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  akin-Pressedienst.
  Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 21. Maerz 2012; 00:36
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  Debatte:
  
  > Sex im Kapitalismus
  
  Die Aufloesung sexueller Normen?
(Gekuerzte Version eines Essays von Nora Brandes. 
  Volltext: http://www.slp.at/artikel+M5a91911b3b5.html)
 
  Postmoderne WissenschaftlerInnen behaupten gerne, dass heute im 
  Sexualleben keine Zwaenge mehr bestehen wuerden. Durch die 
  Entkoppelung von Fortpflanzung und Sexualitaet durch moderne 
  Verhuetungsmittel sei heute Raum fuer viele verschiedene 
  Sexualpraktiken entstanden. Ein paar Fesselspiele wuerden heute ins 
  sexuelle Standardprogramm gehoeren und durch die Aufloesung 
  eindeutiger sexueller Identitaeten koenne heute jedeR seine/ihre 
  sexuelle Orientierung offen ausleben. So gelehrt dies klingen mag - es 
  ist einfach Bloedsinn. Denn trotz teilweise gewandelter 
  Sexualitaetsbilder, der Verfuegbarkeit von Verhuetungsmitteln und der 
  Tatsache, dass es neben der heterosexuellen Paarbeziehung auch andere 
  Lebensformen gibt, ist die Definition dessen, was Sexualitaet ist, 
  weiterhin stark beschraenkt und das Sexualleben grossen Normen 
  unterworfen.
  
  Nichtbeachtung weiblicher Beduerfnisse
  
  Das faengt schon bei der Definition von Sex an. Wenn in Filmen oder 
  Buechern Sexszenen vorkommen, dann ist der Sex immer mit der 
  (heterosexuellen) Penetration verbunden. Verhuetung als 
  selbstverstaendlicher Teilaspekt von Sexualitaet kommt dabei nie vor - 
  und wird somit implizit als Gegenteil von erfuelltem Sex dargestellt. 
  Dass aber Studien zeigen, dass 62 Prozent aller Frauen durch vaginalen 
  Verkehr alleine keinen Orgasmus bekommen koennen[1], wird dabei in der 
  Regel voellig ausgeblendet. Stattdessen suggerieren die meisten 
  Sexszenen in Filmen und Buechern, dass sowohl der Mann, als auch die 
  Frau (meist auch noch gleichzeitig) durch vaginalen Geschlechtsverkehr 
  zum Hoehepunkt kommen koennten. Dass es daneben aber noch viele andere 
  Sexualpraktiken gibt, kommt meist nicht vor. Sex wird so in der 
  Populaerkultur und im Alltagsverstaendnis mit (heterosexueller) 
  Penetration gleichgesetzt. Das spiegelt einerseits eine heterosexuelle 
  maennliche Perspektive auf Sex wieder, denn Maenner haben von ihrer 
  biologischen Disposition in der Regel seltener Probleme, bei der 
  Penetration einen Orgasmus zu bekommen. Gleichzeitig zeigt sich hier 
  aber auch eine Verengung von Sexualitaet auf den Fortpflanzungsaspekt, 
  denn nur durch eine (heterosexuelle) Penetration koennen auch Kinder 
  gezeugt werden.
  
  Der aktuelle Aufklaerungsfilm "Sex we can"[2], der Bestandteil des 
  "Sexkoffers" ist, den LehrerInnen fuer den Aufklaerungsunterricht in 
  der Schule zur Verfuegung gestellt bekommen, ist ein gutes Beispiel 
  fuer die gaengigen Definitionen von Sexualitaet. Sexualitaet und 
  Verhuetung werden hier am Beispiel einer heterosexuellen Paarbeziehung 
  thematisiert. Unter anderem kann man im Film erfahren, dass 50 Prozent 
  aller Frauen beim Sex keinen Orgasmus bekommen koennten. Anstatt die 
  gaengige Definition von Sex in Frage zu stellen, die offensichtlich 
  nicht an den weiblichen Beduerfnissen nach sexueller Befriedigung 
  ausgerichtet ist, wird die Haelfte aller Frauen als "ausserhalb der 
  sexuellen Norm" dargestellt.
  
