**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 27. Juni 2012; 01:24
**********************************************************
Schule/Glosse:
> "Gnade vor Recht"
Im ersten Bildungsweg gewinnt Refompaedagogik zwar immer mehr an 
Bedeutung, die Entwicklung ist aber nach wie vor zaeh.
*
Ich moechte eine Geschichte erzaehlen, die meine eigene Tochter 
betrifft, und damit einen Beleg dafuer darlegen, warum sich der Kampf 
und das Ringen um die Durchsetzung reformpaedagogischer Philosophie, 
Methodik und Praxis sich doch gelohnt hat und lohnt. Meine Tochter hat 
in der konservativen Stadt Salzburg nur Montessori-Paedagogik zur 
Auswahl, die sie seit 10 Jahren geniesst. Die LehrerInnen sind 
engagiert, das ist man ja in dieser Stadt nicht gewohnt, desto 
aufregender ist das Experiment. Brav und schoen und nett und 
buergerlich angepasst fuehlt sich diese Paedagogik an, doch andere 
Auswahlmoeglichkeiten gibt es nicht. Es ist, abgesehen von der 
Steiner-Paedagogik die einzige Alternative zur Regelschule, sieht Mama 
mal vom haeuslichen Unterricht ab, wo dem eigenem Kind aber das Grauen 
kommt. Soviel zu den Auswahlmoeglichkeiten. Von antiautoritaerer 
Paedagogik in Salzburg zu sprechen, kaeme einem Frevel gleich, nachdem 
man sich als vom Teufel besessen sofort einer Laeuterung unterziehen 
muesste. So weit so gut.
Nach zehnjaehriger Schulbildung, die integrativ nach Montessori 
unterrichtet wird, steht meine Tochter vor zwei Nachpruefungen, in 
Englisch und Franzoesisch, nun sind zwei Nachpruefungen erlaubt, aber: 
ihr Deutsch-Lehrer drohte ihr in letzter Sekunde noch ein 
Nichtgenuegend in Deutsch an. So. Dreimal nichtgenuegend ist nicht 
erlaubt, also entweder bekommt sie in Deutsch ein genuegend oder sie 
kann die Schule vergessen. Soweit ist nun der Sachverhalt gediehen. 
Ihre DeutschlehrerInnen erzaehlten ihr von Anfang an und erzaehlen es 
bis heute, dass die Inhalte ihre Artikel sehr gelungen seien, sie sie 
aber durch ihre katastrophale Rechtschreibung ruinieren wuerde, daran 
hat sich seit zehn Jahren nichts veraendert, und gestern hat ihr 
Deutschlehrer kapituliert. Ihre letzte Arbeit war inhaltlich 
einfuehlsam und klug, das musste ihr Lehrer zugeben, die 
Rechtschreibung war eine Katastrophe, ihr Lehrer gab ihr eine positive 
Note mit dem schriftlichen Kommentar: "Gnade vor Recht". In Rot 
geschrieben. Mein Kind vertraut darauf, dass dieser Lehrer sie auch in 
Zukunft in sein Herz geschlossen hat und sie weiter tragen wird.
Trotz allem
Was will ich damit sagen? Auch konservative Reformpaedagogik ist ein 
Beispiel gelungener Paedagogik. ReformpaedagogInnen befinden sich in 
Aufbruchsstimmung, sie sehen die heranwachsenden Kinder und 
jugendlichen Erwachsenen in erster Linie als Menschen, die Freude 
empfinden sollen. Mit Freude geht mein Kind seit seinem ersten 
Schultag in die Schule und daran hat sich bis heute nix geaendert, 
ausser an den Unlusttagen, und dann hat das Kind halt Bauchweh und 
Kopfweh und Schwindel. Na und? Die LehrerInnen wissen, dass sie ob der 
Deckung der Erwachsenen an der Nase herumgefuehrt werden und koennen 
auch nichts anderes sagen als "Na ja". Der Unterschied besteht darin, 
dass LehrerInnen in alternativen Kontexten schon deshalb eine andere 
Herangehensweise haben, weil sie nicht kaputt gemacht worden sind von 
einem Regelschulwesen. Sie bewahren oft genug den Blick auf das Kind. 
Sie wollen noch etwas anderes als frustriert in die Pension gehen, sie 
erfreuen sich am Kind, das Vertrauen zu diesen Erwachsenen erst 
erfahren muss, um die Bereitschaft zum Lernen in diesem Kontext 
annehmen zu wollen. Es geht um die Freude, die beiderseitig vorhanden 
ist, die Kinder und jugendliche Erwachsene mit ihren LehrerInnen 
teilen, um ein lustiges Schuljahr zu erleben. Darum geht es beim 
Erwachsenwerden. Es geht um Freude.
