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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 4. September 2012; 23:37
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Kommentar/Geschichte:

> Erinnerung an die Moskauer Prozesse

Am 17. August dieses Jahres (2012) wurden drei junge Frauen zu zwei
Jahren Gefaengnis verurteilt, die in der (einst unter Stalin
gesprengten und nach dem Kollaps der Sowjetunion flugs wieder
aufgebauten) Moskauer Erloeser-Kathedrale ein einminuetiges Happening
veranstaltet hatten, bei dem sie die Muttergottes um Erloesung vom
neuen Zaren Putin, dem amtierenden Ministerpraesidenten, baten.
Besonders wurde ihnen angekreidet, dass sie - auch noch in dem Kaefig,
in dem sie dem Gericht praesentiert wurden - die Kumpanei von
Staatsmacht und Kirche anprangerten. Patriarch Kyrill hat juengst erst
das autoritaere Regime Putins als ein "Wunder" (Gottes) gepriesen,
und, wie dann auch die Richterin Syrowa im Prozess gegen "Pussy Riot",
behauptet, durch deren "blasphemische" Aktion seien die religioesen
Gefuehle zahlloser Glaeubiger verletzt worden. Wie viele andere hat
sich die Lyrikerin Sarah Kirsch mit den drei oppositionellen Frauen
solidarisch erklaert. Sie schreibt: "Ein solcher Schauprozess ist die
Fortsetzung der Sowjetunion mit anderen Mitteln."

Die Erinnerung an besonders beeindruckende Ereignisse wird oft an
Orts- und Personennamen festgemacht. Diese Namen fungieren dann als
ein Kern, an den die historische Erfahrung sich anlagert. So wird der
Name zu einem Begriff, der durch kontroverse Deutungen
ausdifferenziert und mit spaeteren, aehnlichen Erfahrungen
angereichert wird. Politisch-soziologische Begriffe sind
Erfahrungskondensate. Den Kern des Begriffs "Schauprozess" bilden die
drei beruechtigten Autodafés, die auf Geheiss Stalins in den Jahren
1936-38, zwei Jahrzehnte nach der Oktoberrevolution, die
bolschewistische Parteifuehrung der Aera Lenin zum Tode verurteilten.
Auch die nach dem Muster dieser Prozesse Ende der vierziger und Anfang
der fuenfziger Jahre in den osteuropaeischen Satellitenstaaten
durchgefuehrten Verfahren gegen KP-Fuehrer, die der
"nationalistischen", "titoistischen" oder "zionistischen" Abweichung,
der "Verschwoerung" und des "Verrats" beschuldigt wurden, und der noch
unter Stalins Aegide im Januar 1953 eingeleitete "Aerzte-Prozess" (der
nach dem Ableben des Despoten nicht mehr realisiert wurde) haben zu
unserem Verstaendnis dessen, was ein "Schauprozess" ist, beigetragen.
Es handelt sich dabei um ein Scheinverfahren, bei dem es fuer die
Anklaeger und ihre Auftraggeber darauf ankommt, gestaendige
Angeklagte, die sich der ihnen zur Last gelegten phantastischen
Verbrechen (oder doch wenigstens der zu "Verbrechen" aufgebauschten
Vergehen) selbst beschuldigen, einer grossen Oeffentlichkeit
vorzufuehren, sie auf diese Weise gruendlich zu diskreditieren und
sodann hinrichten (oder in Lagern verschwinden) zu lassen, um
moegliche Gesinnungsgenossen und Sympathisanten abzuschrecken. Die
"Gestaendnisse" werden in der Regel vor dem oeffentlichen (oder auch
vor dem geheimen) Verfahren durch Folter und durch Todes-Drohungen
gegen Familienangehoerige der Angeklagten erpresst. Bei diesen
Pseudo-Prozessen stehen die Urteile und Strafen von vornherein fest,
die Angeklagten haben keine Verteidiger oder diese haben keine Chance.