  Interessant ist in diesem Zusammenhang die Geschichte der Klitoris: Im 
  Mittelalter ging man noch davon aus, dass die Klitoris eine wichtige 
  Funktion bei der Zeugung von Kindern habe. Folglich wurde die Klitoris 
  erforscht und es wurde ihr grosse Aufmerksamkeit zuteil. Als man dann 
  spaeter herausfand, dass die Klitoris "nur" sexuelle Lust verschaffe, 
  wurde die Bedeutung und Funktion der Klitoris in der medizinischen 
  Forschung einfach ignoriert.[3]
  
  Die Verengung von Sex auf die Penetration fuehrt auch dazu, dass 
  sexuelle Handlungen, die auf die Stimulierung der Klitoris abzielen, 
  "nur" als "Vorspiel" vor dem eigentlichen Sex, verstanden als 
  Penetration gelten. Das erste Mal bleibt fuer viele Maedchen ein 
  schmerzhaftes Erlebnis in Erinnerung, bei dem sie keinerlei sexuelle 
  Lust verspueren. Viele Maedchen fragen sich dann, ob ihr Koerper 
  "normal" sei und, ob sie irgendetwas "falsch" gemacht haetten. Dabei 
  sind diese Erfahrungen nur Ergebnis des normativen "Zwangs" zur 
  Penetration und der Nichtbeachtung weiblicher Beduerfnisse im 
  alltaeglichen Verstaendnis von Sex.
  
  Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Sexualitaet
  
  Gleichgeschlechtliche Sexualitaet kommt in "Sex we can" so gut wie gar 
  nicht vor. Homosexuell orientierte Jugendliche koennen dadurch auch 
  nicht erfahren, was sie zur Vermeidung von Infektionsansteckungen tun 
  muessen. Ausserdem wird damit die heterosexuelle Norm zementiert und 
  gleichgeschlechtlicher Sex nicht als gleichwertige Variante akzeptiert 
  und nicht fuer Diskriminierungen homosexueller Menschen 
  sensibilisiert. Auch das ist kein Zufall und entspricht gaengigen 
  Sexualitaetsvorstellungen. Waehrend sexuelle Handlungen, die auf die 
  Stimulierung der Klitoris abzielen als "nicht echter" Sex abgewertet 
  werden, wird gleichgeschlechtlicher Sex gemeinhin als "pervers" 
  abgetan. Die lange Geschichte gesetzlicher Massnahmen gegen diese 
  Gruppe macht deren Diskriminierung auch gesetzlich greifbar. Unter 
  Maria Theresia wurde Homosexualitaet noch mit der Todesstrafe 
  geahndet. Obwohl die Todesstrafe spaeter abgeschafft wurde, war 
  Homosexualitaet bis 1971 gesetzlich verboten und wurde mit schwerem 
  Kerker bis zu fuenf Jahren geahndet. Begruendet wurde die 
  Diskriminierung als "Unzucht wider die Natur mit Personen desselben 
  Geschlechts" - also mit biologistischen Begruendungen, was biologisch 
  "natuerlich" und was "unnatuerlich" sei.
  
  1971 fiel das generelle Verbot gleichgeschlechtlicher Beziehungen. 
  Trotzdem bestanden Diskriminierungen weiter fort, u.a. das Verbot fuer 
  homosexuelle Maenner, eine Beziehung miteinander einzugehen, wenn ein 
  Partner unter 18 Jahren war, waehrendem fuer heterosexuelle und 
  lesbische Beziehungen ein Mindestalter von 14 Jahren galt (§ 209). 
  Dass homosexuelle Maenner hier gesondert diskriminiert werden, haengt 
  damit zusammen, dass homosexuelle Beziehungen unter Frauen ohnehin nie 
  so ernst genommen wurden wie homosexuelle Beziehungen unter Maennern. 
  So hiess es in der Begruendung der Regierung dazu, dass bei weiblichen 
  homosexuellen Beziehungen ohnehin nicht zwischen sexuellen Handlungen 
  und Koerperpflege unterschieden werden koenne. Da hier per se keine 
  Penetration stattfinden kann, wurden lesbische Beziehungen nicht ernst 
  genommen - ganz nach dem Motto: Wo keine Penetration stattfindet, kann 
  es sich nur um Koerperpflege handeln. Aus demselben Grund wurden 
  uebrigens im Nationalsozialismus homosexuelle Maenner per Gesetz 
  verfolgt, waehrend es fuer homosexuelle Frauen keine derartige 
  Bestimmung gab.
  
  Der § 209 wurde in Oesterreich jedenfalls erst im August 2002 (!) 
  abgeschafft - und zwar nur deshalb, weil ein 17-jaehriger schwuler 
  Jugendlicher vor dem Europaeischen Menschenrechtsgerichtshof geklagt 
  hatte. § 209 wurde durch den geschlechtsneutral formulierten § 207b 
  ersetzt. Trotzdem werden unter diesem Paragraphen weiterhin in erster 
  Linie homosexuelle Maenner verurteilt.
  
