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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 25. April 2012; 01:05
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Ungarn:
> Auf dem Weg in den "Gulaschfaschismus"?
Am 17. April 2012 waren auf Einladung der Wiener Gruenen sowie des 
Austrian Social Forums ungarische Oppositionelle zu Gast, um ueber die 
politische Entwicklung in Ungarn zu berichten. Und die geht seit dem 
FIDESZ-Wahlsieg auf direktem Wege nach Rechtssaussen.
Der Einladung gefolgt waren Gabor Scheiring, Abgeordneter und 
Parlamentssprecher der LMP im Ungarischen Parlament, Aron Tanos von 
der Jugendliga Solidaritas), Vera Zalka (Hungarian Social Forum) und 
Matyas Benyik (Vorsitzender ATTAC Hungary).
Die einleitenden Worte von Monika Vana, Gemeinderaetin der Wiener 
Gruenen und Hermann Dworczak, waren insbesondere dahingehend 
bemerkenswert, dass Monika Vana eine gruene EU-Initiative fuer ein 
Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn nach Artikel 7 des 
Lissabonvertrages (Verstoss gegen EU-Richtlinien) ankuendigte und 
Hermann Dworczak diese Veranstaltung als Auftakt einer "aktiven 
Vernetzung" der ungarischen Opposition mit progressiven Gruppierungen 
in Europa bezeichnet.
Zu erstem Punkt - dem Vertragsverletzungsverfahren - sei angemerkt, 
dass es ausgesprochen Ungarn war, das als erstes EU-Mitgliedsland am 
17. Dezember 2007 den Vertrag von Lissabon parlamentarisch beschloss 
(325 JA-Stimmen, 5 NEIN, 14 Enthaltungen). Insofern ist es 
bemerkenswert, dass sich nach nun 4 Jahren, nachdem man sich offenbar 
nicht mehr daran erinnern will, was denn da abgestimmt wurde, sich nun 
dieser Vertrag gegen Ungarn zu wenden droht.
Zur politischen Situation in Ungarn
Parlamentswahlen in Ungarn, 11. und 25. April 2010: Die 
national-konservative FIDESZ gewinnt mit ihren Buendnispartnern von 
der KDMP 68,12 % der Stimmen und damit 263 von 386 Mandaten. Die 
bislang regierende sozialdemokratische MSZP muss schwerer Verluste 
hinnehmen, erreicht 15,28 % der Stimmen, 59 Sitze. Die rechtsextreme 
Jobbik liegt mit 12,18 % und 47 Sitzen knapp dahinter. Auch wenn 
erstmals mit der LMP auch einer links-alternativen, gruen-orientierten 
Partei mit 7,44 % und 16 Mandaten - in dieser Hoehe ueberraschend - 
der Parlamentseinzug gelingt: Ungarn ist massiv nach rechts gerueckt, 
die demokratische, parlamentarische Opposition weitgehend 
marginalisiert. Viktor Orbans FIDESZ hat damit die notwendige 
2-Drittel Mehrheit um alle Verfassungsaenderungen durchzubringen, und 
er wird diese Mehrheit zu nutzen wissen.
Orbans Wahlsieg war nicht zuletzt einem rabiaten "Antisozialismus" und 
der katastrophalen sozialen und oekonomischen Lage als Folge der 
oekonomischen Transformation geschuldet (siehe dazu spaeter Input von 
Gabor Scheiring). Orban setzte - durchaus erfolgreich - auf die 
nationalistische, "patriotische" Karte, gegen die "kosmopolitischen" 
Sozialisten und ihre, in der MSZP-Aera gross gewordenen "Oligarchen" - 
Technokraten des Globalisierungsprozesses, Manager internationaler, in 
Ungarn ansaessiger Konzerne, Gewinner der Privatisierung, Profiteure 
des EU-Beitritts.
