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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 4. April 2012; 17:48
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Buecher:
> Ein Begreifen des Holocausts
Saul Friedlaender
Das Dritte Reich und die Juden
DTV, Muenchen 2008. 1317 Seiten
20,50 Euro
Kuerzlich nahm ich an einer Konferenz in Riga zum Thema "Die extreme
Rechte im Baltikum" teil. Um mich ueber den historischen background zu
informieren, las ich Friedlaenders Buch. Trotz einiger Schwaechen kann
man/ frau es als "Klassiker" auf diesem Gebiet einstufen.
Friedlaender naehert sich dem grauenhaften Leidensweg der Juden
Europas und dem schliesslichen Holocaust in zwei weitausholenden
analytischen Schritten: "Die Jahre der Verfolgung 1933-1945" bzw. "Die
Jahre der Vernichtung 1939-1945".
In der "Einleitung" fuer den zweiten Abschnitt (S.365ff) umreisst
Friedlaender seinen begrifflichen Rahmen. Obwohl er selbst fuer einen
"integrativen" Ansatz plaediert( S.368), spricht er sich schliesslich
fuer die herausragende Rolle der Ideologie aus (S.369).
Dies greift m.E. zu kurz bzw. gewichtet zu einseitig. Denn Ideologie
ist wandelbar. Den Nazis ging es vor allem um die Machteroberung/-
erhaltung. Dem wurde viel geopfert- insbesonders um anfaenglich im
Buendnis mit den Konservativen, der Reichswehr, Hindenburg zu sein.
Bekanntlich entledigte sich Hitler 1934 in der "Nacht der langen
Messer" Roehms und enthauptete damit die SA- seine frueheren
"Sturmtruppen".
Hitler hatte auch fuer den"Chefidelogen" Alfred Rosenberg wenig
uebrig. Fuer Lueger hingegen, der den Antisemitismus "in grossem Stil"
funktional einsetze und damit reuessierte gibt es in " Mein Kampf"
dicke Elogen. Eine andere Sache ist es - zu recht - die RELATIVE
Autonomie des moederischen Antisemitismus der Nazis zu unterstreichen.
Um es auf den Punkt zu bringen: die Todeszuege rollten weiter- ja mehr
denn je!- in die Vernichtungslager- auch wenn es fuer die Erhaltung
der Nazi- Herrschaft "rationaler" gewesen waere Juden "kriegswichtig
einzusetzen"- davon weiter unten.
Die Nazis konnten auf einem breiten, historisch gewachsenen Sockel des
Judenhasses aufbauen - etwa dem christlichen Antijudaismus. Der
Uebergang des Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium, die
Revolutionen am Ende des Ersten Weltkriegs, die Umbrueche in
Osteeuropa und der damit verbunde Exodus vieler "Ostjuden" sowie die
Fragilitaet der Weimarar Republik fuehrten zu einer dramatischen
Verschaerfung des Antisemitismus.
Von Anfang an war fuer die Braunen die Hetze gegen "den" Juden
zentral. Aber deren konkrete Handhabung war durchaus "taktisch"
wandelbar, flexibel - um etwa - wie oben skizziert - mit den
traditionellen Eliten ins politische Geschaeft zu kommen.
Nach der Machteroberung 1933 (ohne Umsturz! - sondern durch Uebergabe
der Macht durch die fuehrenden Kraefte der Bourgeoisie) gibt es eine
gewaltige Steigerung der "Massnahmen" gegen Juden: zunehmend
gewaltaetige Uebergriffe, Absonderung, Nuernberger Rassengesetze,
"Judenstern" etc.
Mit dem Ueberfall auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges
kommt es zu einem neuerlichen, qualitativen Sprung: ein Grossteil der
polnischen Intelligenz wird umgebracht, fuer die Juden enstehen
Ghettos - diese wieder werden "dezimiert", verlegt, "geraeumt",
schliesslich der "Vernichtung" zugefuehrt.
Aufbauend auf den "Erfahrungen" mit der Euthanasie kommen die ersten
Gaswaegen. Schliesslich entstehen riesige Vernichtungslager, in denen
mit Akribie systematisch gemordet wird. Spezielle Staebe erledigen das
blutige Geschaeft, willige HelferInnen aus den besetzten Laendern
leisten breite "Zuarbeit (z.B.in den baltischen Laendern oder der
Ukraine).
Aber auch nach Stalingrad geht das systematische Hinschlachten
ungebrochen weiter, erfaehrt sogar noch Steigerungen. Exemplarisch sei
hier auf das Horror-Schicksal der ungarischen Juden verwiesen. Bis zum
bitteren Ende 1945 geht das systematische Morden weiter.
Es gibt also eine relative Autonomie des gewalttaetigen
Antisemitismus, eine Verselbstaendigung. Das Morden ist als PROZESS,
als interaktives Handeln und Wirken zu verstehen. Die permante
Aufschaukelung erfolgt ueber "Fuehrerbefehle", Wannsee-Konfererenz
usw. und gleichzeitig vorauseilendem Gehorsam - eigener statt
angeordneter Agression - etwa nach dem "Anschluss"Oesterreichs
1938.Wie Friedlaender festhaelt:"Selbst Hitlers moerderische Wut ...
lassen nicht darauf schliessen, dass es in den Jahren vor dem
Einmarsch in die Sowjetunion Planungen fuer eine totale Vernichtung
gab"(S.15).
Nur in der Zusammenschau der Einzelschritte ist ein Begreifen des
Nationalsozialismus im allgemeinen und des Holocaust im besonderen
moeglich. Saul Friedlaenders Buch liefert dazu einen ganz
entscheidenden Beitrag.
*Hermann Dworczak*
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