  Diskriminierung "abweichender" Sexualpraktiken
  
  Aber nicht nur gleichgeschlechtliche Sexualitaet wird bis heute 
  diskriminiert, sondern ueberhaupt alle Sexualpraktiken, die vom 
  gaengigen Sexualitaetsbild abweichen und Sexualitaet von seiner 
  Fortpflanzungsfunktion abkoppeln. Bis heute wird alles, was 
  Sexualitaet in erster Linie mit Lust verbindet, als anruechig gesehen. 
  So ist es auch nicht verwunderlich, dass Masturbation bis heute mit 
  dem Schimpfwort "Wichser" belegt ist, gleichgeschlechtliche Maenner 
  als "schwule Sau" beschimpft werden und Lesben mit dem Vorwurf der 
  Frigiditaet konfrontiert sind, weil sie sich sexuell nicht fuer 
  Maenner interessieren.
  
  Dabei entspricht die Diskriminierung "abweichender" Sexualpraktiken 
  ueberhaupt nicht der Realitaet. Schon der in den spaeten 1940er und 
  fruehen 1950er Jahren in den USA publizierte Kinsey-Report hatte ein 
  Auseinanderklaffen zwischen sexuellen Wuenschen und Praktiken auf der 
  einen Seite und sexuellen Normen auf der anderen Seite gezeigt. Der 
  Sexualwissenschaftler Alfred Charles Kinsey veroeffentlichte darin 
  Befragungen, die u.a. ergaben, dass zwischen 90 und 95 Prozent der 
  Bevoelkerung bis zu einem gewissen Grad bisexuell ist, Masturbation 
  ein weit verbreitetes Phaenomen ist und "abweichende" Sexualpraktiken 
  wie BDSM[4] weiter verbreitet sind, als man angenommen hatte.
  
  Familie und die Re/Produktion der Ware Arbeitskraft
  
  Doch warum eigentlich dieses grosse Problem damit, Sex jenseits der 
  heterosexuellen Penetration anzuerkennen? Warum die Abwertung der 
  weiblichen Sexualitaet, die jahrhundertelange Verfolgung 
  Homosexueller, der verkrampfte Umgang mit Masturbation, die Ambivalenz 
  im Umgang mit BDSM? All diese Bereiche haben miteinander gemein, dass 
  sie Sexualitaet von der Fortpflanzung losloesen und die sexuelle Lust 
  in den Vordergrund stellen. Mit der Verbindung von Sex und Lust hatte 
  nicht nur die Kirche schon immer Probleme. Die lustbetonte Perspektive 
  auf Sex stellt auch die Grundfeste des Kapitalismus in Frage, dass 
  Sexualitaet in erster Linie in der (heterosexuellen) Familie 
  stattzufinden hat. Mit Familie sind damit nicht nur verheiratete 
  Menschen mit Kindern gemeint, sondern auch die wachsende Zahl an 
  unverheirateten Paaren mit Kindern.
  
  Die Funktion der Familie im Kapitalismus ist seit jeher die der 
  Produktion und der Reproduktion der Ware Arbeitskraft. Damit ein 
  Mensch in der Fabrik "funktionieren" kann, muss er verkoestigt, 
  gekleidet und gepflegt werden. Traditionell war das die Rolle der 
  Frau. Und auch heute sind es in erster Linie Frauen, die diese 
  unbezahlte Arbeit verrichten. Das ist fuer den Staat sehr effizient, 
  denn er erspart sich eine Menge Geld dadurch, dass er diese Arbeit nur 
  teilweise ausgelagert (z.B. in Form von Krankenhaeusern und 
  Altersheimen) anbieten muss. Gleichzeitig ist es die Funktion der 
  Familie, Arbeitskraefte zu produzieren, d.h. Kinder zu zeugen und sie 
  aufzuziehen - was wiederum zumeist die Aufgabe von Frauen ist. Die 
  Familie versorgt so die kapitalistische Oekonomie mit neuen 
  Arbeitskraeften. Die Sorge um den "demografischen Wandel" zeigt dies 
  sehr deutlich: So kommen aus Politik und Wirtschaft in regelmaessigen 
  Abstaenden sorgenvolle Kommentare darueber, dass der Wirtschaft 
  aufgrund der sinkenden Geburtenrate die Arbeitskraefte ausgehen 
  wuerden. Angesichts der existierenden Arbeitslosigkeit erscheint das 
  jedoch wenig realistisch. Die eigentliche Sorge dreht sich daher in 
  erster Linie um Kinder aus besser gebildeten Haushalten, die als 
  Fachkraefte besonders verwertbar sind. Denn hier - so die Annahme von 
  Politik und Wirtschaft - sei die Mutter aufgrund ihres Bildungsstands 
  in der Lage, ihren Kindern eine gute Bildung zu vermitteln und ihnen 
  bei Problemen bei den Hausaufgaben zu helfen. Darueber hinaus koennen 
  besserverdienende Eltern sich fuer ihre Kinder eine Nachhilfe leisten. 
  Diese Annahme verweist darauf, dass im Kapitalismus die Familie auch 
  als Bildungsinstitution, die auf der unbezahlten Arbeit vor allem von 
  Frauen basiert, eingeplant ist. Deshalb wird die sinkende Geburtenrate 
  insbesondere der besser gebildeten Frauen als zentrales Problem 
  aufgefasst. Anstatt von staatlicher Seite mehr Geld in die Bildung zu 
  investieren um allen Kindern gleiche Chancen zu ermoeglichen, wird 
  sozial unterprivilegierten Eltern, die ihren Kindern aufgrund 
  mangelnder Ressourcen keine gute Bildung vermitteln koennen, 
  mangelndes Bildungsbewusstsein unterstellt.
  
