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  akin-Pressedienst.
  Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 28. August 2012; 22:14
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  Redaktionsdebatte:
  
  > Die hyperventilierende Gesellschaft
  
  Zur wieder einmal entflammten Debatte ueber Sexualstraftaeter
  
  Sexualstraftaeter -- der Anfang dieses Wortes klingt schon 
  verraeterisch: Es faengt mit "Sex" an. Das heisst, jedes Massenmedium 
  kann damit aufmachen -- und es verkauft sich gleich viel besser. Es 
  verkauft sich so gut wie Krieg und Greuel, und dabei geht es eben um 
  die Verkaufszahlen.
  
  Wir reden natuerlich von einer erotischen Konnotation; wir reden 
  davon, dass Sex in jedem Menschen etwas ausloest, etwas ursaechlich 
  Koerperliches. Nur: Dieses Koerperliche trifft auf ein unglaublich 
  unbefriedigte, aber aufgegeilte Gesellschaft, die sich im Leben 
  unbefriedigt fuehlt, in der man zu wenig verdient, zuwenig Luxus 
  erfaehrt, zuwenig Leben hat und in der man nicht unbedingt ausreichend 
  gluecklichen Sex hat.
  
  Es geht, wenn es um Sexualstraftaten geht, um verbotene Gedanken. Das 
  darf man ja nicht einmal denken. Das Problem bei verboteten Gedanken 
  besteht schon darin, dass im Verbot das Interesse liegt und die 
  Verlockung. Also warum reden wir nicht ehrlich? Nein, das tun wir 
  nicht. Warum? Weil man sich daheim unter seiner Bettdecke versteckt, 
  weil das ist anstaendig und die Kinder duerfen ja auch nichts sehen. 
  Also handelt es sich bei Sex um etwas grundsaetzlich Verbotenes. Und 
  das erweckt das Interesse -- an etwas Dunklem, Verborgenen.
  
  All das, was mit unserem Koerper bei unserem Aufwachsen passiert, hat 
  von vornherein was mit "Schmutzigkeit" zu tun. Und die erste Warnung, 
  die wir alle mitkriegen, wenn wir als Kinder aelter werden ist: 
  "Fuerchte dich vorm schwarzen Mann!" Das ist ein altes Kinderspiel und 
  da geht es um den boesen fremden Mann. Nur: Im Grossteil der Faelle 
  ist der "schwarze Mann" der Vater oder der Onkel. Und in den meisten 
  Faellen kriegen ja die anderen Familienmitglieder das mit, dass das so 
  ist: Der "schwarze Mann" sitzt mitten in der Familie. Und der redet 
  sich vielleicht sogar ein, er waere einfach nur der erste Mann im 
  Leben seiner Tochter.
  
  Aber: Diese Verbraemung, zu sagen, naja, beispielsweise ein Moerder, 
  der hat vielleicht ein bisserl gemordet, aber es macht noch nicht das 
  Gefuehl: "Dieser Straftaeter ist ganz besonders verurteilenswert". 
  Beim Sexualstraftaeter ist das jedoch schon der Fall, obwohl er -- 
  auch wenn das jetzt grausig klingt -- sein Opfer ja meistens 
  ueberleben laesst. Warum ist also ein Moerder anstaendiger? Warum ist 
  zum Beispiel in der Gefaengnishierarchie der Sexualstraftaeter unter 
  jeder Wuerde? Eben auch, weil wir so ein krankhaftes Verhaeltnis zu 
  unserem Koerper haben. Man sehe sich den Aufklaerungsunterricht in der 
  Schule an, wo man einen unattraktiven Koerper sieht, bei denen man 
  brav die Genitalbereiche zu benennen lernt -- so sieht bei uns die 
  Aufklaerung, so sieht auch die Gesellschaft aus.
  
