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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 29. Mai 2012; 23:32
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> Lateinamerika-Tagebuch
Hermann Dworczak ist ueber den grossen Teich geflogen und schreibt uns 
politische Tagesberichte:
Sonntag, 20. Mai 2012 11:34
Mexico ist die erste Station meiner politischen Tour durch 3 
lateinamerikanische Laender. Schon bei meiner Ankunft werde ich mit 
der schlimmen- oekonomischen und politischen Realitae des Landes 
konfrontiert.
Bei der Fahrt vom Flughafen ins Zentrum macht mich der Verleger 
Fernado Valdes auf die weitverbreite Armut aufmerksam. "Schau, hier 
siehst Du ueberall die kleinen Verkaufsstaende - typisch fuer 
subempleo (Unterbeschaeftigung). Waehrend die offizielle 
Arbeitslosen-Statistik 5 oder 10 Prozent angibt, liegt die 
Beschaeftigungslosigkeit real bei 30 Prozent". Durch Kleinhandel - 
inklusive Musikpiraterie - haelt man/frau sich in der allgemeinen 
tristen wirtschaftlichen Lage ueber Wasser.
Die Praesidenten- und Parlamentswahlen im Juli werfen kraeftige 
Schatten voraus. Allerorts wimmelt es von Plakaten. Auf einem 
verspricht ein Kandidat der PRI, der Partei die nach der 
"abgebrochenen" mexikanischen Revolution das Land 70 Jahre lang im 
fest Griff hatte, "Renten ab 65"(!).
Wahrend PRI und PAN- die zweite grosse buergerliche Partei, die nach 
dem "fraude" (Wahlschwindel) beim letzten Wahlgang mit Felipe 
Caldereon den Praesidenten stellt- ziemliche troubles haben, hoffen 
viele, dass es diesmal der linksliberale/sozialdemokratische Lopez 
Obrador schafft.
So auch Fernando Valdes: " Bei einem Sieg in der Haupstadt wird es 
angesichts der generellen Turbulenzen mit einem erneuten fraude nicht 
so leicht sein ".
Beim Samstags-Spaziergang im Zentrum merkt man/frau unmittelbar: 
Mexico City ist im Vergleich zum sonstigen Land -was die Gewalt 
betrifft- nahezu eine "Insel der Seligen." Waehrend anderorts der 
"narcotrafico"(Drogenhandel) mit seinen Metzeleien zuschlaegt, in 
Suarez im Norden des Landes reihenweise Frauen ermordet werden, 
koennen auf der "plaza de la revolucion" auch Schwule und Lesben sich 
ungehindert zeigen.
Der narcotrafico hat uebrigrens selbst die allerhoechste 
Militaerspitze eingeholt. Vergangene Woche wurden 3 fuehrende 
Generaele wegen "Verwicklungen in den Drogenhandel" verhaftet. Der 
spanischen Zeitung "el pais" waren die Verhaftungen der fuehrenden 
Militaers ein ganzseitiger Bericht wert.
Die weiteren Stationen meiner Reise sind: nach Mexico, wo ich am 
kommenden Wochenende an der Jahrestagung der WAPE (Wolrld Association 
of Political Economists) teilnehme und ueber "Marxismus heute" 
referiere, reise ich nach Cuba - dort gehts u.a. um die aktuellen 
"Wirtschaftsreformen" im Land; dann folgt "Rio plus 20", der 
offizielle und der "Gegengipfel", wo es gemeinsam mit Josef Baum eine 
Veranstaltung zum "Oekosozialismus gibt.
Pancho Villa, Theodor Herzl und Ignatius von Loyola
Montag, 21. Mai 2012
Mein zweiter Tag in Mexico City, am sonntaeglichen "Tag des Herrn", 
verlief ziemlich durchwachsen: Besuch im Revolutionsmuseum, 
Buchpraesentation ueber Theodor Herzl, den oesterreichischen 
Stammvater des Zionismus, und Besichtigung des historischen Zentrums.