  Lebensformen, die Sexualitaet nicht mit Fortpflanzung, sondern mit 
  Lust verbinden, stellen jedenfalls die Funktion der Familie als Ort 
  der Produktion und Reproduktion von Arbeitskraeften in Frage. Bei 
  homosexuellen Paaren ist ploetzlich nicht mehr klar, welcher Part die 
  unbezahlte Haus- und Fuersorgearbeit zu uebernehmen hat. Eine 
  selbstbestimmte weibliche Sexualitaet stellt die untergeordnete Rolle 
  der Frau in der Familie in Frage. Wenn Fortpflanzung nicht mehr im 
  Mittelpunkt von Sexualitaet steht, wird die Rolle der Familie als 
  Produzentin von neuen Arbeitskraeften fuer die Wirtschaft in Frage 
  gestellt. Darin liegen die Ursachen fuer die enge Normierung von 
  Sexualitaet im Kapitalismus, die trotz teilweise gewandelter 
  Lebensformen weiterhin existent ist. In dieser Koppelung von 
  Sexualitaet und Familie liegt auch begruendet, warum Vergewaltigung in 
  der Ehe bis 1989 (!) kein Strafbestand war. In diesem Zusammenhang ist 
  auch interessant, dass sexuelle Verweigerung und "Verletzung der 
  Treuepflicht" auch heute noch Gruende sind, um eine Ehe schuldig zu 
  scheiden. Anstatt die Regelung solcher Fragen den EhepartnerInnen zu 
  ueberlassen, schreibt der Staat hier eine sexuelle Norm vor.
  
  Die Norm der (heterosexuellen) Paarbeziehung
  
  Promiskuitaet (= sexuelle Freizuegigkeit) und offene Beziehungsmuster 
  werden oft abgewertet bzw. nur fuer einen bestimmten Lebensabschnitt 
  als normal erachtet. Jugendlichen wird heute durchaus in einem 
  gewissen Rahmen das Ausprobieren ihrer eigenen Sexualitaet 
  zugestanden. Gleichzeitig dominieren auch hier sexistische 
  Bewertungen, die dies Maennern eher zugestehen als Frauen. Maenner, 
  die sexuell experimentierfreudig sind, werden als "tolle Hengste" oder 
  "Weiberhelden" bezeichnet, Frauen, die dasselbe tun, gelten gemeinhin 
  als "Schlampe" oder "leichtes Maedchen". Wenn eine Frau sexuell 
  experimentierfreudig ist, heisst es sie sei "leicht zu haben". Dabei 
  wird suggeriert, dass sie ein sexuelles Objekt sei, auf das Maenner 
  leichten Zugriff haetten. Bei Maennern wird hingegen in der Regel 
  davon ausgegangen, dass sie selbstbestimmt ihre Sexualitaet ausleben 
  wuerden und sich die Frauen "waehlen" wuerden, mit denen sie ins Bett 
  gehen wollen. Das spiegelt auch wieder, dass die Monogamie in erster 
  Linie fuer Frauen gilt, waehrendem es bei Maennern viel eher geduldet 
  wird, wenn sie das nicht so streng nehmen.
  