  Man muss sich die Frage stellen, warum ein Sexualstraftaeter soviel 
  schaerfer behandelt wird als andere. Ich sag jetzt natuerlich nicht, 
  dass ich es super finde, was der getan hat. Aber es geht mir darum, 
  warum die Gesellschaft derart hyperventiliert, wenn es um das Wort 
  "Sexualstraftat" geht.
  *Rosi Krenn*
  (Erweiterte Audio-Fassung: http://cba.fro.at/62986)
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  > Normalitaet und Tabu
  
  Eine Reaktion auf Obiges
  
  Um Rosis Gedanken noch weiter zu spinnen: Warum "die Gesellschaft 
  derart hyperventiliert", wenn es um eine Sexualstraftat geht, ist 
  tatsaechlich eine interessante Frage. Den Medien zu Folge ist die 
  Ursache einer solchen Straftat ueblicherweise eine sexuelle 
  Perversion. Die Taeter werden stets als "Lustmolche" oder "Monster" 
  dargestellt. Als Menschen eben, oder vielmehr als Wesen -- fast schon 
  Tiere -- die ihre Triebe nicht im Griff haetten. Ganz anders als die 
  funktionierenden Mitglieder der Gesellschaft. Und ganz, ganz anders 
  als deren Aushaengeschilder, die Funktionaere. Funktionaere von 
  Kirche, Partei oder Familie.
  
  Auf die Frage warum der "Sexverbrecher" in der Hierarchie (selbst oder 
  gerade im Haef'n) ganz unten steht, ist hier vielleicht schon die 
  Antwort gefunden. Dem Vergewaltiger wird unterstellt, er haette seinen 
  Trieben nachgegeben -- in einer Gesellschaft in der Triebverzicht die 
  "Trieb"feder zur Produktivitaet darstellt.
  
  Waehrend alle nicht so zu duerfen meinen, wie sie wollen, damit sie 
  sich wenigstens ihr bisschen Leben leisten koennen, lassen diese 
  Triebtaeter ihren Trieben freien Lauf -- so scheint die Mehrheit sich 
  das zumindest zu erklaeren.
  
  Die Hysterie koennte also ein Ausdruck des Neids sein. Nicht der Neid 
  derer, die selber gerne im weissen Lieferwagen auf Schulparkplaetzen 
  Suessigkeiten verteilen wuerden; aber vielleicht Neid derer, die der 
  festen Ueberzeugung sind, so ein Triebtaeter waere irgendwie freier 
  als sie selbst.
  
  Das ist allerdings Schmonzes, denn diese Verbrechen sind, stellen -- 
  wie so viele andere Verbrechen auch -- Uebergriffe dar. Dabei geht es 
  in keinem Fall um Freiheit, sondern es geht um Unterdrueckung. Die 
  "Krankheit" eines psychopathischen Kinderschaenders besteht darin, 
  dass er sich nicht in sein Gegenueber (weder in das "Opfer", noch in 
  einen beliebigen anderen Menschen) hineinversetzen kann. So wie sich 
  ein "krankhafter" Moerder nicht vorstellen kann, dass es fuer 
  irgendjemanden ein Problem sein koennte, wenn er dieses oder jenes 
  Leben ausloescht. Dabei handelt es sich um eine soziale Stoerung, der 
  Taeter merkt noch nichteinmal, dass er einen Uebergriff begeht. Das 
  ist bitter fuer alle Betroffenen, und es ist auch bitter fuer den 
  Taeter.
  
  Aber es geht noch bitterer. In den allermeisten Faellen von 
  sexualisierten Uebergriffen -- wie man das auch nennen koennte -- ist 
  der Taeter, der "schwarze Mann" (wie Rosi ihn unter anderem genannt 
  hat), kein sexbesessenes Monster, sondern er ist einer jener 
  hochoffizieller Funktionaere, die die Gesellschaft repraesentieren
  
  Das Kranke ist: Diese Menschen sind NICHT krank. Das was sie machen 
  funktioniert. Sie selber funktionieren. Sie funktionieren als 
  Jugendarbeiter, als Priester, als Vaeter, als Maenner. Sie 
  funktionieren, weil Einvernehmlichkeit in unserer Gesellschaft nicht 
  besonders viel zaehlt. Und das was sie tun -- all die Uebergriffe, die 
  kleinen und die grossen -- funktioniert auch, und zwar deswegen, weil 
  unsere Gesellschaft die Ausreden schon auswendig kann. Ausreden, die 
  zwar keinen Sinn ergeben, aber Ausreden, die die Fragenden irgendwann 
  muede machen, solange bis sie aufhoeren, weiterzufragen.
  
  Wenn wir aber aufhoeren, weiterzufragen, dann bleiben "sexuelle 
  Uebergriffe" weiterhin gleichzeitig Normalitaet und Tabu, wobei der 
  UeBERGRIFF die Normalitaet ist, und SEX das Tabu.
  *postcore*
  
  
  
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