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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 9. Mai 2012; 02:19
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Wien/Stadtgeschichte:
> Naschmarkt-Mutationen
Ueber den verantwortungslosen Umgang mit Wiens architektonischem Erbe
Seit 43 Jahren wohne ich an der Linken Wienzeile - direkt beim 
Nachmarkt. Als ich als Kind hergezogen bin, war er noch weit groesser 
als er jetzt ist: Damals erstreckten sich die Staende in vier Reihen 
von der Sezession bis zur Joanelligasse, daran schloss der 
"Landparteienplatz" vulgo Bauernmarkt an. Auch in den 
Geschaeftslokalen der umliegenden Haeuser hatten sich zahlreiche Obst- 
und Gemuesegrosshaendler angesiedelt.
1972 wurde der Grossmarkt jedoch nach Inzersdorf abgesiedelt - und 
auch der restliche Teil des Naschmarktes sollte nach dem Willen der 
autofreundlichen Kommunalpolitiker verschwinden: Anstelle des Marktes 
war eine sechsspurige Stadtautobahn durch das Wiental geplant. Diese 
sollte dann nach Karlsplatz und Heumarkt auch gleich noch Stadtpark 
und Augarten durchqueren. Eine wahrlich durchschlagende 
staedtebauliche Grossleistung!
Vom Naschmarkt waeren nach diesen Plaenen lediglich drei Blumenstandln 
beim Theater an der Wien uebrig geblieben. Aber nicht nur an 
Blumengruesse fuer gefeierte Schauspielerinnen hatten die umsichtigen 
Stadtplaner gedacht - sie zeigten auch ein Herz fuer Fussgaenger: Fuer 
diese waren mehrere Bruecken ueber die Autobahn vorgesehen, damit sie 
lebenden Fusses vom sechsten in den vierten Bezirk gelangen konnten...
Die Bevoelkerung legte sich jedoch undankbarer Weise quer. Die 
Proteste waren dermassen massiv, dass die Stadtregierung 1975 ein 
zehnjaehriges Moratorium verkuendete - und zehn Jahre spaeter haetten 
derartige Plaene nur mehr homerisches Gelaechter erregt. Zwei 
Teilstuecke des verhinderten Jahrhundertprojektes wurden dennoch 
verwirklicht: Der autogerecht verschandelte Karlsplatz und (auf 
intensives Betreiben des damaligen Bautenministers Sekanina) der Torso 
Brigittenauer Bruecke.
Aber auch am Naschmarkt waren die treu sorgenden Stadtvaeter trotz 
ihrer herben Niederlage nicht untaetig: Die historischen Marktstaende 
auf dem heutigen Flohmarktgelaende wurden geschleift: Hier sollte ein 
158 Meter langes mehrstoeckiges Parkhaus errichtet werden. Aber auch 
dieses zukunftstraechtige Bauwerk wurde letztendlich nicht gebaut.
Zum Ausgleich wurde dann ein grosser Teil der beiden am Rand des 
Marktes gelegenen Standreihen von Baggern demoliert, um dort kostbare 
Parkplaetze freizulegen. Ironie des Schicksals: Jahrzehnte spaeter 
wurde an der Linken Wienzeile der muehsam gewonnene Parkraum 
gastronomischen Glaskobeln geopfert. Dies hat sich auch bitter 
geraecht: Die hochmotorisierten Gaeste dieser Bobo-Aquarien muessen 
nun viel Zeit investieren, um ihre imposanten Gelaendefahrzeuge in 
Sichtweite parken zu koennen.
Die nicht minder imposanten Entlueftungsanlagen auf den Flachdaechern 
dieser (oft unter hoechst undurchsichtigen Umstaenden vergebenen) 
gastronomischen Goldgruben setzen einen hoechst aparten Gegenakzent zu 
den das Bild des Marktes praegenden Tonnen- und Kuppeldaechern. Die 
logische Fortsetzung eines richtungsweisenden Trends aus den 
Achtziger-Jahren: Damals wurden etliche der alten Staende warm 
abgetragen, um sie in flachbedachter Billigbauweise neu errichten zu 
koennen.
Nach einer Generalsanierung in den Neunziger-Jahren bluehte der Markt 
zusehends auf. Die meisten der Staende waren mittlerweile von 
Einwandererfamilien uebernommen worden. Allerdings mussten in der 
Folge immer mehr traditionelle Viktualienstaende weitaus 
gewinntraechtigeren Gastronomiebetrieben weichen. Heute besteht der 
Markt zu einem guten Drittel aus derartigen Lokalen und auch viele der 
verbliebenen Staende verfuegen ueber mehr oder weniger grosse 
Imbiss-Bereiche.