Vorgeworfen wurde den MSZP-Premiers Medgyessy und Gyurcsany seitens 
der FIDESZ dabei auch ihre Vergangenheit als kommunistische 
Funktionaere: Medgyessy war stellvertretender Finanzminister unter 
Kadar, Gyurcsany Sekretaer der Jugendorganisation der Kommunistischen 
Partei Ungarns. Interessanterweise war allerdings auch ausgerechnet 
Viktor Orban in seiner Vergangenheit kommunistischer 
Spitzenfunktionaer - naemlich Vorsitzender der kommunistischen 
Jugendorganisation KISZ. Als Mitbegruender der FIDESZ fuehrte er die 
urspruenglich "jugendlich"-liberale Partei auf ihren heutigen, 
rechtskonservativen, nationalistischen Kurs. Seit 1993 ist Orban dabei 
Vorsitzender dieser Partei.
Mit der absoluten Machtuebernahme durch FIDESZ war Orban nun auch in 
der realen politischen Lage, sein national-konservatives Projekt 
durchzuziehen. Mit einem neuen Mediengesetz wurde die Medienfreiheit 
empfindlich und nachhaltig beschnitten, ArbeitnehmerInnenrechte wurden 
de facto abgeschafft, Arbeitslose zu Zwangsarbeit verpflichtet, 
Gewerkschaften hinsichtlich ihrer Handlungsmoeglichkeiten entmachtet 
und entrechtet, die Unabhaengigkeit der Gerichte und der Justiz 
eingeschraenkt.
"Das" nationale Projekt schlechthin war allerdings eine 
Verfassungsreform, ganz im Geiste des von FIDESZ beschworenen und 
mythologisch ueberzeichneten und verklaerten "Ungarntums": Der Passus 
"Republik" wurde etwa aus dem Grundgesetz gestrichen, Ungarn heisst 
somit nur noch "Ungarn" und nicht mehr "Republik Ungarn", dazu passend 
die ungarische Krone in das Staatswappen eingefuegt und zum "Symbol 
Ungarns" und damit zum zentralen historischen Bezugspunkt, erklaert. 
Die Verbindung von Mann und Frau gilt kuenftig in Ungarn als einzige - 
in dieser Form ziemlich einzigartig - verfassungsmaessig verankerte, 
zulaessige Form der Ehe.
Trotz (oder gerade wegen?) des autoritaeren und chauvinistischen 
Kurses kommt die Politik von FIDESZ dabei bei breiten 
Bevoelkerungsschichten durchaus gut an, punktet Orban doch mit der 
"nationalistischen" Karte - und "patriotische" Appelle an das 
"Ungartum" gewuerzt mit der entsprechenden Dosis Rassismus, 
Antisemitismus und Chauvinismus verfehlen ihr Ziel nicht. Das 
"nationale Trauma" Trianon, als Ungarn nach dem ersten Weltkrieg zwei 
Drittel seiner Flaeche und ein Drittel seiner Bevoelkerung verlor, 
sitzt tief, der "Opfermythos" bleibt weitgehend unhinterfragt und wird 
von den herrschenden politischen Eliten entsprechend gehegt und 
gepflegt.
Wer verspricht, "Ehre" und "Stolz" Ungarns wiederherstellen, kommt gut 
an und kann auf breite Unterstuetzung zaehlen. Kritik aus dem 
europaeischen Ausland an seiner Politik wird von Orban als 
unzulaessige Einmischung abgetan, FIDESZ inszeniert sich als jene 
politische Kraft, die Ungarn vor schaedlichen Einfluessen von aussen 
schuetzt. Das hat natuerlich Auswirkungen auf die ungarische 
Gesellschaft: Rassismus und Antisemitismus sind inzwischen wieder 
salonfaehig geworden, Hetze gegen Roma politischer und 
gesellschaftlicher Alltag.
Gewerkschaften, linke Traditionen und linke Politikzugaenge sind bzw. 
haben sich auch selbst in der Vergangenheit diskreditiert, die 
"antisozialistische" Propaganda hat ihre Wirkung nicht verfehlt. 
Demokratische Institutionen - wie eben eine Unabhaengige Justiz bzw. 
unabhaengige Medien, BuergerInnen- und Freiheitsrechte haben in einer 
Gesellschaft ohne demokratischen Hintergrund - nur wenig 
Unterstuetzung erwarten. So weit zum politischen Zustand im 
Allgemeinen. Nun zu den Einschaetzung der geladenen Oppositionellen im 
Speziellen.