Verwenden wir politisch-soziologische Begriffe, bei denen es sich um
Kondensate bestimmter historischer Erfahrungen handelt, als blosse
Namen, ohne die in ihnen aufgespeicherte Geschichte mitzudenken oder
explizit zu machen, dann taugen sie nicht als Modelle, die es uns
ermoeglichen, aktuelle Ereignisse mit Hilfe von historischen
Vergleichen besser zu verstehen.

Da die kollektive - wie die individuelle - Praxis unserem Verstaendnis
haeufig vorauseilt, braucht es stets einige Zeit, bis wir bestimmte,
einschneidende Ereignisse - Wendepunkte der historischen (oder der
biographischen) Entwicklung - als solche erkennen. Sie sind uns, wie
Hegel schrieb, zwar irgendwie "bekannt", damit aber nicht auch schon
"erkannt". Das gilt in besonderem Masse fuer das von Stalin und seinen
Helfershelfern 1936-38 im "Oktobersaal" des Moskauer
Gewerkschaftshauses in drei Akten inszenierte Theater der Grausamkeit,
bei dem ein halbes Hundert als "Volksfeinde" bezeichnete
Todeskandidaten - alte bolschewistische Revolutionaere, ein
abgehalfterter Chef der Geheimpolizei und ein paar falsche Zeugen -
auftraten, die sich, im "Dialog" mit Stalins Staatsanwalt Wyschinski,
der Vorbereitung verbrecherischer Aktionen gegen die Stalin-Fuehrung
und die Sowjetunion bezichtigten. Sie behaupteten, sie haetten auf
Geheiss des exilierten Trotzki und im Einvernehmen mit den
Geheimdiensten Hitlerdeutschlands, Japans und der USA Attentate auf
Stalin und seine Paladine geplant, die Industrialisierung des Landes
sabotiert und dessen Aufteilung unter die imperialistischen Maechte
vorbereitet. Im August 1936 wurde gegen 16 Angeklagte - darunter
Sinowjew und Kamenjew - verhandelt, im Januar 1937 gegen weitere 13,
von denen die bekanntesten Pjatakow und Radek waren, und im Maerz 1938
dann noch einmal gegen 21 "Verschwoerer" und "Terroristen", unter
denen sich Bucharin, der Kopf der vormaligen kommunistischen "Rechten
Opposition", sowie Rakowski, der Anfuehrer der frueheren russischen
"Linken Opposition", befanden. Eine Reihe von Mitangeklagten erschien
niemals vor Gericht, weil sie sich bis zuletzt weigerten, die ihnen
zugedachte Rolle zu spielen und daraufhin umgebracht wurden.

Fuer die meisten Zeitgenossen, die die Ereignisse in Russland mit
Interesse verfolgten, blieben sowohl die vermeintliche Verwandlung der
ehemaligen bolschewistischen Revolutionaere in terroristische
Attentaeter im Dienst der imperialistischen Maechte als auch die
Prozess-Berichte aus dem Moskauer Gewerkschaftshaus ein unheimliches,
undurchdringliches Raetsel. An dessen Loesung machten sich sogleich
die beiden eigentlichen Hauptangeklagten, gegen die in Abwesenheit
verhandelt wurde: Trotzki und sein Sohn Leo Sedow[1], die sich noch
einige Zeit dem Zugriff von Stalins Killertrupps entziehen konnten.
Sie erhielten Unterstuetzung nicht nur von Linkssozialisten, sondern
auch von dem prominenten amerikanischen Philosophen John Dewey, der
sich im April 1937 bereitfand, einen "Gegenprozess" zu leiten, in dem
Trotzki Gelegenheit hatte, die Moskauer Anschuldigungen Punkt fuer
Punkt zu widerlegen.[2]

Nicht wenige antifaschistische Intellektuelle (genannt seien Lion
Feuchtwanger, Heinrich Mann und Ernst Bloch) waren im Vorfeld des
zweiten Weltkriegs ueberzeugt, man muesse blindlings fuer das
Stalin-Regime optieren, wenn man Hitlers Vorherrschaft in Europa
bekaempfen wolle. Sie machten sich und andere glauben, bei den
schaurigen Luegenprozessen sei alles mit rechten Dingen zugegangen.
Fuer treue Parteikommunisten war dieser Glaube bis 1988 verbindlich,
als kurz vor dem Ende der KPdSU und der Sowjetunion die in den drei
Schauprozessen gefaellten Urteile aufgehoben wurden.

