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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 18. April 2012; 04:18
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> Syrien zwischen gewaltfreiem Aufstand und Buergerkrieg

Kurzfassung einer Broschuere der deutschen Arbeitsgemeinschaft
"Kooperation fuer den Frieden"

Syrien befindet sich am Rande des Buergerkrieges - wenn allein die
Zahl der weit ueber 7.500 Opfer seit dem Maerz 2011 zugrunde gelegt
wird, dann herrscht dort nach den gaengigen Kriegsdefinitionen bereits
Krieg.(2) Waehrend in Tunesien und Aegypten die zivilen Aufstaende
2011 zu einem schnellen Sturz der Regierungen fuehrten, und in Libyen
der Konflikt schnell zu einem rein militaerischen wurde, traegt der
Aufstand in Syrien, der im Maerz 2011 begann, ein doppeltes Gesicht.
Auf der einen Seite gibt es die zivilen Proteste, die vor allem durch
eine grosse Zahl von Buergerkomitees organisiert und zumeist freitags
nach dem Moscheebesuch viele Tausende von Menschen unter einem jeweils
woechentlich neu festgelegten Motto auf die Strasse bringen. Auf der
anderen Seite hat sich eine bewaffnete Untergrundarmee, die von
Exilkreisen und wahrscheinlich mehreren westlichen Maechten
unterstuetzte Freie Syrische Armee, gebildet, die sich vor allem aus
Deserteuren der syrischen Armee rekrutiert und die den bewaffneten
Kampf gegen das Assad-Regime aufgenommen hat. Die syrische Regierung
geht mit aeusserster Haerte gegen beide vor. Aktuelle Zahlen sind
schwer zu pruefen, aber schon im letzten September war von mehr als
70.000 Festgenommenen die Rede, und mindestens 15.000 Menschen sind
ins Ausland, vor allem nach Jordanien, in den Libanon und in die
Tuerkei, geflohen.(3)

Die Aussichten, den Konflikt ohne ein noch viel groesseres
Blutvergiessen in friedliche Bahnen zu lenken, verringern sich im
Moment mit jeder Woche. Im Land scheint die Regierung von Praesident
Assad weiter ueberzeugt, den Aufstand mit Gewalt in die Knie zwingen
zu koennen. International ist der Konflikt in Syrien inzwischen
laengst zum Spielball der Gross- und Regionalmaechte geworden. Weder
die Arabische Liga bzw. die in diesem Falle massgebenden Golf-Emirate
und Saudi Arabien noch die Vereinten Nationen scheinen in der Lage,
die syrische Regierung zu einem Einlenken bewegen zu koennen, zumal
das Regime weiterhin mit Russland, China und dem Iran alte Verbuendete
aus der Zeit des Ost-West-Konfliktes an seiner Seite hat.

Dabei ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass es keinem
dieser Laender wirklich um Syrien und die Sicherheit und
Selbstbestimmung der syrischen Bevoelkerung geht. Vielmehr geht es
wohl vorrangig um Einfluss in der Region und um den sich immer weiter
zuspitzenden Konflikt mit dem Iran.

Historischer Hintergrund

Historisch gehoerte Syrien zum Osmanischen Reich; nach dem Ersten
Weltkrieg wurde Frankreich die Verwaltung der Region uebertragen. 1946
wurde Syrien unabhaengig. 1958 bis 1961 schloss es sich mit dem von
Nasser regierten Aegypten zusammen; ein Militaerputsch beendete dieses
panarabische Experiment. Seit 1963 regiert in Syrien die Baath-
Partei; wirkliche Oppositionsparteien wurden nie zugelassen. Die
Verfassung von 1973 bezeichnet Syrien als sozialistische Volksrepublik
mit Praesidialsystem. Der gegenwaertige Praesident Baschar al-Assad
ist der Sohn von Hafiz al-Assad, der von 1970 bis zu seinem Tod im
Jahr 2000 Praesident Syriens war. Der Alawit Baschar al-Assad wurde in
einem Referendum ohne Gegenkandidaten zum Praesidenten gekuert und in
diesem Amt 2007 fuer eine zweite siebenjaehrige Amtsperiode
bestaetigt. Aehnlich wie bei Saddam Hussein und Muammar el-Gaddhafi
stuetzt sich seine Macht auf seinen aus einem Dorf (Qardaha)
stammenden Familienverband(4) und auf die militaerischen Kraefte.