  Trotz aller Unterschiede, die hier zwischen Maennern und Frauen 
  gemacht werden, wird ab einem gewissen Alter davon ausgegangen, dass 
  nun eine Familie gegruendet werden muesse. Schon der Begriff des 
  "Singles" suggeriert, dass Menschen ohne feste sexuelle Partnerin bzw. 
  festen sexuellen Partner einsam waeren. Und die Bezeichnung 
  "kinderlos" suggeriert, dass solchen Menschen etwas fehlen wuerde. 
  Menschen, die auch nach einem Alter von 30 Jahren in einer 
  Wohngemeinschaft wohnen seien "nicht erwachsen" geworden. Menschen, 
  die keine Kinder und wechselnde PartnerInnen haben, seien 
  "hedonistische Singles", die nur an ihrem eigenen Ego interessiert 
  seien. Und offene Beziehungen wuerden ohnehin nicht funktionieren, 
  weil Eifersucht ja etwas voellig "natuerliches" sei. All dies sind 
  gaengige Klischees, die zeigen, dass als Ort, an dem Sexualitaet 
  ausgelebt wird, die (heterosexuelle) romantische Paarbeziehung 
  erachtet wird. Auch wenn heute aus vielen Partnerschaften keine Kinder 
  mehr hervorgehen, ist diese Beziehungsform nach wie vor nahezu 
  unumstritten und wird mit Besitzanspruechen auf den/die PartnerIn 
  legitimiert. Und auch wenn es heute viele Alleinerziehende gibt, gilt 
  auch fuer diese, dass sie entweder keinen Partner bzw. keine Partnerin 
  haben, oder nach der Trennung eine neue Paarbeziehung eingehen. Auch 
  rechtlich wird die (heterosexuelle) Paarbeziehung gestuetzt. So ist es 
  zum Beispiel unmoeglich, die Obsorge fuer ein Kind auf mehr als zwei 
  Elternteile zu uebertragen. Die Vorstellung, dass genau zwei Eltern 
  die "richtige" Anzahl an Bezugspersonen fuer ein Kind seien, 
  legitimiert solche Regelungen.
  
  Die Vorstellung, dass Sexualitaet nur in der Paarbeziehung mit einem 
  Menschen ausgelebt werden soll, fuehrt dann nicht nur dazu, dass 
  Abweichungen von dieser Norm als "Seitenspruenge" oder "Treuebrueche" 
  bezeichnet werden. Durch die Norm der Paarbeziehung wird genau 
  geregelt, wen man unter welchen Umstaenden umarmen oder kuessen darf. 
  Diese Verhaltensregeln machen einen willkuerlichen Unterschied 
  zwischen "Freundschaft" und "Liebesbeziehung". Waehrend "Freunde" 
  einander koerperlich nicht zu stark nahe kommen duerfen, sind 
  Zaertlichkeiten bei einer "Liebesbeziehung" akzeptiert. Anstatt 
  menschliche Beziehungen als komplexe Verhaeltnisse zu erfassen, die 
  individuell unterschiedlich eine ganze Reihe verschiedener verbaler, 
  koerperlicher oder sonstiger Handlungen umfassen, werden in diesem 
  Konzept menschliche Beziehungen in die Schubladen "Liebe" oder 
  "Freundschaft" gepresst.
  
  Interessant erscheint in diesem Zusammenhang auch die Anruechigkeit, 
  mit denen Swingerclubs belegt werden. Wenn Menschen sich aus freien 
  Stuecken zur Auslebung ihrer sexuellen Wuensche treffen und dabei mit 
  mehreren Personen Sex haben, gilt dies als unanstaendig. Demgegenueber 
  wird der Bordellbesuch eines Mannes viel eher toleriert: Hier zahlt 
  der Mann fuer eine kommerzielle Dienstleistung, die die Paarbeziehung, 
  die er mit seiner Freundin fuehrt, nicht grundsaetzlich in Frage 
  stellt. Die Prostitution ist so einerseits oft ein Zeichen dafuer, 
  dass viele Paarbeziehungen ueberhaupt nicht funktionieren. 
  Andererseits erhaelt die Prostitution so manche Ehe oder Partnerschaft 
  am Leben, da der Mann sich hier "Abwechslung" sucht. Denn die Ehe oder 
  Familie wird - im Kontrast zum Bordellbesuch - als "lustloser" Ort 
  angesehen, an dem sexuelle Wuensche nicht ausgelebt werden koennen. 
  Ein Bordellbesuch wird deshalb von vielen Frauen eher toleriert als 
  ein "Seitensprung", denn hier geht es um die Inanspruchnahme einer 
  "geschaeftsmaessig" erbrachten Leistung, die das Konzept der 
  Liebesbeziehung weniger in Frage stellt. Was fuer den Mann gilt, gilt 
  dabei nicht fuer Frauen. Ihre "Abwechslung" ist in diesem Konzept 
  nicht eingeplant - was wiederum auf die doppelboedige Moral gegenueber 
  promiskuitiven Frauen hinweist. Dass Prostituierte jedoch 
  gesellschaftlich geaechtet werden und als "unanstaendig" gelten, 
  spiegelt genau diese doppelboedige Moral zwischen "heiler Familie" und 
  Bordellbesuch wieder. Somit ist die Prostitution Ausdruck der 
  patriarchalen Institution der monogamen (heterosexuellen) Ehe bzw. 
  Partnerschaft.
  
