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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 18. April 2012; 04:05
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Kommentar:

> Jahrgang 1927

Ueber Guenter Grass und seine Generation

Vorweg: Guenter Grass hat vollkommen recht mit seiner Kritik am
Kriegsgetrommel der israelischen Regierung. Es gibt gute Gruende,
warum das Voelkerrecht auch dann Angriffskriege verpoent, wenn man sie
als "Praeventivverteidigung" zu definieren sucht. Und dass Grass wegen
seiner Kritik die Antisemitismuskeule treffen wuerde, wusste er selbst
schon im Vorhinein.

Aber mir geht es um etwas anderes: In fast jedem Kommentar dieses
allgemeinen Grass-Bashing-Gewitters, das in den letzten zwei Wochen
niedergegangen ist, wurde Grass' moralische Autoritaet in Zweifel
gestellt, indem man seine kurzzeitige Mitgliedschaft bei der Waffen-SS
wieder in Erinnerung brachte. Dazu passend gab es dann auch eine
"huebsche" Karikatur, die Grass mit Stahlhelm und SS-Rune am Revers
zeigt.

Preisfrage: Was haben Martin Walser, Siegfried Lenz, Dieter
Hildebrandt und Guenter Grass gemeinsam? Sie sind erstens ziemlich
gleich alt: Lenz ist Jahrgang 1926, die anderen 1927. Und man wirft
ihnen zweitens bisweilen vor, sie waeren in ihrer Jugend Nazis
gewesen.

Nunja, was Walser, Lenz und Hildebrandt angeht, so waren diese drei
irgendwo in Nazi-Akten 1944/45 als Parteimitglieder gefuehrt worden --
wenn man auch bei keinem der drei jemals eine Unterschrift auf einem
Beitrittsantrag gefunden hat. Alle drei bestreiten es, einen solchen
jemals unterzeichnet zu haben. Manche Historiker behaupten, ohne eine
solche Unterschrift waere man nicht in die Partei gekommen, andere
berichten von recht willkuerlichen Aufnahmen in den letzten
Kriegsmonaten. Hildebrandt vermutete ausserdem in einem Interview (1),
seine Mutter, eine ueberzeugte Nazi, haette fuer ihn unterschrieben.
Man weiss es nicht. Vielleicht haben die Betroffenen die Sache auch
vollstaendig verdraengt -- was ja wirklich kein Wunder waere.

Bei Guenter Grass verhaelt sich die Sache so, dass er ab 1944 fuer
wenige Monate in der Waffen-SS war, was er im hohen Alter selbst
"gestanden" hat. Aber auch das ist wohl etwas, worueber niemand gerne
spricht. Dass Grass dann doch noch darueber geredet hat, ohne
jeglichen Druck von aussen und wohl wissend, dass sich seine
politischen Feinde darauf stuerzen werden, ist aeusserst ehrenwert.

Und: Grass besteht darauf, zu dieser Einheit eingezogen worden zu
sein. Was uebrigens indirekt auch Hildebrandt bestaetigte, dem beinahe
dasselbe Schicksal widerfahren waere, haette er nicht rechtzeitig
davon erfahren, dass man dieser Einberufung nur entgehen konnte, wenn
man sich vorher noch schnell freiwillig zu einer anderen Waffengattung
meldete.

Ob diese damals sehr jungen Menschen wirklich ohne ihr Zutun in
Nazi-Organisationen kamen, wage ich nicht zu beurteilen. Aber was
hiesse es, wenn Walser, Lenz, Hildebrandt oder Grass damals
tatsaechlich NS-affin gewesen waeren? Welche Bedeutung haette das fuer
deren moralische Beurteilung? Keine!

Denn was bedeutete es damals in Deutschland, Jahrgang 1927 zu sein?
Das hiess, von der Einschulung bis zur Schwelle des Erwachsenseins
flaechendeckend unter Nazi-Indoktrination gestanden zu sein. Ja,
natuerlich, es gab Deutsche dieses Jahrgangs, die haben Widerstand
geleistet und denen gebuehrt groesste Hochachtung, aber erstens
braucht es da schon auch ein gewisses Umfeld, dass einem von klein auf
einen antifaschistischen Antidot liefert, und zweitens koennte ich von
mir auch nicht mit Sicherheit sagen, dass ich unter diesen Bedingungen
kein Faschist geworden waere. Also darf ich mich auch nicht zum
Richter aufschwingen, wenn Menschen mit dieser Biographie im Alter von
17 oder 18 Nazis gewesen waeren. Koennte man heute mit Gewissheit
Grass oder Hildebrandt nachweisen, dass sie damals an Hitler geglaubt
haetten -- ich haette damit kein Problem und wuerde nicht eine Sekunde
an ihrer heutigen antifaschistischen Gesinnung zweifeln. Denn die vier
literarisch Taetigen haben nach 1945 bewiesen, dass sie als Erwachsene
einen anderen Geist vertreten. Sie haben niemals auch nicht mit einer
Silbe das Naziregime geschoent -- im Gegensatz zu vielen anderen! Es
war nicht zuletzt Grass' Verdienst, die Geschichten dieser Zeit in
Erinnerung zu halten und vor allem Hildebrandts', das aus dieser Zeit
resultierende Denken aufs Schaerfste zu brandmarken. Denn darauf kommt
es an: Was sie nach 1945, als Erwachsene, gedacht und gesagt haben.

Man stelle sich selbst im Jahr 1945 vor: Du bist ein blutjunger
Mensch. Du hast gesehen, wie das System, dass dich gepraegt hat,
zerbrochen ist. Du hast vielleicht auch ein bisserl bei diesem System
mitgeholfen, zumindest aber dazu geschwiegen. Jetzt hast du mehrere
Moeglichkeiten: Du lebst in diesem Denken weiter und glorifizierst es
mit dem Aelterwerden als deine "goldene Jugendzeit". Oder: Du ziehst
einen Schlussstrich unter die Geschichte, weil du gesehen hast, dass
eben alles das verloren ist -- und spielst ab sofort aus purem
Opportunismus den Antifaschisten. Diese beiden Moeglichkeiten waren in
Deutschland wie Oesterreich sehr beliebt. Oder du ziehst einen anderen
Schlussstrich, einen der sagt: 'So! Nie wieder! Was passiert ist,
koennen wir nicht mehr aendern. Aber vielleicht koennen wir dafuer
sorgen, dass es nie wieder passiert!' Letzteres war die Methode von
wenigen -- einer davon war Guenter Grass.

Und dann beginnt man zu ueberlegen und erinnert sich, moment...,
Jahrgang 1927...? Da gab es doch noch einen Deutschen, der eine grosse
Karriere in der Oeffentlichkeit gemacht hat und von dem man einen
NSDAP-Eintritt 1944 dokumentiert hat. Aber von dem ist keine
grossartig antifaschistische Gesinnung nach 1945 bekannt. Der hat auch
in unseren Tagen noch bedenkenlos mit Leuten zusammengearbeitet, deren
Aussagen hart am Verbotsgesetz vorbeischrammen. Der war nie fuer eine
fortschrittliche Gesinnung bekannt. Ja, der ist jetzt Papst.

Manche junge Erwachsene von 1945 haben viel gelernt aus der
Geschichte, in der sie grossgeworden sind -- und manche eben weniger.
Das ist der Unterschied, der zaehlt. Und sonst nichts!
*Bernhard Redl*

*

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(1)
http://www.sueddeutsche.de/kultur/dieter-hildebrandt-im-interview-betruegerische-journalistische-arbeit-1.427657



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