Im Nahostkonflikt ist Syrien als einer der Gegner Israels
positioniert. Im Sechstagekrieg 1967 besetzte Israel die zu Syrien
gehoerenden Golanhoehen, von denen aus es immer wieder zu Beschuss
israelischen Territoriums gekommen war. Die 1976 beginnende
langjaehrige Militaerpraesenz in Libanon musste Syrien 2005 nach der
bis heute offiziell ungeklaerten Ermordung des ehemaligen
libanesischen Premierministers Rafik Hariri beenden. Syrien hat Israel
bis heute nicht anerkannt. Friedensgespraeche scheiterten 2006 am
Libanon-Krieg und 2008 an der Eskalation im Gaza-Streifen.

Damaskus war bis Anfang 2012 Sitz des Hamas-Politbueros unter Fuehrung
von Khaled Meschaal. Mehrere Mitglieder des engsten
Hamas-Fuehrungskaders sollen sich inzwischen ins Ausland abgesetzt
haben, Khaled Meschaal selbst erklaerte seinen Ruecktritt -
moeglicherweise auch, um sich als Praesidentschafts- Kandidat bei
bevorstehenden Neuwahlen in den palaestinensischen Gebieten um die
Nachfolge von Mahmoud Abbas zu bewerben.

Israel hat zweimal Militaerschlaege auf Einrichtungen in Syrien
durchgefuehrt: 2003 auf ein Ausbildungslager fuer Guerilla-Kaempfer
und 2007 auf eine angebliche Atomanlage.(5)

Bereits im Jahre 1999 waren sich Israel und Syrien bei den
Verhandlungen um die Golanhoehen "so nahe gekommen, dass der
amerikanische Gastgeber einen Vertragsentwurf verfasste".(6) Dieser
wurde durch eine Indiskretion in der Zeitung Haaretz vorab
veroeffentlicht, woraufhin Syrien wegen dieses Vertrauensbruches die
Verhandlungen abbrach.

Kernpunkte waren gemeinsame Sicherheits- und Normalisierungsmassnahmen
wie etwa bilaterale Handels- und Wirtschaftsbeziehungen. Es sollte
eine israelisch-syrische Wasserbehoerde eingerichtet werden. Israels
Sicherheitsbeduerfnis wollte Syrien durch die Zustimmung zu einer
Fruehwarnstation auf den Golanhoehen entgegen kommen, die von US- und
franzoesischen Soldaten haette betrieben werden sollen. Bis zum
Libanonkrieg 2006 fuehrten syrische und israelische Unterhaendler
weitere nichtoeffentliche Verhandlungen zur Konfliktloesung.

Im Falle einer Rueckgabe der Golanhoehen wuerde Syrien bis ans Ostufer
des Sees Genezareth reichen. Die Quellen von etwa zehn Prozent des
Trinkwassers Israels wuerden bei einem solchen Friedensschluss unter
syrischer Kontrolle stehen, was fuer Israel ein Problem darstellt.

Waehrend der drei Jahrzehnte amtierende syrische Praesident Hafez
al-Assad Kompromisse aufgrund seiner Autoritaet innenpolitisch haette
leichter durchsetzen koennen, war es fuer seinen Sohn Baschar al-Assad
sehr viel schwerer, einem Friedensvertrag mit erheblichen Kompromissen
innenpolitisch zum Durchbruch zu verhelfen.

Ende Juli 2010 reiste Baschar al-Assad erstmals nach dem Abzug der
syrischen Truppen aus dem Libanon wieder nach Beirut, begleitet vom
saudischen Koenig Abdallah, und traf sich mit dem libanesischen
Praesidenten Suleiman. Fuer Baschar al-Assad war es ein
Triumph-Besuch, der gleichzeitig den wieder erstarkten Einfluss
Syriens gegenueber Libanon symbolisierte.

Syrien, Iran, Hizbollah und die palaestinensische Hamas haben sich zu
einer "Achse des Widerstands" zusammengeschlossen.