  Die Vermarktung von Sexualitaet, neue Normen und Leistungsdruck
  
  Durch die in den 1970er Jahren angestossenen Liberalisierungen ist 
  Sexualitaet stark kommerzialisiert worden. Eine ganze Industrie 
  versorgt KundInnen mit teuren Sexspielzeugen, Fetischzubehoer und 
  Pornofilmen. Alleine die Pornoindustrie macht Milliardengewinne mit 
  ihrem Geschaeft. Und nicht nur fuer heterosexuelle, sondern auch fuer 
  homosexuelle Maenner bieten Prostituierte die Moeglichkeit, Sex zu 
  "kaufen". (Dass der Freier dabei immer maennlich ist, spiegelt auch 
  die patriarchale Struktur des Kapitalismus wieder.) 
  PartnerInnenboersen bieten die Moeglichkeit, potenzielle 
  SexualpartnerInnen per Annonce oder im Internet kennenzulernen. 
  Sexualitaet ist im Kapitalismus einer totalen Kommerzialisierung 
  unterworfen, Sex und die damit verbundenen Produkte und 
  Dienstleistungen werden als profitabler Markt erschlossen. Die 
  Vermarktung von Sexualitaet orientiert sich rein am Profitinteresse 
  der Unternehmen. KundInnen werden dabei nicht beruecksichtigt. Weder 
  sind Verhuetungsmittel gratis erhaeltlich sein, noch werden 
  Abtreibungen kostenlos durchgefuehrt. Eine bis heute nicht erfuellte 
  Forderung der Frauenbewegung ist die Abtreibung auf Krankenschein.
  
  Die Darstellung nackter Frauen ist heute nicht mehr verpoent. Im 
  Gegenteil: Werbung und Medien sind voll von sexualisierten 
  Darstellungen von Frauen. Frauen werden so als verfuegbare Sexobjekte 
  dargestellt, was ein Klima sexistischer Uebergriffe auf Frauen 
  befoerdert. Neue sexuelle Freiheiten, die Frauen sich erkaempft haben, 
  sind so marktfoermig "entschaerft" worden und Frauen sind mit dem 
  Zwang konfrontiert, "sexy" sein zu muessen. Der Sexismus und der damit 
  verbundene Leistungsdruck hat fuer die Zufriedenheit von Frauen mit 
  ihrem Sexualleben auch negative Auswirkungen. So ist belegt, dass 
  Frauen in der BRD mit ihrer Sexualitaet viel weniger zufrieden waren 
  als Frauen in der DDR. Zwar waren auch in der DDR in erster Linie 
  Frauen fuer Haushalt und Familie zustaendig, die hohe Erwerbsteilhabe 
  von Frauen und der Wegfall sexistischer Vermarktung von Sexualitaet 
  fuehrte jedoch dazu, dass die DDR-Frauen im Bett ihre Wuensche 
  selbstbestimmter artikulieren konnten und im Bett mit weniger Sexismus 
  konfrontiert waren.
  
  Bei der Kritik an der Vermarktung von Sexualitaet und am Sexismus, der 
  in dieser Vermarktung mitschwingt, geht es nicht um Pruederie. Im 
  Gegenteil: Auch in einer kuenftigen sozialistischen Gesellschaft soll 
  es Menschen freistehen, sich bei sexuellen Handlungen zu filmen und 
  das Filmmaterial anderen zur Verfuegung stellen, wenn sie dies tun 
  wollen. Solche Filme sollen dabei aber keine einseitigen und 
  frauenverachtenden Darstellungen von Sexualitaet bieten. Erst die 
  Befreiung der Pornoindustrie von der Profitmacherei bietet die 
  Moeglichkeit, dass sich jedeR Einzelne einbringen kann und viele 
  verschiedene Spielarten von Sexualitaet gleichberechtigt dargestellt 
  werden koennen. Fuer die Pornografie kann - so wie fuer die 
  menschliche Sexualitaet insgesamt - gesagt werden: Erst, wenn die 
  Menschen frei von oekonomischen Zwaengen und eingeengten Vorstellungen 
  von Sexualitaet ihre individuellen sexuellen Vorlieben ausleben 
  koennen und Sex keine Ware mehr ist, ist die Grundlage fuer eine 
  befreite Sexualitaet gelegt.
  