Um die geschichtliche Bedeutung der Schauprozesse zu verstehen, muss
man sich deren Kontext vergegenwaertigen. Sie dienten nicht nur zur
"Rechtfertigung" des Massenterrors, dem in den Jahren 1936-1938
mehrere Millionen Menschen in den Lagern und vor
Erschiessungskommandos zum Opfer fielen, sondern auch zur Ablenkung
von dieser grausigen "Saeuberung", die in Gang gebracht wurde, um auf
lange Sicht (und vor allem fuer den Kriegsfall) jede erdenkliche
Opposition auszuschalten und einzuschuechtern.[3] Isaac Deutscher hat
darum den "Grossen Terror"[4] als einen "politischen Genozid"[5]
charakterisiert. Stalins gewalttraechtige nationale Utopie, der Aufbau
des "Sozialismus" in einem einzelnen Lande, also der Versuch, mit
Hilfe der Zwangskollektivierung und einer beschleunigten, nachholenden
Industrialisierung die Arbeitsproduktivitaet der hoechst entwickelten
kapitalistischen Gesellschaften und deren Lebensstandard "einzuholen"
und zu "ueberholen", war gescheitert, und nun liess er Massen von
"Volksfeinden" deportieren und erschiessen, denen er die Schuld an der
fortdauernden Misere zuschob, und fuehrte (im Lagersystem des
"Archipels GULAG") in grossem Stil die Sklavenarbeit wieder ein. Es
gab damals nicht nur die drei oeffentlichen Prozesse gegen die
Anfuehrer der politischen "Volksfeinde", sondern zwei weitere. Im Juni
1937 wurde nach einem Geheimverfahren die Fuehrung der Roten Armee
(Tuchatschewski und andere) "liquidiert", und bis Ende 1938 wurden
34.000 Offiziere als unzuverlaessig entlassen. Weitere
Saeuberungswellen trafen 1937 die Kommunistische Internationale und
die Geheimpolizei. Schliesslich sollte - wie sich vor allem aus den
Vernehmungsakten von Isaak Babel rekonstruieren laesst - ein weiterer
Schauprozess gegen die Intelligenzija angestrengt werden, gegen
prominente Kuenstler und Journalisten, die der Verschwoerung und des
"Kosmopolitismus" beschuldigt wurden. Angeklagt werden sollten u. a.
Ossip Brik, Ilja Ehrenburg, Sergej Eisenstein, Juri Olescha, Boris
Pasternak und Dmitri Schostakowitsch... Im Zuge der Vorbereitung dieses
Prozesses, der schliesslich nicht zustande kam, wurden 1938 Boris
Pilnjak und 1940 Babel, Wsewolod Meyerhold und Michail Kolzow
(zusammen mit dem gestuerzten GPU-Chef Jeschow) erschossen. Die 1937
eingeleitete Massenverfolgung der sowjetischen Schriftsteller kostete
mehr als tausend Opfer.

1937 opferte Stalin die durch das Fraktionsverbot, die ideologische
Umruestung und Zehntausende von Ausschluessen und Deportationen
gezaehmte bolschewistische Partei seinem nationalkommunistischen
Projekt. Skrupellos liess er die "alte Garde" und ihre Anhaenger, die
letzten Repraesentanten der
arbeiterdemokratisch-internationalistischen Tradition, die ohnehin
laengst "kapituliert" hatten, "liquidieren". Eine Woche nach dem
ersten Moskauer Prozess wurden 5.000 Oppositionelle in den Lagern
umgebracht, und im Maerz 1938 wurden in Workuta, wo man politische
Gefangene konzentriert hatte, auf Stalins Befehl hin Hunderte von
Trotzkisten erschossen. Nach dem zweiten Prozess fand (vom 23. 2. bis
zum 5. 3. 1937) eine gespenstische Plenartagung des Zentralkomitees
statt, das nun zum einen als eine Art Inquisitionstribunal gegen die
vormaligen Rechtsoppositionellen Bucharin und Rykow diente, zum
anderen aber dem "Grossen Terror" seinen Segen gab. Zwei Drittel der
Teilnehmer an diesem Plenum wurden in den folgenden Jahren ebenfalls
erschossen.