Mitte Mai 2010 berichtete die russische Nachrichtenagentur Itar-Tass,
dass Syrien von Russland MiG-29 Kampfflugzeuge und Boden-Luft-Raketen
des Typs Pantsir erhalten soll, was sowohl in Washington wie auch in
Israel fuer erhebliche Verstimmung sorgte.

Um ihre eigenen Ansprueche zur Rueckgabe der Golanhoehen durchzusetzen
und gleichzeitig das Risiko zu minimieren, durch israelische Angriffe
geschaedigt zu werden, laesst Damaskus nicht nur die Aufruestung der
Hizbollah mittels auf dem Landweg durch Syrien gelieferter Waffen aus
dem Iran zu, sondern soll auch selbst aktiv die Aufruestung der
schiitischen Widerstandsorganisation im Libanon betrieben haben. Nach
einem Besuch des demokratischen Senators John Kerry in Damaskus Anfang
April 2010 wurde die im Februar 2010 angekuendigte Entsendung eines
US-Botschafters nach Syrien zunaechst verschoben, bevor dann im Januar
2011 vor Ausbruch der Unruhen doch noch ein neuer US-Botschafter,
Robert Ford, in Damaskus ernannt wurde. Beim Besuch des deutschen
Aussenministers Guido Westerwelle in Damaskus im Mai 2010 wies der
syrische Aussenminister Walid al-Muallim "den Vorwurf des
Raketenschmuggels bruesk zurueck, laesst aber auch wissen, solange
Krieg und Besatzung herrschten, ,wird Syrien nicht die Polizei spielen
fuer Israel'".(7) Am 6. Februar haben die USA ihre Botschaft in
Damaskus geschlossen und saemtliches Personal abgezogen. Auch
Deutschland, Spanien, Italiens, Frankreich, Grossbritannien und
Belgien sowie die Golfstaaten riefen ihre Botschafter Anfang Februar
zurueck.

Der Aufstand und seine Strukturen

Kurz nach Beginn der Aufstaende in Tunesien und Aegypten kam es auch
in Syrien im Januar 2011 zu einzelnen Protesten, die aber zunaechst
wenig Widerhall fanden. Der Maerz 2011 gilt vielen BeobachterInnen als
der eigentliche Beginn der Unruhen, als in Dar'a, einer im Sueden
Syriens gelegenen Stadt, eine Demonstration nach dem Freitagsgebet am
18. Maerz von der Polizei unter Beschuss genommen wurde. Der Protest
war durch die Verhaftung und mutmassliche Folterung von 15 Schuelern
ausgeloest worden, die einen Slogan der arabischen Aufstaende in den
anderen Laendern an eine Haeuserwand gemalt hatten. Waehrend der
Bestattung von vier Opfern am naechsten Tag kam es zu neuer Gewalt von
Regierungsseite. Ab dem Zeitpunkt begannen Hunderttausende,
regelmaessig auf die Strasse zu gehen. Schwerpunkte der Proteste waren
und sind Baniyas, Homs, Hama und Vororte von Damaskus, aber es gibt
keine Region Syriens, wo keine Proteste stattfinden.

Die Regierung verfolgte anfaenglich die Strategie, durch hartes
Durchgreifen, gekoppelt mit politischen Konzessionen, der Lage Herr zu
werden. So trat am 29. Maerz 2011 die Regierung unter
Ministerpraesident Muhammad Nadschi al-Utri zurueck, und am 21. April
hob Assad den seit 1963 in Kraft befindlichen Ausnahmezustand auf. Im
Mai und Juni wurden zwei Amnestien fuer politische Gefangene erlassen;
im Januar 2012 folgte eine dritte. Im Juni-Juli 2011 kuendigte die
Regierung einen "Nationalen Dialog" an, der von der inlaendischen und
der auslaendischen syrischen Opposition jedoch als "Showveranstaltung"
abgelehnt wurde. 07 l Ausserdem billigte die Regierung Ende Juli einen
Gesetzesentwurf, der die Gruendung von politischen Parteien erlaubt,
und kuendigte fuer den 26. Februar 2012 ein Referendum ueber eine neue
Verfassung an. Diese Verfassung wurde in den vergangenen Monaten von
einem nationalen Komitee erarbeitet und soll den Weg zu einem pluralen
Staat oeffnen.( 8) Der Passus, der die regierende Baath- Partei
bislang als "Fuehrer der Nation und Gesellschaft" betitelte, wurde
nach Angaben der amtlichen Nachrichtenagentur Sana gestrichen.( 9) Die
Amtszeit des Praesidenten soll auf zweimal je sieben Jahre begrenzt
werden.