Wenn ein Kind oder jugendliche Erwachsene mit ihren LehrerInnen lachen 
koennen und manchmal auch "Scheisse bauen" duerfen, ist die Schulzeit 
schon gewonnen. Das geht aber nur, wenn die Erwachsenen die Liebe zum 
Kind nicht verloren haben. Die Erwachsenen verlieren die Liebe zum 
Kinde nicht, wie oft behauptet, durch uneinsichtige Eltern, schwierige 
Verhaeltnisse von sonst wo her, zu vielen Kindern, die die deutsche 
Sprache nur mangelhaft beherrschen, sie verlieren ihr oft genug 
euphorisches Engagement durch ein Schulsystem, das sie selbst mit 
Zwaengen belegt, die sie glauben, an die Kinder und jungen Erwachsenen 
weitergeben zu muessen. Das Regelschulwesen ruiniert junge und jung 
gebliebene LehrerInnen durch seine Starrheit und daran, dass an eine 
innere differenzierte Herangehensweise, an einen am Individuum 
ausgerichteten Unterricht kaum zu denken ist, der eigene 
Gestaltungsspielraum enorm eingeschraenkt wird.
Mitverantwortlich sind dafuer jene bis heute an die 50% an LehrerInnen 
bzw. sich in der Ausbildung befindlichen Personen, die (ich kenne die 
Studien, weil ich Paedagogik studiert habe, daher zugegeben subjektiv 
gepraegt bin, weil der Lieblingssport an dieser Studienrichtung es 
ist, LehrerInnen kritisch zu betrachten) freimuetig bekennen, dass sie 
diesen Beruf waehlen oder gewaehlt haben, weil er soviel Ferienzeit in 
sich birgt und besonders bei Frauen eine superpraktische 
Vereinbarkeitsleistung mit den eigenen Kindern ermoeglicht. 
Lehrerinnen, die verstaendnislos den Kopf schuetteln, wenn sie 
berufstaetigen Muettern, denen bloss fuenf Wochen "Urlaub" im Jahr 
zustehen vorwerfen, ihre Kinder zu vernachlaessigen, sind das 
Allerletzte, was Mutter und Kind brauchen.
Dazu kommt der haeufig konservative Ansatz eines Schulsystems, das 
Kinder aus "bildungsfernen Schichten" grundsaetzlich benachteiligt. 
Sollte ein Kind aus einer ArbeiterInnenfamilie den Sprung in eine 
Unterstufe eines Gymnasiums schaffen, wird es mit deutlich geringeren 
Chancen in eine Oberstufe wechseln koennen. Sollte es diesen Sprung 
schaffen, wird es mit deutlich geringerer Wahrscheinlichkeit einen 
Abschluss schaffen, sollte dieser gelingen, wird es mit deutlich 
geringerer Wahrscheinlichkeit eine Universitaet besuchen und mit 
deutlich geringerer Wahrscheinlichkeit einen Abschluss erreichen. Die 
Daten sind so eindeutig, dass von sozialer Diskriminierung gesprochen 
werden muss. Sollten die nunmehr Erwachsenen einen Abschluss erlangen, 
sind ihre Berufs- und Karrierechancen eingeschraenkt. Fuer den 
Lehrberuf entscheiden sie am haeufigsten die Leute aus "besseren 
Haeusern", die es oft genug als ihre Aufgabe ansehen, dass aus einem 
ArbeiterInnenkind eben wieder ein/e ArbeiterIn wird.
Steiniger Weg
Reformpaedagogische Ansaetze arbeiten gegen dieses vorherrschende 
Gedankengut von Lehrpersonen und gegen ein veraltetes, dem Kinde nicht 
gerecht werdendes Bildungssystem. Gerade in Salzburg faellt es 
Studierenden an der paedagogischen Akademie nicht leicht, sich gegen 
eine Masse an Studierenden durchzusetzen, die veraechtlich zu ihnen 
herabschauen, etwa weil sie sich dazu entschlossen haben, 
Sonderpaedagogik zu studieren, um Kinder mit mentaler und mehrfacher 
"Beeintraechtigung" unterrichten zu koennen. Diese StudentInnen 
erfahren Ausgrenzung.
Meist sind es ambitionierte Studierende, die sich fuer einen 
reformpaedagogischen Ausbildungsweg entscheiden, die 
Ausbildungsmoeglichkeiten sind in einem bildungspolitisch konservativ 
gepraegten Land eher duenn angesiedelt, natuerlich wuerde man/frau 
sich wuenschen, dass es ein Modell nach Alexander Neill auch hier 
gaebe, ich halte es fuer keinen Zufall, dass der Staat die Ausrede 
benutzt hatte, die Neill-Paedagogik in Niederoesterreich zu verbieten, 
mit dem voellig verbloedeten Argument, dass es unsittlich waere, 
kleine Kinder miteinander nackt baden gehen zu lassen. (Anm. akin: Das 
war in 1920ern.) Die Erfolgsgeschichte der Neill-Schule von Summerhill 
ist bekannt. Auffaellig ist, dass es bei vielen reformpaedagogischen 
Modellen darum gegangen ist, Kindern aus "armen" Verhaeltnissen 
Bildung zu vermitteln, lange bevor das Thema Chancengleichheit zum 
Politikum wurde, an dem heute zumindest rhetorisch kaum jemand vorbei 
kann, ohne dass es peinlich wird.