Gabor Scheiring, LMP: "Finaler Kollaps"
Gabor Scheiring Abgeordneter der LMP und Oekonom zieht eine 
vernichtende Bilanz ueber den wirtschaftlichen Transformationsprozess 
von der realsozialistischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft: Der 
Transformationsprozess habe schlichtweg in einer sozialen und 
oekonomischen Katastrophe gemuendet, so Scheiring. Er untermauert 
diese Behauptung auch mit den entsprechenden volkswirtschaftlichen 
Kenndaten:
* Das Preisniveau in Ungarn liege zwischen 80 und 110 % des 
EU-Durchschnitts, die Loehne laegen allerdings zur bei 22 % der 
EU-Einkommen - mit sinkender Tendenz.
* Hinsichtlich der Produktivitaet liege Ungarn mit 75 % des 
EU-Durchschnitts zwar gar nicht so schlecht, die Produktivitaet 
internationaler Konzerne in Ungarn liege allerdings um das 3- bis 
4-fache ueber dem ungarischer Unternehmungen, was ungarische Betriebe 
im Vergleich zu ihren internationalen Konkurrentennur wenig 
wettbewerbsfaehig mache.
* Das Bruttoinlandsprodukt belaeuft sich auf 65 % des 
EU-Durchschnitts, zwar sei die Wirtschaft zwar gewachsen, allerdings 
habe es sich um "jobless growth" - also Wachstum, das sich nicht in 
entsprechendem Beschaeftigungswachstum niedergeschlagen habe - 
gehandelt.
* Die Erwerbsquote in Ungarn ist mit 61,9 % (2010) katastrophal gering 
und liegt deutlich unter dem EU-Schnitt (EU-15: 74,6 %, EU-27: 73,3 
%). Noch desastroeser als im Ungarnschnitt stellt sich die Situation 
in Ostungarn dar, mit Erwerbsquoten knapp an 50 %!
Der Beitritt Ungarns zur Europaeischen Union habe sich angesichts der 
Produktivitaetsrueckstands der ungarischen Oekonomie fuer die 
ungarische Bevoelkerung als wirtschaftliches und soziales "Desaster" 
dargestellt. Vom Transformationsprozess profitiert haetten die (alten) 
Eliten, die neuen MSZP-nahen "Oligarchen", als Technokraten des 
Modernisierungs- und Globalisierungsprozesses und Manager 
internationaler in Ungarn ansaessiger Konzerne. Die 
"antisozialistische" Kampagne der FIDESZ wurde entsprechend als 
Kampagne gegen die sozialistischen Globalisierungs- und 
Transformationsgewinner "auf Kosten Ungarns" gefuehrt, gegen die 
sozialistischen Oligarchen gefuehrt, gegen die Bevorzugung 
"internationaler Investoren" im Gegensatz zu ungarischen Betrieben und 
ungarischem Kapital.
Der von den Regierungen zuvor beschrittene Weg der oekonomischen 
Transformation von der realsozialistischen Planwirtschaft zur global 
integrierten Marktwirtschaft wird zwar auch unter dem herrschenden 
FIDESZ-Regime konsequent weiterbeschritten - allerdings unter 
Bevorzugung der nationalen, FIDESZ-nahen "Oligarchen" und Eliten, 
unter besonderer Beruecksichtigung der Interessen nationaler 
Kapitalfraktionen.
Vor diesem Hintergrund sind sowohl Massnahmen im Bankenbereich 
(Bankensteuer, Zwangskonvertierung von Fremdwaehrungskrediten), die 
vor allem international agierende Bankenhaeuser treffen, Sondersteuern 
fuer auslaendische Konzerne bzw. Produkte (z.B. die ominoese 
"Fettsteuer" von denen bspw. die ungarische Salami befreit ist) und 
die Einfuehrung der Flat-Tax zu sehen - als auch der massive Abbau von 
ArbeitnehmerInnenrechte, sowie die Frontalattacke auf Arbeitslose, 
Gewerkschaften und NGO in Ungarn: Arbeit muss im Interesse der 
Wettbewerbsfaehigkeit, der Produktivitaetsentwicklung ungarischer 
Unternehmen und maximalen Verwertbarkeit so billig, entrechtet und 
flexibel einsetzbar wie moeglich sein.Die Folgen dieser Wirtschafts- 
und Sozialpolitik sind allerdings katastrophal, wovon steigende 
Arbeitslosigkeit und wachsende Armut zeugen. Je katastrophaler die 
oekonomische Situation, desto staerker als Ablenkung vom allgemeinen 
Elend die nationale Mobilisierung, desto autoritaerer der politische 
Kurs.