Seit Maerz 2011 ging die Gewalt gegen die Demonstrationen aber
ungebremst weiter; schon im Mai wurde von 1.000 Todesopfern
gesprochen. Im Juli 2011 beteiligten sich an einem Tag bis zu 3
Millionen Menschen an Protesten gegen das Regime. Auch spaeter im Juli
zaehlten einzelne Demonstrationen mehrere hunderttausend
TeilnehmerInnen.

Im Februar 2012 schien die Situation nach der an Russland und China
gescheiterten Resolution gegen Syrien im Weltsicherheitsrat weiter zu
eskalieren. Besonders die Stadt Homs, von Anfang an eine der
Hochburgen des Widerstands, ist zum Ziel des Versuches der Regierung
geworden, den Widerstand mit militaerischen Mitteln zu brechen; die
Opposition antwortete mit einem landesweiten Streikaufruf.

Die politische Landschaft der Aufstaendischen ist vielfaeltig, aber es
gibt keinen Zweifel, dass der Aufstand von Mitgliedern aus allen
religioesen und ethnischen Gruppen im Land mitgetragen wird. Auch
Angehoerige der Minderheit der Alawiten, deren Raengen Assad
entstammt, sind unter den Widerstaendlern zu finden.(10)

Nach einer Umfrage der Katar-Foundation im Januar 2012 "wollten 55
Prozent der Syrer, dass Assad bleibt - aber demnaechst auch freie
Wahlen organisiert".(11)

Die lokalen Buergerkomitees

Seit Beginn des syrischen Fruehlings im Maerz 2011 haben sich in
nahezu jeder syrischen Stadt lokale Buergerkomitees gegruendet.(12)
Sie sind die Haupttraeger der zivilen Demonstrationen. Die
Zusammensetzung der Komitees ist dabei regional sehr unterschiedlich.
So sind alle gesellschaftlichen Schichten, alle
Religionsgemeinschaften und Ethnien, Maenner wie Frauen vertreten. Es
gibt eher religioese und saekulare Komitees, solche, in denen vor
allem junge Menschen vertreten sind, und solche, in denen sich
bestimmte Berufsgruppen zusammen gefunden haben (etwa AnwaeltInnen).

Ungefaehr die Haelfte der rund 300 lokalen Komitees hat sich - bei
vielen Doppelmitgliedschaften - in zwei grossen Netzwerken
zusammengeschlossen, den Local Coordination Commitees of Syria (LCC)
(13) und der Syrian Revolution General Commission (SRGC) (14). Die
Netzwerke geben den Protesten eine Stimme nach aussen und sorgen durch
ihre intensive Pressearbeit dafuer, dass die Welt von dem Geschehen in
Syrien erfaehrt. Beide Netzwerke bekennen sich zum gewaltlosen
Widerstand gegen die Diktatur und legen ihre Aktionen entsprechend an.
So schrieben die Local Coordination Commitees in einer Erklaerung
letztes Jahr:

"Eine Militarisierung der Revolution wuerde die Unterstuetzung und
Beteiligung an der Revolution durch das Volk minimieren. ...
Militarisierung wuerde die Revolution in eine Arena tragen, wo das
Regime einen deutlichen Vorteil hat, und die moralische Ueberlegenheit
erodieren, die die Revolution seit ihren Anfaengen charakterisiert
hat."(15)

Neben den Protesten auf der Strasse organisieren die Netzwerke
Streiks, koordinieren dringende humanitaere Hilfe und stellen die
politische Vertretung der jungen Demokratiebewegung im neu
gegruendeten syrischen Nationalrat. Auch wenn die beiden Netzwerke
basisdemokratisch organisiert sind, so sind es insbesondere zwei
Frauen, die beide Netzwerke antreiben: Razan Zeitouhne, Anwaeltin aus
Damaskus und ausgezeichnet mit dem Menschenrechtspreis des
Europaeischen Parlaments, lebt seit Beginn des Aufstandes im
Untergrund und hat die LCC massgeblich mit aufgebaut. Suhair Atassi,
die die treibende Kraft in der SRGC ist, musste im Dezember 2011
Syrien aus Sicherheitsgruenden verlassen.

