca. 30% des Umsatzes der 500 
groessten Konzerne der Welt. Dieser Block steht hinter der Autokultur 
und foerdert bzw. verhindert Entwicklungen im Massenverkehr 
entscheidend.
Hier muessten etwa konsequent jegliche staatliche Subventionen oder 
Steuergeschenke eingestellt werden; noch dazu bei einer Branche die 
ueber massive Ueberkapazitaeten verfuegt. Diese Ressourcen 
(Arbeitskraefte, Fabriken, Maschinen, Know-how) koennten etwa zur 
Produktion von umweltschonenden Technologien verwendet werden.
Daneben und damit verbunden existiert eine ganze Kulturindustrie, die 
die Vorstellung vom Auto als Freiheitssymbol immer wieder aufs Neue 
propagiert. Denken wir nur an Fernsehwerbungen fuer Autos, die in der 
Regel ein einziges Auto zeigen, welches von atemberaubender Landschaft 
umgeben sanft und anmutig auf einer komplett leeren Landstrasse 
dahingleitet.
Einen Wandel der Autokultur wird es nicht durch obergescheite 
Aufklaerungsversuche gut situierter InnenstadtbewohnerInnen geben 
koennen. Ein solcher Wandel wird einhergehen muessen mit einem 
kollektiven Kampf gegen die Macht dieser Konzerne und den Kapitalismus 
an sich. Gleichzeitig schadet es sicher nicht, oefters mal das Fahrrad 
zu nehmen...
(Stefan Horvath, RSO Wien / stark gek.)
Volltext: http://www.sozialismus.net//content/view/1819/1/
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