  Mit der Kommerzialisierung zusammenhaengend wird Sexualitaet - wie 
  auch alles andere im Kapitalismus - zunehmend vom Leistungsgedanken 
  und neuen Normen durchdrungen: Um als attraktiv zu gelten, darf der 
  Busen nicht "zu klein" sein, der Hintern soll flach sein, die 
  Schamlippen sollen rasiert sein, der Penis darf nicht "zu klein" sein. 
  Man muss "gut" im Bett sein, die "richtigen" Techniken beherrschen und 
  zum "richtigen" Zeitpunkt einen Orgasmus haben. Taeglich geben Bilder 
  in den Medien vor, wie oft in der Woche man Sex haben sollte, wie 
  viele Orgasmen man dabei haben sollte und wie viel sexuelle Erfahrung 
  man in welchem Alter bereits "vorweisen" sollte. Kein Wunder, dass 
  unter diesem Leistungsdruck viele Frauen beim Sex Orgasmen 
  vortaeuschen oder Maenner der Partnerin oft vorluegen, dass sie schon 
  viele sexuelle Erfahrungen gemacht haetten. Kein Wunder, dass 
  Jugendliche untereinander wetteifern, wer mit mehr PartnerInnen ins 
  Bett geht - ohne danach zu fragen, ob dies eigentlich wirklich 
  relevant ist. Kein Wunder, dass viele Frauen sich fuer eine Brust-OP 
  unters Messer legen lassen und Schamlippen-Operationen immer beliebter 
  werden. Dieser Leistungsgedanke schlaegt sich dann auch in der 
  staendigen Konkurrenz mit anderen SexualpartnerInnen nieder. Um den 
  begehrten Mann bzw. die begehrte Frau zu beeindrucken, muss man 
  "richtig" gekleidet sein, den "richtigen" Koerper haben, darf nicht zu 
  unterwuerfig, aber auch nicht zu abweisend sein. Die Anbahnung 
  sexueller Handlungen geraet so zu einem aufreibenden Strategiespiel, 
  an dessen Ziel so manch einem/einer der Spass am Sex vergeht...
  
  Hinzu kommt ausserdem noch, dass der permanente Stress in Schule, 
  Ausbildung und Arbeitsleben sich auch negativ auf das Sexualleben 
  auswirkt. Staendig muessen wir "funktionieren", Pruefungen bestehen, 
  im Erwerbsleben viel zu viel Arbeit in viel zu wenig Zeit bewaeltigen. 
  Erwerbslose muessen sich demgegenueber mit zunehmenden 
  Repressionsmassnahmen auseinandersetzen und sich Sorgen machen, wie 
  sie finanziell ueber die Runden kommen. Dieser Stress fuehrt dann auch 
  dazu, dass wir am Abend einfach nur noch erschoepft sind oder nicht 
  richtig abschalten koennen. Erhoehte sexuelle Lustlosigkeit ist nur 
  eine der vielen Auswirkungen von Stress auf unsere Stimmung und unsere 
  Gesundheit. Stress und Druck in Ausbildung und Erwerbsleben sowie 
  Zeitmangel durch Berge an Hausaufgaben oder viele Ueberstunden setzen 
  somit einer kreativen und lustvollen Auslebung der eigenen Sexualitaet 
  enge Grenzen.
  