Nationale Zusammenschluesse der Opposition

Auf nationaler Ebene gibt es zwei Zusammenschluesse, die einen
Fuehrungsanspruch anmelden: Den Syrian National Council und das
National Co-ordination Committee.

Der Syrian National Council (SNC) (16) wurde Anfang Oktober 2011 in
der Tuerkei gegruendet und besteht ungefaehr zur Haelfte aus
Mitgliedern, die in Syrien leben, und zur Haelfte aus solchen im Exil.
Er hat sich eine Grundsatzerklaerung gegeben. Ihm ordnen sich auch die
beiden oben genannten Netzwerke der Lokalen Komitees zu und stellen
dort rund ein Drittel der Abgeordneten. Ausserdem sind im SNC die
Muslim-Bruederschaft und kurdische Gruppen vertreten. Sein Sprecher
ist der 67-jaehrige Burhan Ghalioun, ein in Paris an der Sorbonne
lehrender Sozialwissenschafter. Der SNC wird vom Assadfeindlichen
Ausland - den Golf-Emiraten, Saudi-Arabien, den USA und mehreren
EUStaaten - zunehmend als der legitime Repraesentant der syrischen
Opposition und als Exilregierung angesehen. Das politische Programm
des SNC, wie es in seiner Grundsatzerklaerung festgelegt wurde,
umfasst Menschenrechte, Unabhaengigkeit der Justiz, Pressefreiheit,
Demokratie und politischen Pluralismus. Die Charta betont das
Festhalten an der "Friedlichkeit der Revolution"(17), aber Mitglieder
des SNC haben sich in juengerer Zeit fuer eine Flugverbotszone
ausgesprochen, und es gibt Koordinierungsbemuehungen mit der Freien
Syrischen Armee (s. unten).(18)

Das National Co-ordination Committee (NCC)(19) wird von Hussein Abdul
Azim und anderen bekannten Dissidenten des Regimes geleitet. Zwischen
NCC und SNC gibt es Spannungen und Vorbehalte, u.a. wegen der
Mitgliedschaft der Muslimbruederschaft im SNC. Auch der NCC setzt sich
fuer einen friedlichen Wandel ein und hat sich gegen militaerische
Intervention von aussen ausgesprochen.

Freie Syrische Armee

Die Freie Syrische Armee entstand im August 2011 und wird von Riyad
al-Asad, einem frueheren Colonel in der Air Force, angefuehrt. Sie
rekrutiert sich in erster Linie aus desertierten Soldaten der
regulaeren syrischen Armee. Ueber ihre Staerke gibt es sehr
widerspruechliche Angaben; Medien sprechen von zwischen 1.000 und
25.000 Maennern in 22 Einheiten. Sie ist vor allem in der
nordwestlichen Pro- vinz Idlib, um die zentralen Staedte Homs und Hama
und um Damaskus herum aktiv. Anscheinend stammt der Grossteil ihrer
Ausruestung von der Armee - dadurch, dass die Deserteure ihre Waffen
mitbringen oder geruechteweise auch, dass sie der Armee abgekauft
werden.(20) Es gibt auch Informationen ueber Waffenhilfe aus der
Tuerkei und dem Irak (21); Auch wird auf das Einsickern von Kaempfern
aus Libyen zusammen mit Waffen und auf Aktivitaeten auslaendischer
Geheimdienste hingewiesen. Zum Teil sollen sich Banden gebildet haben,
die sich auch gegen Teile der Zivilbevoelkerung wenden.(22) Gesichert
scheint zumindest, dass diese Nachbarlaender (Tuerkei, Libanon,
Jordanien) als Rueckzugsgebiete genutzt werden. Die Freie Syrische
Armee verfuegt (bislang) ueber keine schweren Waffen bzw. setzt diese
nicht ein; sie sieht ihre Aufgaben in der Bekaempfung des
Assad-Regimes und in dem bewaffneten "Schutz" der zivilen
Demonstrationen.