Der groesste Anschlag auf den Markt seit den unseligen 
Autobahn-Plaenen erfolgte im Jahr 2005. Die SP-Bezirksvorsteherin 
Kaufmann beschloss unmittelbar nach gewonnener Wahl mit Hilfe von VP 
und FP, ein mehr als zwanzig Jahre altes Grotten-Projekt 
wiederzubeleben: Die Errichtung einer riesigen Tiefgarage fuer fast 
400 Autos in der Wienfluss-Einwoelbung unter dem Markt. Vier gewaltige 
Ein- und Ausfahrtsrampen haetten fuer die Immofinanz-Tochter WIPARK am 
und beim Markt errichtet werden sollen. Entlang der Linken Wienzeile 
waren neun Belueftungstuerme geplant, durch welche die Abgase der 
Garage in den Markt geblasen worden waeren.
An der Durchkreuzung dieser tieffliegenden Plaene war ich nicht ganz 
unmassgeblich beteiligt. Unter anderem organisierte ich ein 
Prominentenkomitee, in dem ueber fuenfzig bekannte Persoenlichkeiten 
gegen die Garage Stellung bezogen - von Franzobel und Josef Hader bis 
zu Erika Pluhar und Robert Menasse. Die schwer veraergerte 
Bezirkspolitikerin drohte mir mit einer Klage und bezeichnete mich 
oeffentlich als "armen, oft von grenzenlosem Hass getriebenen Teufel". 
Umsonst: Sie musste ihr unruehmliches Projekt im Jaenner 2009 auf 
Weisung von oben abblasen - aus "technischen Gruenden"...
Technische Gruende wurden auch fuer die brutale Demolierung der 
Jugendstil-Kandelaber zu beiden Seiten des Naschmarkts ins Treffen 
gefuehrt: So wie schon am Ring wurden statt der schoen verzierten 
Kulturdenkmaeler kanalrohrartige Masten aufgestellt, die fuer die MA 
33 den unschaetzbaren Vorteil haben, von oben bis unten mit lukrativen 
Plakatflaechen verziert werden zu koennen. Das historische 
Erscheinungsbild des Marktes wurde durch diese unsensible 
Vorgangsweise stark in Mitleidenschaft gezogen. Und trotz heftigster 
Kritik von Bundesdenkmalamt, Kunsthistorikern und Medien setzten die 
staedtischen Kulturbanausen ihr Zerstoerungswerk voellig unbeeindruckt 
an den Kandelabern am Flohmarktgelaende fort.
Aber das einstmals weltstaedtische Flair wird nicht nur durch rohe 
Eingriffe am Marktgebiet selbst systematisch ruiniert - auch in seinem 
Umfeld sorgen schwere Bausuenden fuer die nachhaltige Verunstaltung 
des historischen Ambientes. Zwar konnte ich gemeinsam mit vielen 
anderen engagierten AnrainerInnen die Errichtung eines Hochhauses 
durch die BAI Bautraeger Austria Immobilien GmbH hinter der U4-Station 
Kettenbrueckengasse vorlaeufig verhindern. Aber etliche monstroese 
Dachaufbauten entlang des Marktes wurden vom hohen Magistrat 
anstandslos genehmigt.
Zur Zeit praesentiert sich der Naschmarkt als riesige Baustelle. Die 
neuerliche Generalsanierung wird zwar zu einer spuerbaren Verbesserung 
der Infrastruktur fuehren, fuer das aesthetische Erscheinungsbild des 
Marktes ist aber leider nicht viel Gutes zu erwarten. So soll die 
weithin sichtbare Einzaeunung des neuen Muellplatzes mit voellig 
unpassendem Industrie-Lochblech ausgefuehrt werden: Hauptsache billig. 
Und schon jetzt wird der Markt von zahlreichen neuen Plakatflaechen 
auf Lichtmasten und Schaltkaesten gesaeumt. Aber dort laesst sich ja 
auch trefflich plakatieren: "Wien ist anders."
*Richard Weihs*
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R. W. war in den fruehen 1980er-Jahren Mariahilfs erster alternativer 
Bezirksrat. Von 2000 bis zu seinem Parteiausschluss im Jahr 2010 war 
er Bezirksrat der Wiener Gruenen.
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