In der Geschichte der bolschewistischen Partei und der Sowjetunion
gelten die Niederschlagung des Kronstaedter Aufstands (im Maerz 1921),
der Beginn des sowjetischen "Thermidors" nach Lenins Tod (1924) und
der "Krieg gegen die Bauern" (in den fruehen dreissiger Jahren) als
die entscheidenden Zaesuren. Die Mehrzahl der Historiker betont -
trotz dieser Zaesuren - die Kontinuitaet der bolschewistischen Politik
und sieht in Stalin den Gewaltherrscher, der aus dem Ausnahmezustand
der Buergerkriegszeit eine Regel machte, den "Roten Terror" der
Tscheka systematisierte, vom Substitutionismus zum Totalitarismus und
von der Ein-Mann-Diktatur im Betrieb zur Ein-Mann-Diktatur im Staat
ueberging. Dabei wird uebersehen, dass Stalin, bevor er als Mandatar
und Geissel der buerokratischen Kaste, die ueber das Mehrprodukt der
sowjetischen Wirtschaft verfuegte, die Stellung eines modernen
Gottkoenigs einnehmen konnte, die Ueberreste der alten
bolschewistischen Partei (und sogar einen Teil seiner eigenen
Fraktion) mit Stumpf und Stiel ausrottete. Dieses Massaker trennt den
Bolschewismus von 1917 vom Stalinismus der Jahre 1936 bis 1953. Der
"Grosse Terror" war keineswegs die unvermeidliche Konsequenz der
Oktoberrevolution und des Buergerkriegs. Stalins Autarkie-Projekt
liess sich nur gegen die Mehrheit der Bevoelkerung durchsetzen, und
die Beseitigung von vielen Millionen Gegnern dieses Projekts brachte
es der Verwirklichung nicht naeher. Der Bolschewismus von 1917 konnte
sich nach dem Oktoberaufstand und waehrend des Buergerkriegs nur
behaupten, weil er die baeuerliche Mehrheit des Landes hinter sich
hatte und weil die minoritaere Arbeiterschaft bereit war, fuer ihn zu
kaempfen. Wider Willen zu "Jakobinern" geworden, waren die
Bolschewisten noch in der ersten Haelfte der zwanziger Jahre
"Jakobiner mit dem Volk". Stalin aber, der Chefterrorist im Kreml,
wurde zum Henker seines Volkes.
(Helmut Dahmer, linke.cc/gek.)

Quelle:
http://www.linke.cc/index.php?option=com_content&view=article&id=2516:erinnerung-an-die-moskauer-prozesse&catid=33:red


Fussnoten:
[1] Sedow, Leo (1937): Rotbuch ueber den Moskauer Prozess 1936.
Frankfurt 1988.
[2] Dewey, John, et al. (Editor) (1938): The Case of Leon Trotsky.
Report of hearings on the charges made against him in the Moscow
Trials by the Preliminary Commission of Inquiry. Held April 10 to 17,
1937 at Avenida Londres, 127, Coyoacan, Mexico. [Reprint: New York,
Merit Publishers, 1968.] - Dewey, John, et al. (1938): Not Guilty.
Report of the Commission of Inquiry into the charges made against Leon
Trotsky in the Moscow Trials. [Reprint: New York, Monad Press, 1972.]
[3] Um die Dimension des Terrors der Jahre 1937/38 zu
veranschaulichen, schreibt Rayfield, dass damals fast jeder zehnte
maennliche Stadtbewohner spurlos verschwand. Rayfield, Donald (2004):
Stalin und seine Henker. Muenchen S. 354 f.
[4] Conquest, Robert (1970; 1990): Der Grosse Terror. Sowjetunion
1934-1938. Muenchen 1992.
[5] Deutscher, I. (1963): Trotzki. Der verstossene Prophet, 1929-1940.
Stuttgart; Kap. 5, S. 388 f.




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