Interessen von aussen

Im Februar 2012 blockierten China und Russland eine
UN-Sicherheitsrat-Resolution zu Syrien, weil u.a. beide Staaten keinen
zweiten Fall Libyen zulassen wollten, wo vermutlich bis zu 50.000
Menschen ihr Leben in einem mehrmonatigen Krieg zwischen Gaddafi-
Truppen und von der NATOunterstuetzten Aufstaendischen verloren
haben.(23) Auf den ersten Blick sind die Parallelen zur
NATOIntervention in den Kosovokonflikt augenfaellig - auch dort hatte
Russland eine UNResolution verhindert, aber die NATO entschied sich -
voelkerrechtswidrig - trotzdem fuer einen Angriff. Vernuenftigerweise
scheint die sog. internationale Gemeinschaft im Moment nicht bereit zu
sein, diese Option ernstlich in Betracht zu ziehen. Die Diskussion um
eine internationale Intervention konzentriert sich in erster Linie auf
die Verhaengung und Durchsetzung eines Flugverbots - also eher um das
"Modell Libyen" als das "Modell Kosovo". Dies ist eine Forderung, die
auch aus Kreisen der syrischen Opposition zu hoeren ist, trotz
frueherer Erklaerungen, dass man eine internationale Einmischung auf
keinen Fall wolle und trotz des Bekenntnisses zur Gewaltlosigkeit der
Proteste. Das Kalkuel hinter einem solchen Flugverbot ist in erster
Linie, dass ein solches Flugverbot der Freien Syrischen Armee
ermoeglichen wuerde, ihre Aktivitaeten auszuweiten, schwerere Waffen
einzusetzen und nach dem Vorbild Libyens befreite Zonen zu schaffen
und erfolgreich zu verteidigen, von denen aus dann der Buergerkrieg
nach Damaskus getragen werden koennte. (24)

Nach dem Scheitern einer Beobachtermission der arabischen Liga wurde
in Diplomatenkreisen der Vorschlag untersucht, ob eine groessere
internationale UN-Blauhelm- Mission - unterstuetzt von russischen und
westlichen diplomatischen Bemuehungen - die Eskalation hin zu einem
massiven Buergerkrieg noch eindaemmen koennte. (25) Nachdem die
Regierung Assad einen entsprechenden Vorstoss der Arabischen Liga in
der zweiten Februarwoche ablehnte, ist es eher unwahrscheinlich, dass
eine solche konsensuale Mission (also nicht nach Kapitel VII der
UNCharta, sondern mit Zustimmung des betroffenen Staates stationiert)
zustande kommt.

Offen ist bei diesen Diskussionen die Frage, wie verhindert und
begrenzt werden kann, dass andere Staaten nicht auf dem Ruecken der
Opfer des Konfliktes in Syrien ihre handfesten Interessen austragen,
in dem sie die eine oder andere Seite militaerisch unterstuetzen und
dieser zum Sieg verhelfen.

Die Interessen der US-Regierung, zahlreicher EU-Regierungen, der
israelischen Fuehrung wie den Fuehrungen einiger sunnitischer
arabischer Staaten wie Saudi-Arabien oder Katar liegen auf der Hand:
Durch den Sturz von Baschar al-Assad soll der wichtigste Verbuendete
Irans und der Hizbollah beseitigt werden, jene Regierung also, die
Waffen aus dem Iran durch Syrien an die Hizbollah seit Jahren
passieren laesst - und damit dafuer gesorgt hat, dass die israelische
Regierung die iranischen Atomanlagen nicht angreifen kann, ohne selbst
einem massiven Raketenhagel aus dem Libanon ausgesetzt zu sein.

Die russischen Interessen sind ebenfalls offensichtlich: Russland
unterhaelt mit dem syrischen Hafen Tartus den einzigen Mittelmeer-
Stuetzpunkt, der von russischen Kriegsschiffen angefahren werden kann.
Russland kann ueber Syrien als einem zentralen Verbuendeten seine
Interessen in der Region wahren und versucht daher, den Sturz Assads
zu verhindern.