Regelrecht befeuert wird dieser weitere Ruck nach Rechts durch die 
offen rechtsextreme, rassistische und antisemitische Agitation der 
Partei Jobbik unter Gabor Vona, Gruender der paramilitaristischen, 
faschistischen, inzwischen verbotenen Ungarischen Garde. Die Jobbik 
positioniert sich als "antielitaere" Oppositionspartei gegen FIDESZ um 
gleichzeitig gegen die Aermsten der Gesellschaft und die Arbeitslosen 
zu mobilisieren, so Scheiring.
Die LMP positioniere sich gegen FIDESZ wie Jobbik mit ihren 
Forderungen nach fairen Jobs, sowie nach einem grundlegend neuen 
oekonomischen Modell, orientiert an einem beschaeftigungswirksamen, 
oekologisch und sozial vertraeglichen Wachstum, soziale und 
wirtschaftliche Plattformen, welche entsprechende Entwicklungen 
befoerdern, unterstuetzen und anstossen wuerden. Internationale 
Investoren muessten in regionale Oekonomien eingebettet sein.
Kritik kommt seitens der LMP allerdings auch an den restriktiven 
EU-Vorgaben: der Fiskalpakt drohe die EU-Peripherie - also die 
suedeuropaeischen und Staaten der Region "Mittel- und Osteuropa" - 
regelrecht zu ersticken und aller budgetaerer Spielraeume zu berauben. 
Was diese Regionen allerdings braeuchten sei ein Regime, das 
wirtschaftliche wie soziale Entwicklung foerdere - was der Fiskalpakt 
allerdings katastrophalerweise verhindere.
Matyas Benyik: 4 Millionen Ungarn in Armut
Der Oekonom und ATTAC-Ungarn Vorsitzende Benyik setzte Seirings 
Beitrag fort: Der oekonomische Transformationsprozess habe zur 
Verelendung breiter Bevoelkerungsschichten gefuehrt und insbesondere 
die Roma-Minderheit besonders schwer getroffen. 7 bis 10 % der 
ungarischen Bevoelkerung gehoeren den Roma an: 700.000 bis 1 Mio. 
Menschen. Roma waren die ersten, die vom Zusammenbruch des Sozialismus 
und der folgenden wirtschaftlichen Transformation, in aller Haerte 
getroffen wurden. Sesshaft im oekonomischen ohnehin eher 
unterentwickelten Ostungarn, beschaeftigt als ungelernte ArbeiterInnen 
in der Industrie, schnellte die Arbeitslosenrate im Zuge von 
Privatisierungs- und Rationalisierungsmassnahmen, der Spezialisierung 
und der daraus resultierenden Nachfrage nach gut qualifizierten 
FacharbeiterInnen sowie der Schliessung von unrentablen Fabriken, in 
die Hoehe. Eine Reintegration in den Arbeitsmarkt sei nicht mehr 
erfolgt - nicht zuletzt weil der groesste Teil der Roma an der 
besonders strukturschwachen slowakischen und serbischen Grenze leben, 
wo sie - nicht zuletzt als Folge veraenderter Machtverhaeltnisse und 
der um sich greifenden oekonomischen Krise - regelmaessig 
Angriffsziele der faschistischen Ungarischen Garde wurden bzw. sind.
