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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 28. August 2012; 22:36
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Buecher:

> Shoah und Nakba

Gilbert Achcar:
Die Araber und der Holocaust.
Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen.
Edition Nautilus. Hamburg 2012. 364 Seiten. 30,80 Euro


Das Buch besticht durch seine empirische Breite, analytische Tiefe und
die Ausgewogenheit seiner Urteile. Ein echtes Standard-Werk auf diesem
Gebiet.

Das in der Geschichte einmalige Phaenomen des Holocaust -- die
industriell geplante Vernichtung von 6 Millionen Juden und
JuedInnen -- findet in der arabischen Welt eine unterschiedliche
Rezeption. Der Holocaust wird oft nicht nur als solcher beurteilt,
sondern ebenso im Kontext der eigenen -- tragischen -- Geschichte.
Bestimmend fuer die Wahrnehmung sind auch die Errichtung des
"Judenstaats" (Theodor Herzl), also die zionistische koloniale
Besiedlung Palaestinas, und die "Nakba" -- die massenhafte Vertreibung
im Gefolge der israelischen Staatsgruendung.

Gilbert Achcar unterzieht sich der Muehe, das Problem in seiner
Gesamtheit zu behandeln. Er faengt daher richtiger Weise mit der
Genesis der Problematik, also mit dem ausgehenden 19.Jahrhundert an.

Er beleuchtet die unterschiedlichen ideologischen und politischen
Stroemungen in ihrer Haltung zum Antisemitismus: Westlich orientierte
Liberale, Nationalisten, Marxisten bzw. reaktionaere und/oder
fundamentalistische Panislamisten.

Bereits hier wird die Komplexitaet der zur Debatte stehenden Fragen
sichtbar -- von einem oft unterstellten "generellen Antisemitismus der
Araber" kann jedenfalls keine Rede sein. Waehrend sich Liberale,
Nationalisten und Marxisten vom Antisemitismus distanzieren, findet
sich dieser sehr wohl bei reaktionaeren Panislamisten.

In den 30er-Jahren und waehrend des 2.Weltkriegs werden von diesen
Kraeften "taktische Buendnisse" mit den Mittelmaechten ins Auge
gefasst. Es kommt zu offener Verherrlichung des Faschismus und
Kollaboration mit Hitler und Mussolini. Ein besonders krasses Fall ist
der des Mufti von Jerusalem Amin al-Husseini. Nach der Niederschlagung
des Aufstandes in Palaestina geht er nach Berlin (sic!) ins Exil.

Die Nationalisten der 50er Jahre -- insbesonders Nasser -- hatten eine
ablehnende Position gegenueber dem Antisemitismus und verurteilten den
Holocaust. Einmal jedoch berief sich Nasser in einem Interview 1958
positiv auf die beruechtigten "Protokolle der Weisen von Zion" (S.195
ff).

Die Haltung der Palaestinenser machte eine grosse Entwicklung durch.
Von Ahmed Shuqayris entsetzlichen Sagern die "Juden ins Meer zu
werfen" (S.189f) bis hin zu den differenzierten Positionen der FDPLP
(S.217).

Gilbert zeigt auch die Schwierigkeiten vieler palaestinensischer
Ansaetze die Juden national und nicht ueber die Religion zu
definieren.

Besonders unterstreicht der Autor die reaktionaere Rolle der
saudischen, antisemitischen Monarchie, die jedoch breitest mit Israel
und den USA kooperiert (S.269f).

Ein wichtiger Baustein im Verhaeltnis zwischen Palaestinensern/Arabern
und Juden ist zweifelsohne die "wechselseitige Anerkennung der Shoah
und der Nakba"(S.279).

Was die Zukunft dieses Verhaeltnisses betrifft, scheinen mir die
Ausfuehrungen von Achcar zu optimistisch zu sein. So wichtig es ist,
wenn "postzionistische" Intellektuelle wie etwa der Historiker Tom
Segev die offiziellen Mythen -- fundiert -- in Frage stellen und
selbst ehemals fuehrende israelische Politiker -- wie Avraham Burg --
den "schleichenden Rassismus" in der israelischen Gesellschaft
kritisieren (S 274f.) -- eine wirkliche Wende wird es m.E. nach erst
dann geben, wenn Massenbewegungen wie etwa die gegen die
Sozialkuerzungen durch die israelischen Regierungen auch die Frage der
Palaestinenser problematisieren und praktische Brueckenschlaege zu
ihnen unternehmen. Aehnliches gilt vice versa fuer Bewegungen von
unten in Palaestina bzw. im gesamten arabischen Raum.

Nicht unerwaehnt soll die hervorragende Uebersetzung aus dem
Englischen ins Deutsche durch Birgit Althaler und Sophia Deeg sein.
*Hermann Dworczak*


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