Grosse Teile der Christen in Syrien, die 10 Prozent der Bevoelkerung
ausmachen, unterstuetzen ebenso wie die 10 Prozent Alawiten, welche
die Fuehrungsraenge in der Armee besetzen, nach wie vor mehrheitlich
Baschar al- Assad und gehen auch fuer ihn auf die Strasse. Sie
befuerchten, nach dem Sturz Assads und freien Wahlen unter die Raeder
der muslimischen Bevoelkerungsmehrheit zu kommen.

Angesichts der Ablehnung einer Blauhelmmission durch die
Assad-Regierung und des zu vermutenden Widerstandes Russlands und
Chinas gegen einen entsprechenden Vorstoss im Weltsicherheitsrat ist
eine Militaerintervention weiterhin nicht auszuschliessen. Am
wahrscheinlichsten scheint aber, dass die internationalen Gegner des
Assad-Regimes darauf setzen werden, die Freie Syrische Armee zu
unterstuetzen und es ihr zu ueberlassen, zusammen mit den zivilen
Oppositionsgruppen die Regierung zu stuerzen. Eine Perspektive, die
trotz der ungeheuren zahlenmaessigen militaerischen Ueberlegenheit des
Regimes nicht als unrealistisch einzustufen ist, da die Unterstuetzung
der Regierung, wie die wachsende Zahl von Deserteuren zeigt, erodiert.
Aber der Preis wuerde sehr hoch sein - ein solcher voll entbrannter
Buergerkrieg duerfte Zehntausende an Menschenleben kosten.

Option fuer zivile Konfliktbearbeitung und Gewaltfreiheit

Ziviler, gewaltloser Widerstand hat schon vielfach sein Potential
bewiesen. Vom indischen Unabhaengigkeitskampf ueber die Philippinen
1986, den Iran 1978, die Umstuerze in Osteuropa 1989 bis hin zu
Tunesien und Aegypten 2011 reicht die Reihe erfolgreicher ziviler
Aufstaende. Aber der "Mix" von zivilen und gewaltsam-militaerischen
Aktionsformen birgt die Gefahr weitergehender Eskalation. Der zivile
Widerstand baut auf seine moralische Autoritaet und seine vereinigende
und versoehnende Kraft, der sich auch Alawiten, andere Minderheiten
und selbst Profiteure des Regimes anschliessen koennen. Demgegenueber
fuehrt die Militarisierung zur Spaltung und einer weiteren
Brutalisierung des Konflikts, die den Wiederaufbau Syriens
jahrzehntelang behindern wird. Wie in Libyen waere der militaerische
Kampf in Syrien zudem der reinste Selbstmord fuer die Menschen im Land
und nicht ohne eine langwierige, noch mehr Opfer fordernde
Militaerintervention zu gewinnen. Trotz aller Opfer und Leiden im
heutigen Syrien bleibt der gewaltfreie Widerstand die einzig
vernuenftige Option. ###
*

Quelle: Dossier V -- Syrien zwischen gewaltfreiem Aufstand und
Buergerkrieg. Vorgelegt von Christine Schweitzer, Clemens Ronnefeldt,
Karl Grobe-Hagel und Andreas Buro;
http://www.koop-frieden.de/dokumente/dossier5.pdf
*

1 Ein Teil dieses Textes, verfasst von Christine Schweitzer, ist
bereits vom Bund fuer Soziale Verteidigung (www.sozialeverteidigung.de)
in seinen "Informationsblaettern" veroeffentlicht worden.

2 Angabe der Vereinten Nationen vom 28. Februar. (Quelle:
http://www.crisisgroup.org/~/media/Files/CrisisWatch/2012/cw1 03.pdf )
Andere Quellen geben hoehere oder niedrigere Ziffern an - die
Regierung spricht von 2.000 toten Soldaten; aus Kreisen des
Widerstands ist von mindestens 10.000 zivilen Opfern zu hoeren. Als
Krieg gilt in der Friedensforschung ein bewaffneter Konflikt dann,
wenn ein Konflikt pro Jahr mindestens 1.000 Opfer kostet (z.B. SIPRI).
Siehe BBC vom 6. Februar 2011,
http://www.bbc.co.uk/news/worldmiddle-east-16902819 und vom 1.
Februar, "Impasse at UN Security Council debate on Syria violence",
http://www.bbc.co.uk/news/worldmiddle- east-16825761.