Armut ist allerdings bei weitem kein auf Roma begrenztes Phaenomen - 
was nicht weiter verwundert bei dem bestehenden Verhaeltnis zwischen 
Preisen und Loehnen. Waehrend die Regierung Orban die Armutsrate in 
Ungarn mit 11%, rund 1,2 Mio. Menschen beziffert - was nicht ueber dem 
EU-Durchschnitt liegt - gehen soziologische Untersuchungen in Ungarn 
von wesentlich hoeheren Armutsquoten aus: sie sprechen von knapp 40% 
Armen - rund 4 Mio. Menschen. Mit Antritt der FIDESZ-Regierung ist 
dabei die ohnehin schon hohe Armutsrate unter sozialdemokratischen 
Regierungen (33%) noch einmal deutlich gestiegen. Besonders dramatisch 
dabei: die wachsende Armut bei Kindern und PensionistInnen.
Vera Zalka: Gespaltenes Land
Die Donau-Theiss-Linie teilt das Land - nicht nur geografisch, sondern 
auch oekonomisch und sozial - in West- und Ostungarn so Zalka. 
Ostungarn ist dabei der weit rueckstaendigere Teil und wurde im Zuge 
der oekonomischen Transformation wirtschaftlich wie sozial noch weiter 
abgehaengt. Und wirtschaftliche Rueckstaendigkeit bedeutet 
Arbeitslosigkeit und Armut, insbesondere Kinder- und Altersarmut, 
wobei die Dramatik kaum vorstellbar ist. Hier gibt es Doerfer mit bis 
zu 100 % Arbeitslosigkeit, so Zalka, regelrechte Ruinensiedlungen.
Die Politik habe nun zu entscheiden, welcher Gruppe aus immer knapper 
werdenden Mitteln Unterstuetzung zukommen sollte. Das fuehrt zu 
unglaublichen Haerten. Inzwischen zurueckgekehrt: Hunger, so Vera 
Zalka, Unterernaehrung von Kindern. Kuerzlich hat in Ungarn ein 
"Hungermarsch" von 50 Betroffen -- begleitet von hunderten 
SympathisantInnen -- aus dem Nordosten Ungarns nach Budapest statt.
Ist die Bevoelkerung Ungarns schon desillusioniert und ueber weite 
Strecken ohne Hoffnung auf Besserung, gilt das fuer die Menschen des 
Ostens im Besonderen. "Sie glauben den Luegen nicht mehr," so Zalka, 
den Versprechungen nach der Wende, dass es allen "bald so gut gehen 
werde wie den Oesterreichern und den Deutschen."
Heute ist der Osten Hochburg von Jobbik, deren rassistische und 
antisemitische Agitation hier auf fruchtbaren Boden faellt, waehrend 
in Westungarn die Aversionen gegen das zunehmend verelendende 
Ostungarn steigen. Die Spaltung verlaeuft allerdings nicht nur 
zwischen Ost- und Westungarn - in Wirklichkeit ohnehin keine regionale 
sondern eine soziale und oekonomische Spaltung, sondern auch unter den 
Lohnabhaengigen: Die Zahl der MindestlohnbezieherInnen hat seit der 
Regierungsuebernahme durch FIDESZ rasant zugenommen, die 
Einkommensunterschiede entsprechend ebenfalls. Und: die Generation der 
"Babyboomer" der 50er Jahre geht demnaechst in Pension. Nur, dass kein 
Geld da ist. Und so plant FIDESZ - wie auch in Rest-Europa diskutiert 
wird - einfach das Pensionsalter zu erhoehen, das Problem also 
aufzuschieben, stattdessen Altersarbeitslosigkeit in Kauf zu nehmen.
Die soziale und oekonomische Kluft in Ungarn ist bereits enorm, die 
Politik von FIDESZ hat diese bereits vergroessert und droht diese noch 
weiter zu verschaerfen und das politische und gesellschaftliche Klima 
damit noch weiter zu radikalisieren.