  Die Ambivalenz von Vermarktung und Tabuisierung
  
  Trotz der massiven Kommerzialisierung von Sexualitaet ist Vieles, was 
  in den 70er-Jahren in Frage gestellt wurde, heute nicht mehr praesent. 
  Viele Fakten wurden begraben und auch heute wissen viele Jugendliche 
  zum Beispiel nicht, dass die Mehrzahl der Frauen beim vaginalen 
  Geschlechtsverkehr nicht zum Orgasmus kommen koennen. Auch heute 
  werden homosexuelle Menschen misstrauisch beaeugt und als Uebertraeger 
  einer ansteckenden Krankheit gebrandmarkt. Und auch heute ist 
  Sexualitaet trotz der staendigen Praesenz sexueller Darstellungen in 
  den Medien ein peinliches Thema, ueber das man oft nur verschaemt oder 
  in Witzen - selten jedoch ernsthaft - spricht. So bleibt der heutige 
  gesellschaftliche Umgang mit Sexualitaet einer Ambivalenz zwischen 
  Vermarktung einerseits und normierenden Zwaengen und Tabuisierung 
  andererseits unterworfen. Die Einfuehrung neuer Schoenheitsnormen und 
  Leistungszwaenge seit den 1970er Jahren hat dabei nicht zu einer 
  befreiten Sexualitaet gefuehrt, sondern den bereits existierenden 
  Normen wie etwa der Orientierung auf den Fortpflanzungsaspekt und die 
  romantische Paarbeziehung weitere einengende Normen hinzugefuegt. Da 
  im Kapitalismus das Interesse dominiert, mit allem Profit zu machen, 
  hat dies zur Situation gefuehrt, dass einander widersprechende Normen 
  nebeneinander existieren. So widerspricht etwa das grosse Angebot an 
  Sexspielzeugen in einschlaegigen Shops dem verbreiteten Verstaendnis, 
  dass nur die (heterosexuelle) Penetration der eigentliche Sex sei. 
  Doch mit Sexspielzeugen laesst sich Geld machen. Das fuehrt dann zum 
  Beispiel dazu, dass Sexshops die Anlieferung von Bestellungen 
  verschaemt in "diskreter Verpackung" anbieten. Das zeigt, dass der 
  Umgang mit Sexualitaet auch heute noch keineswegs so offen und 
  zwanglos ist, wie gerne behauptet wird. Auch das Nebeneinander von 
  permanenter Praesenz sexualisierter Darstellungen von Frauen in den 
  Medien und teilweise rigiden Altersfreigaben fuer Filme mit Sexszenen 
  zeigen diesen doppelboedigen und verlogenen Umgang mit Sexualitaet im 
  Kapitalismus. ###
  
  Fussnoten:
  [1] Vgl. Der Vaginale Orgasmus, online unter:
  http://www.the-clitoris.com/german/html/g_vag_org.htm (Zugriff vom 
  2.3.2012).
  [2] Sex we can?!, online unter: 
  http://www.youtube.com/watch?v=To_XEf_3fYI (Zugriff vom 2.3.2012).
  [3] Vgl. dazu die Dokumentation "Klitoris. Die schoene Unbekannte", 
  online unter:
  http://www.youtube.com/watch?v=1Unt0dEVNUI (Zugriff vom 2.3.2012).
  [4] BDSM ist eine Sammelbezeichnung fuer sexuelle Praktiken, in denen 
  es um spielerische Dominanz und Unterwerfung geht. Umgangssprachlich 
  wird das als Sadomasochismus bezeichnet, was jedoch mit einer relativ 
  engen Vorstellung dessen, was damit gemeint ist, einhergeht.
  [5] Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums 
  und des Staats, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 21, 5. 
  Aufl., Berlin 1975, unveraenderter Nachdruck der 1. Aufl., Berlin/DDR 
  1962, 77, online unter:
  http://www.mlwerke.de/me/me21/me21_036.htm (Zugriff vom 2.3.2012).
  
  
  *
  
  
  Anmerkungen einer akin-Redaktionsfrau:
  
  Ja, eh ..... aaaaber: Erstens: Dass die Frauen in der DDR gluecklicher 
  mit ihrem Sexualleben waren, halte ich fuer eine gewagte Behauptung, 
  dafuer gibt es keinen wie immer gearteten Beweis. Offene Kommunikation 
  in der DDR zum Thema gab es nicht, Wichtige Literatur zum Thema war 
  nicht erhaeltlich, wissenschaftliche Beschaeftigung mit dem Thema 
  unerwuenscht. Lektuere von Freud-Texten und daher auch Lektuere seiner 
  feministischen psychoanalytischen Kritikerinnen war unmoeglich 
  und/oder verboten.
  
  DDR-Frauen durften deshalb weniger oder gar keine Probleme mit ihrer 
  Sexualitaet haben, weil die DDR nach Ansicht ihrer Regierenden 
  (hauptsaechlich Maenner) ja schon ein sozialistisches Land war und im 
  Sozialismus das Problem bereits geloest ist. Basta.
  
  Zweitens: Das Problem mit den Mehrfach-Beziehungen ist weder im 
  Kapitalismus noch im Sozialismus zu loesen, auch wenn wir die 
  Eifersucht "herausrechnen". Wenn eine Beziehung halbwegs gut 
  funktionieren soll - also neben vergnueglichem Sex auch noch 
  gemeinsame Interessen anderer Art befriedigt werden sollen - dann ist 
  das schon ziemlich anstrengend. Unterschiedliche Ansprueche und 
  Sichtweisen sind auf einander abzustimmen und Konflikte sind zu 
  loesen. Das ist schon zwischen zwei Menschen schwierig. Bei mehrfachen 
  Beziehungen - wenn sie den Namen verdienen und nicht nur kurzfristige 
  Begegnungen sein sollen - vervielfachen sich die noetigen 
  Anstrengungen. Das haelt auch die staerkste Frau nicht aus.
  *Ilse Grusch*
  
  
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