Reformpaedagogik bedeutet Zusatzausbildungen, beinhaltet Engagement 
und Freude an dem zu erlernenden Beruf. Als Studentin der 
Erziehungswissenschaften war ich leidenschaftliche Verfechterin 
antiautoritaerer Konzepte, doch meine Erfahrung mit LehrerInnen hat 
mir aufgezeigt, dass es ein bisschen egal ist, welche Richtung tragend 
wird: im Mittelpunkt steht der Mensch, der in solchem Rahmen gesehen 
wird, als wertvoll anerkannt wird, vor allem wertgeschaetzt und 
gemocht und geliebt wird, als werdender und bereits vollendeter Mensch 
in seiner Basis anerkannt wird. Ein engagierter Lehrer hatte sich, 
sich gegen das Schulsystem wehrend einmal formuliert, dass es nicht so 
wichtig waere, was und wie viel irgendeines Stoffes SchuelerInnen 
lernen wuerden, wenn sie nur die Lust auf Buecher nicht verlieren 
wuerden und des Fragens nicht ueberdruessig werden wuerden. Dieser 
oder aehnliche Ansaetze schaffen die Basis gelungener Wissensbildung. 
Sie schaffen die Basis, vor Notenstrenge Gnade walten zu lassen, weil 
die SchuelerInnen in ihrer Gesamtpersoenlichkeit gesehen und gespuert 
werden.
Teufelskreis
Eine Unterrichtsministerin, die bereit ist, Gelder aus dem ihr 
zugeteilten Ressort statt wie vereinbart, fuer barrierefreien Zugang 
zu oeffentlichen Schulen in erhoehte LehrerInnengehaelter umzumuenzen 
und damit in Kauf nimmt, dass Kinder, die nicht gehen koennen, keinen 
Zutritt zu Schulen erhalten, ist der schlechteste Zugang, den man/frau 
sich denken kann, wenn es darum geht, der kuenftigen Generation ein 
Bewusstsein an Verantwortung und Humanitaet zu vermitteln. Daraus 
speist sich wiederum das Denken der naechste LehrerInnengeneration... Es 
geht nicht darum, SchuelerInnen gegen LehrerInnen und Eltern 
auszuspielen. Es wird hier ein Teufelskreislauf benannt, der aufzeigt, 
dass nur jene Chancen haben, denen ausreichend oekonomische 
Moeglichkeiten zur Verfuegung stehen. Dabei handelt es sich haeufig 
genug um Menschen, die eindeutig Interessen daran haben, an der 
Aufrechterhaltung eines grausamen, menschenverachtenden Systems 
mitzuarbeiten, oder die sich ihm mehr oder weniger ausgeliefert 
fuehlen. Ein Beispiel schlechter Schule sei noch genannt: Bis heute 
erfreuen sich ULV-Beauftragte (Beauftrage zur Vermittlung der 
umfassenden Landesverteidigung) ihrer Funktion in diversen Schulen. 
Sie organisieren leidenschaftlich gerne Abenteuertage in Kasernen, 
Kinder und junge Erwachsene duerfen dann einen Tag in einer Kaserne 
verbringen, spielen, klettern und Gulaschsuppe essen, es wird ihnen 
das tolle Spielerlebnis Bundesheer nahegebracht. Neben Kirche und 
Staat spielt im Bildungswesen auch das Bundesheer noch deftig mit; 
eine der ersten zur Armee zugelassenen Soldatinnen habe sich fuer das 
Heer entschieden, weil sie auf ihren Schulausflug so beeindruckt von 
der "Atmosphaere" gewesen sei. Schule sei dank. Reformpaedagogische 
Modelle, die etwa auf Rousseau zurueckgreifen, mit seiner zentralen 
Aussage, "Der Mensch ist von Natur aus gut" koennten zum Weiterdenken 
anregen.
*rosalia krenn*
***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der 
nichtkommerziellen Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd 
muessen aber nicht wortidentisch mit den in der Papierausgabe 
veroeffentlichten sein. Nachdruck von Eigenbeitraegen mit 
Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete Beitraege stehen in der 
Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von Texten mit anderem 
Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine anderweitige 
Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als Abonnement 
verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann den 
akin-pd per formlosen Mail an akin.buero{AT}gmx.at abbestellen.
*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
akin.redaktion{AT}gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976-00, Zweck: akin