Aron Tanos: Zivilgesellschaftlicher Widerstand beginnt sich zu 
formieren
Es gibt allerdings auch Widerstand gegen diese Entwicklungen - auch 
wenn die Zivilgesellschaft sich erst zu formieren beginnt und Orban 
mit seiner FIDESZ-Regierung trotz weit verbreiteter Unzufriedenheit 
noch fest im Sattel zu sitzen scheint. Aron Tanos (dt. "der 
Verdaechtige"), Aktivist der Jugendorganisation "Solidaritas" die 
heute in Ungarn bereits an die 6.000 AktivistInnen zaehlt, berichtet 
davon, dass einmal mehr mit "facebook" die Organisation des 
Widerstandes begann. Ein nicht unwesentlicher Grund: 
"facebook"-Mobilisierung kostet nichts, denn die Zivilgesellschaft in 
Ungarn ist nicht nur organisatorisch, sondern auch finanziell schwach 
(Zitat von Tanos im Vorfeld: "Und wenn ich 'schwach' sage, entspricht 
das nicht eurer Vorstellung von 'schwach'. Es ist viel schlimmer ..." - 
was Tanos uebrigens auch ueber die ungarischen Gewerkschaften sagt).
Auf facebook entstand so die Gruppe "Milla" ("1.000.000 fuer 
Demokratie in Ungarn"), die u.a. die Proteste gegen das Mediengesetz 
organisierte. Aus "Milla" entstand schliesslich am 1. Oktober 2011 
"Solidaritas". Jetzt soll es an die Vernetzung der zarten, 
zivilgesellschaftlichen Pflaenzchen, der fortschrittlichen 
Oppositionsparteien und der Gewerkschaften gehen - um an einem 
"demokratischen Round Table" eine Allianz aller demokratischen Kraefte 
zu bilden. "Wir muessen agieren, wir haben keine Zeit ueber 
Unterschiede zu diskutieren," so Tanos weiter.
In einer zweiten Phase - mit den naeherrueckenden Wahlen - will 
"Solidaritas" ExpertInnen zu Wort kommen lassen, die alternative Wege 
aus der ungarischen Krise beschreiben sollen. Durchaus moeglich 
erscheint - wenn auch nicht unter Beteiligung von "Solidaritas" - die 
Herausbildung einer neuen demokratischen Partei als glaubwuerdige 
Wahlkonkurrenz zu FIDESZ (wobei die ExpertInnenfixierung nicht zuletzt 
vor dem Hintergrund technokratischer "Expertenregierungen" in 
suedeuropaeischen Laendern, nicht unproblematisch erscheint, Anm.).
Gefahr Jobbik: bei Jugend populaer und rabiat antisemitisch
Die groesste Gefahr geht dabei - weil sie massiv unter Jugendlichen 
wirbt und ihre paramilitaerischen Vorfeldorganisationen starken 
jugendlichen Zulauf haben - von Jobbik auf. Die ungarische Jugend 
droht an die extreme Rechte verloren zu gehen, warnt Tanos, die 
demokratischen Kraefte muessten sich dringend was einfallen lassen.
Auch Tanos spricht den - gerade auch im Zuge der Wirtschaftskrise und 
des von FIDESZ promoteten neu erwachten ungarischen Nationalismus - 
dramatisch ansteigenden Antisemitismus an. Die Suendenbocksuche, wer 
fuer die tiefe oekonomische und gesellschaftliche Krise in Ungarn 
verantwortlich zeichne, hat laengst begonnen, die extreme Rechte hat 
die "Schuldigen" auch schon gefunden - es ist "das Ausland", die 
Linken, die Roma, die Arbeitslosen und natuerlich die Juden.
Jobbik kann dabei auf eine traurige, antisemitische Traditionen in 
Ungarn aufbauen (zur Erinnerung: waehrend der Horthyzeit wurden 1922 
die ersten antisemitischen Rassengesetze Europas beschlossen), der 
Kampf gegen die Linke, gegen den "Sozialismus" auch mit 
antisemitischen Parolen gefuehrt. Mit dem ideologischen Hintergrund, 
linkes, fortschrittliches, liberales Gedankengut als "un-ungarisch", 
als nicht dem "ungarischen Geiste" entsprechend, "von aussen den 
Ungarn aufgezwungen" zu diffamieren. Der Jobbik-Vorsitzende kann 
ungestraft den Holocaust leugnen, auch im Parlament wird hemmungs- und 
weitgehend konsequenzenlos antisemitisch agitiert. Antisemitismus 
gewinnt bedrohlich an "Normalitaet".