Ich wohne gleich neben der Plaza de la Revolucion, in einem sehr 
gemuetlichen Haus der Quaeker. Man/frau verschafft den Reisenden hier 
nicht nur ein preisguenstiges Quartier, sondern ist auch aktiv in den 
Bereichen Emigration, Menschenrechte und solidarische Oekonomie. Da 
mich ein Freund erst um 11h abholt, habe ich Zeit, eine erste Runde im 
Museum fuer die mexikanischen Revolution, das unterhalb des 
Revolutions-Monuments liegt , zu drehen. Das Monument ist doppelt von 
Interesse: architektonisch, weil es sich um eine "Umwandlung" handelt: 
eine historische Vorlage fuer einen anderen Bau um die 
Jahrhundertwende (Stahlkonstruktion á la Eiffelturm) wurde 
umfunktioniert; und zweitens , wegen des Umstands WER dort begraben 
ist: die buergerlichen Fuehrer ebenso wie Pancho Villa!.
Die Ausstellung ist spannend - nicht zuletzt wegen ihrer tollen 
Exponate-, analytisch gibt sie nur begrenzt etwas her. Sehr moderat 
heisst es an ihrem Ende zu der Frage " Hat die Revolution das Land 
veraendert?": Ja- vor allem kulturell"...
Die Buchpraesentation ueber Theodor Herzl in dem durch strengste 
Sicherheitskontrollen abgeschirmten "Israelischen Sportzentrumm" ist 
ein wahrer Hammer. Die PraesentatorInnen schaffen es, in fast 2 
Stunden in keiner Weise den Zionismus auch nur leise zu 
problematisieren- das Wort "PalaestinenserInnen" faellt hoechstens 
ein-, zweimal! Thematisiert wird vor allem der widerspruchsvolle 
Charakter Herzls. Der Autor selbst sieht die Dinge etwas kritischer. 
Weil keine Publikumsdiskussion vorgesehen ist, wende ich mich beim 
Buffet direkt an ihn. Wir fachsimpeln ueber Luegers "funktionalen" 
Antisemitismus ("Wer a Jud is, bestimm ich") , und ob Herzl ein 
zureichendes Verstaendnis des Antisemtismus hatte bzw. ueber die 
tatsaechlichen Resultate des Zionismus. Da die Zeit fehlt, vereinbaren 
wir, unsere Debatte schriftlich fortzusetzen.
Das hervorragende Mittagesen, zu dem mich mein Freund einlaedt, ist 
auch soziologisch von Interesse. Waehrend wir am Vortag abends in 
einem sehr populaeren Lokal gegessen hatten ("La Cita"), wo auch 
"skandaloese Lieder" gesungen wurden, handelt es sich diesnmal um ein 
mittelstaendisches Lokal. Ganze Familien, nicht selten mit etlichen 
Kindern, kommen, schmausen hier und lassen in keiner Weise vermuten, 
was rundherum an sozialen und sonstigen Katastrofen ueber die Buehne 
geht. Nur mit dem politisch versierten Ober gibt es eine kurze 
Diskussion. Auch er meint, dass es "mit Lopez Obrador nur besser gehen 
kann".
Ich lasse den Tag mit einem langen Spaziergang ausklingen. Beim 
Palacio de las Bellas Artes mache ich eine interessante Entdeckung. 
Wahrend er aussen fin de siecle ist - der Bau wurde um 1900 begonnen, 
aber waehrend der Revolution eingestellt - offenbart sich das Innere 
als art deco der Dreissiger Jahre vom Feinsten!
Ich schlendere weiter , mache kurz Rast bei Sanborns, wo auch Zapata 
und Pancho Villa zum Schrecken der "feinen Gesellschaft"diniert hatten 
und lande schlussendlich auf dem Hauptplatz Zocalo. In der monstroesen 
Kathedrale, die der Eroberer Hernan Cortez nicht zuletzt mit den 
Materialien des von ihm geschliffenenen Haupttempels der Azteken 
erbauen liess, registriere ich mit Schrecken , dass auch der 
entsetzliche Ignatius von Loyola, der Gruender des militanten 
Jesuitenordens, unter die "Heiligen" eingereiht wurde...
AMLO und die PRD
Mittwoch, 23. Mai 2012
Mexico steht ganz im Zeichen des Wahlkampfs. Unzaehlige Plakate und 
Transparente praegen das Stadtbild von Mexico City. Der 
Hoffnungstraeger fuer viele ist der linksliberale, sozialdemokratische 
Kandidat fuer die Praesidentschaft Angel Manuel Lopez Obrador oder wie 
er oft genannt wird AMLO.
Fangen wir- zum bessren Verstaendnis der aktuellen Situation mit einem 
kurzen historischen Rueckblick an. Die mexikanische Revolutioin von 
1910 - 1921 blieb auf halbem Weg stecken. Die Einsargung der 
Revolution fand auch einen bezeichnenden sprachlichen Ausdruck: die 
buergerliche Partei, die fortan -und das gleich fuer 7o Jahre - das 
Land dominierte, gab sich den Namen PRI- Partei der 
Institutionalisierten Revolution.