3 Zahlen vom September 2011. Quelle: Spiegel-Online "2600 Menschen
starben beim Aufstand gegen Assad", 12. September 2011. Zu den
Fluechtlingen: 5.500 in Jordanien laut
http://www.irusa.org/press-releases/
islamic-relief-usa-to-assist-5500-syrianrefugees- in-jordan/;
4000 im Libanon laut
http://www.firstpost.com/topic/place/syria-syrian-refugees-struggle-in-lebanon-video-LOK7wPotnaM-15-1.html;
7.500 in der Tuerkei laut http://www.zakat.org/news_and_multimedia/campaign_news/syria/40_foot_container_filled_with_relief_supplies_shipped_to_syrian_refuge/
4 Quelle. Wikipedia unter Berufung auf Bassam Tibi: Die Verschwoerung:
Das Trauma arabischer Politik. Hoffmann und Campe, Hamburg 1993, S.
186-188

5 Quelle: Wikipedia, s.oben

6 Margret Johannson (2009) Der Nahostkonflikt, Wiesbaden, S. 109

7 SZ, 25.5.2010

8 Quelle: bbc.co.uk/news/world-middle-east-17040392 vom 15.2.2012

9 FR, 16.2.2012

10 Quellen: Wikipedia,
http://de.wikipedia.org/wiki/Aufstand_in_Syrien_2011/2012;
BBC: http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-13855203;
Erklaerung von Alawiten aus Homs Anfang Februar 2012:
http://www. lccsyria.org/category/statements

11 FR, 16.2.2012

12 Quelle: Website von Adopt a Revolution, www.adoptrevolution.org

13 http://www.lccsyria.org/, teilweise auf Englisch.

14 http://srgcommission.org/. Sie hat keine englischsprachige Website.

15 Khalil Habash, Protecting Syria's Revolt from Military
Intervention.
http://english.al-akhbar.com/content/protecting-syria%E2%80%99s-revolt-military-intervention.
Der Artikel wurde im Oktober 2011 verfasst; ein genaues
Datum der zitierten Erklaerung ist nicht angegeben. Uebersetzung: CS

16 http://www.syriannc.org/ Die bei Google angezeigte
englischsprachige Seite http://nationalcouncilofsyria.com/ wird von
den USA aus betrieben und ist nach unserer Kenntnis keine Seite des
SNC.

17 http://mar15.info/2012/01/press-releasesnc- political-program/

18 Karin Leukefeld, Krieg als Planspiel. Katar will arabische Armeen
in Syrien einmarschieren lassen. in: junge Welt, 16. Januar 2012,
http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Katar/syrien.html.

19 http://www.ncsyria.com/ (arabisch)

20 http://www.aljazeera.com/video/middleeast/2012/01/20121993012520680.html.
Der Preis eines Gewehres soll bei 2.000 USD, der von Munition bei 2 USD liegen.

21 BBC, s. oben

22 Escobar, Pepe: Das wandernde Auge: Ein Blick durch den Nebel um
Syrien, 9.2.2012, http://www.larsschall.com/2012/02/09/1776/

23 Die Zahlenangaben variieren stark und sind schwer zu verifizieren
(siehe New York Times ,
http://www.nytimes.com/2011/09/17/world/africa/skirmishes-flare-around-qaddafi-strongholds.html )

24 Emile Hokayem "Revolutionary Road: Dispatches from a changing
Middle East" - http://www.iiss.org/whats-new/iiss-voices/revolutionary-road/

25 Schon vor einigen Wochen gab es entsprechende Ueberlegungen. Siehe:
Karin Leukefeld, "Krieg als Planspiel",
http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Katar/syrien.html
Katar will arabische Armeen in Syrien einmarschieren lassen. Aus: junge
Welt, 16. Januar 2012



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