Ein Lichtblick: am 15. April 2012 demonstrierten ueber 10.000 Ungarn 
mit dem "Marsch des Lebens" gegen Faschismus und Antisemitismus und 
gedachten der Opfer des Holocaust. Kardinal Erdoe nannte dabei in 
einem Beitrag Antisemitismus als "unvereinbar mit dem Christentum".
Bildungskatastrophe
Der radikale Abschied vom sozialistischen Erbe - bis zur konsequenten 
Leugnung dieses Teils ungarischer Geschichte - macht sich nicht nur in 
der Verfassung bemerkbar, sondern auch in der Bildungspolitik. War zu 
sozialistischen Zeiten das Bildungssystem gratis und sozial 
einigermassen durchlaessig, ist heute ein Studium kaum mehr leistbar. 
Tanos nennt Zahlen: so gibt es heute um 72.000 weniger StudentInnen 
als noch vor einigen Jahren.
Mit Aktionismus versucht etwa das Bildungsnetzwerk "HaHa" auf den 
Bildungsnotstand hinzuweisen. Die Folgen die ein derart repressives 
und ausgrenzendes Bildungssystem fuer die wirtschaftliche und 
gesellschaftliche Entwicklung mit sich bringt ist jedenfalls absehbar.
Ausblick
Hinsichtlich der naeheren ungarischen Zukunft ueberwiegt Pessimismus - 
allerdings mit einer geringen Portion Hoffnung.
"Die derzeitige Entwicklung ist derzeit nur schwer aufzuhalten, weil 
so gut wie kein demokratisches Bewusstsein herrscht," fuerchtet etwa 
Scheiring. Ungarn brauche eine Demokratisierungsprozess, der sei 
allerdings langwierig, eine demokratische Opposition erst im 
entstehen, die Linke und fortschrittliche Ideen weitgehend 
desavouiert. Die "totale Desillusionierung" breiter 
Bevoelkerungsschichten und der Fall in eine tiefe Depression mit 
politischer Inaktivitaet tue ihr uebriges dazu.
Auch strukturell sei ein kurzfristiger Wandel schwierig: das einmal 
mehr geaenderte, komplizierte Wahlrecht ermoeglicht schon 
Zwei-Drittel-Mehrheiten bei einem Stimmenanteil von 45%. Eine neue, 
glaubwuerdige Opposition muesse ueberhaupt erst regionale 
Organisationsstrukturen schaffen, um in einer Wahlauseinandersetzung 
gegen die etablierte Grosspartei der Rechten - FIDESZ - bestehen.
Tatsaechlich erwarten sich die Oppositionellen Ungarns einiges vom 
beginnenden zivilgesellschaftlichen Aufbruch. Und was sich letztlich 
schwer abschaetzen laesst. Werden die Desillusionierten und 
Frustrierten an der naechsten Wahl teilnehmen oder einfach zu Hause 
bleiben? Werden sie mangels glaubwuerdiger Alternative selbst noch 
einmal FIDESZ die Stimme geben? Gelingt es FIDESZ ihre treue 
AnhaengerInnenschaft, deren Anzahl nicht zu unterschaetzen ist, noch 
einmal mit der entsprechenden Dosis Patriotismus zu mobilisieren?
Ein gewisse Hoffnung setzen die Oppositionellen auf die EU. Da ist 
einmal das angestrebte Art.7-Verfahren. Und: Ein EU-Mitgliedsland 
Ungarn stehe unter permanenter Beobachtung und koenne sich nicht alles 
leisten (wobei die aktuellen politischen und oekonomischen 
Entwicklungen innerhalb der EU auch im Zeichen der Entdemokratisierung 
und einer autoritaeren Wirtschaftspolitik stehen, Anm.).
Was den ungarischen Oppositionellen jedenfalls ein zentrales Anliegen 
ist: die Vernetzung und Kooperation mit demokratischen Gruppierungen, 
Parteien und zivilgesellschaftlichen Initiativen in den anderen 
EU-Staaten.
(Thomas Zarka (KIV/UG) und Markus Koza (AUGE/UG))
Quelle: 
http://diealternative.org/belvederegasse/2012/04/ungarn-auf-dem-weg-in-den-%E2%80%9Egulaschfaschismus%E2%80%9C/
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