Abgesehen von den bedeutenden Reformen des Praesidenten Lazaro 
Cardenas in den 30er Jahren (begrenzte Agrarreform, Verstaatlichung 
des Erdoels, etc., und nicht zu vergessen: er gewaehrte auch Trotzki 
politisches Asyl) etablierte sich ein autoritaeres und repressives 
System.
Es gibt also eine gewisse historische Parallele mit der Tuerkei und 
dem Kemalismus, weniger bzw. nicht mit der Sowjetunion, weil es sich 
hier um das Verkommen einer sozialistischen Revolution handelt.
Das starre Herrschaftssystem geriet zunehmend die in die Krise und 
fuehrte zu einem Machtwechsel: Die buergerliche, stark katholische und 
neoliberale PAN beerbte die PRI.
Schon vorher hatte ein Differenzierungsprozess in der PRI eingesetzt, 
der schliesslich zur Abspaltung der PRD, der Partei der Demokratischen 
Revolution fuehrte. Die PRD uebernahm viele inhaltliche Positionen der 
PRI und erst recht viele Apparatschiks. Die PRD ist, obwohl sie heute 
etliche sozialdemokratische Positionen vertritt, keine Partei, die aus 
der ArbeiterInnenbewegung kommt, wie etwa die europaeische 
Sozialdemokratie.
AMLO tritt fuer einen ¨wirklichen Wandel¨, un cambio verdador ein. Die 
Programmatik ist jedoch ziemlich verwaschen. Ich bin zum Abendessen 
bei einer Freundin eingeladen. Sie ist an einer Uni Professorin fuer 
Rechtsphilosophie. Schon nach kurzem wird die Unterhaltung politisch 
und sie fuehrt aus: "Natuerlich werde ich AMLO waehlen, damit etwas 
weiter geht. Aber man muss auch sehen, dass er ganz zentrale Fragen 
wie etwa den narcotrafico, den Drogenhandel und den Krieg, der damit 
verbunden ist, nicht thematisiert. Ganz schlecht wird mir , wenn ich 
mir so einige Typen in seiner politischen Umgebung anschaue¨.
Und es sind nicht nur die Apparat-Leute die bedenklich stimmen. 
Angesichts der troubles der PRI bzw. der PAN und deren farblosen 
SpitzenkandidatInnen setzt ein zunehmender Teil der Bourgoisie auf 
AMLO.
Bei einem PRD-Aktivisten, einem Radiologen des oeffentlichen 
Gesundheitssystems, der auf der auf der Strasse fuer AML0 agitiert, 
frage ich nach. Er praesentiert mir AMLO als einen ¨Sozialdemokraten 
modernen, europaeischen Zuschnitts¨.Als ich ihn in dem solidarischen 
Gespraech auf die reale Politik von Blair, Schroeder und Gonzalez 
aufmerksam mache, konzediert er, dass ¨vielleicht mehr notwendig 
ist¨...
Wichtig ist, dass der Wahlkampf von AMLO zunehmend auf der Strasse 
ausgetragen wird. Es gibt taeglich im ganzen Land 
Massenmobilisierungen nicht zuletzt von jungen Leuten und 
StudentInnen. Diese Mobilisierungen sind auch deshalb notwendig, weil 
die Medien, insbesonders das Fernsehen, von den herrschenden Maechten 
kontrolliert werden.
Man kann also sehr gespannt sein hinsichtlich der kuenftigen 
Entwicklung. Etliche Szenarios sind im Falle eines Wahlsiegs von AMLO 
moeglich: a) Es gibt erneut , wie schon des oefteren in der 
Vergangenheit einen fraude, einen Wahlschwindel und die Herrschenden 
kontrollieren trotz zahlreicher Proteste weiter die Lage.
b) AMLO siegt, wie Obama auf der Basis von ¨hope und change¨, und es 
aendert sich kaum etwas.
c) AMLO gewinnt und die Radikalisierung geht weiter. Die Bewegungen 
brechen nicht ab, organisieren sich autonom, werden nicht wie die 
Pro-Obama-Komitees stillgestellt und fuehren den Kampf ueber die engen 
Grenzen AMLOS un der PRD hinaus weiter.
Lets see! ###
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