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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 21. Maerz 2012; 00:36
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Debatte:
> Sex im Kapitalismus
Die Aufloesung sexueller Normen?
(Gekuerzte Version eines Essays von Nora Brandes.
Volltext: http://www.slp.at/artikel+M5a91911b3b5.html)
Postmoderne WissenschaftlerInnen behaupten gerne, dass heute im
Sexualleben keine Zwaenge mehr bestehen wuerden. Durch die
Entkoppelung von Fortpflanzung und Sexualitaet durch moderne
Verhuetungsmittel sei heute Raum fuer viele verschiedene
Sexualpraktiken entstanden. Ein paar Fesselspiele wuerden heute ins
sexuelle Standardprogramm gehoeren und durch die Aufloesung
eindeutiger sexueller Identitaeten koenne heute jedeR seine/ihre
sexuelle Orientierung offen ausleben. So gelehrt dies klingen mag - es
ist einfach Bloedsinn. Denn trotz teilweise gewandelter
Sexualitaetsbilder, der Verfuegbarkeit von Verhuetungsmitteln und der
Tatsache, dass es neben der heterosexuellen Paarbeziehung auch andere
Lebensformen gibt, ist die Definition dessen, was Sexualitaet ist,
weiterhin stark beschraenkt und das Sexualleben grossen Normen
unterworfen.
Nichtbeachtung weiblicher Beduerfnisse
Das faengt schon bei der Definition von Sex an. Wenn in Filmen oder
Buechern Sexszenen vorkommen, dann ist der Sex immer mit der
(heterosexuellen) Penetration verbunden. Verhuetung als
selbstverstaendlicher Teilaspekt von Sexualitaet kommt dabei nie vor -
und wird somit implizit als Gegenteil von erfuelltem Sex dargestellt.
Dass aber Studien zeigen, dass 62 Prozent aller Frauen durch vaginalen
Verkehr alleine keinen Orgasmus bekommen koennen[1], wird dabei in der
Regel voellig ausgeblendet. Stattdessen suggerieren die meisten
Sexszenen in Filmen und Buechern, dass sowohl der Mann, als auch die
Frau (meist auch noch gleichzeitig) durch vaginalen Geschlechtsverkehr
zum Hoehepunkt kommen koennten. Dass es daneben aber noch viele andere
Sexualpraktiken gibt, kommt meist nicht vor. Sex wird so in der
Populaerkultur und im Alltagsverstaendnis mit (heterosexueller)
Penetration gleichgesetzt. Das spiegelt einerseits eine heterosexuelle
maennliche Perspektive auf Sex wieder, denn Maenner haben von ihrer
biologischen Disposition in der Regel seltener Probleme, bei der
Penetration einen Orgasmus zu bekommen. Gleichzeitig zeigt sich hier
aber auch eine Verengung von Sexualitaet auf den Fortpflanzungsaspekt,
denn nur durch eine (heterosexuelle) Penetration koennen auch Kinder
gezeugt werden.
Der aktuelle Aufklaerungsfilm "Sex we can"[2], der Bestandteil des
"Sexkoffers" ist, den LehrerInnen fuer den Aufklaerungsunterricht in
der Schule zur Verfuegung gestellt bekommen, ist ein gutes Beispiel
fuer die gaengigen Definitionen von Sexualitaet. Sexualitaet und
Verhuetung werden hier am Beispiel einer heterosexuellen Paarbeziehung
thematisiert. Unter anderem kann man im Film erfahren, dass 50 Prozent
aller Frauen beim Sex keinen Orgasmus bekommen koennten. Anstatt die
gaengige Definition von Sex in Frage zu stellen, die offensichtlich
nicht an den weiblichen Beduerfnissen nach sexueller Befriedigung
ausgerichtet ist, wird die Haelfte aller Frauen als "ausserhalb der
sexuellen Norm" dargestellt.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Geschichte der Klitoris: Im
Mittelalter ging man noch davon aus, dass die Klitoris eine wichtige
Funktion bei der Zeugung von Kindern habe. Folglich wurde die Klitoris
erforscht und es wurde ihr grosse Aufmerksamkeit zuteil. Als man dann
spaeter herausfand, dass die Klitoris "nur" sexuelle Lust verschaffe,
wurde die Bedeutung und Funktion der Klitoris in der medizinischen
Forschung einfach ignoriert.[3]
Die Verengung von Sex auf die Penetration fuehrt auch dazu, dass
sexuelle Handlungen, die auf die Stimulierung der Klitoris abzielen,
"nur" als "Vorspiel" vor dem eigentlichen Sex, verstanden als
Penetration gelten. Das erste Mal bleibt fuer viele Maedchen ein
schmerzhaftes Erlebnis in Erinnerung, bei dem sie keinerlei sexuelle
Lust verspueren. Viele Maedchen fragen sich dann, ob ihr Koerper
"normal" sei und, ob sie irgendetwas "falsch" gemacht haetten. Dabei
sind diese Erfahrungen nur Ergebnis des normativen "Zwangs" zur
Penetration und der Nichtbeachtung weiblicher Beduerfnisse im
alltaeglichen Verstaendnis von Sex.
Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Sexualitaet
Gleichgeschlechtliche Sexualitaet kommt in "Sex we can" so gut wie gar
nicht vor. Homosexuell orientierte Jugendliche koennen dadurch auch
nicht erfahren, was sie zur Vermeidung von Infektionsansteckungen tun
muessen. Ausserdem wird damit die heterosexuelle Norm zementiert und
gleichgeschlechtlicher Sex nicht als gleichwertige Variante akzeptiert
und nicht fuer Diskriminierungen homosexueller Menschen
sensibilisiert. Auch das ist kein Zufall und entspricht gaengigen
Sexualitaetsvorstellungen. Waehrend sexuelle Handlungen, die auf die
Stimulierung der Klitoris abzielen als "nicht echter" Sex abgewertet
werden, wird gleichgeschlechtlicher Sex gemeinhin als "pervers"
abgetan. Die lange Geschichte gesetzlicher Massnahmen gegen diese
Gruppe macht deren Diskriminierung auch gesetzlich greifbar. Unter
Maria Theresia wurde Homosexualitaet noch mit der Todesstrafe
geahndet. Obwohl die Todesstrafe spaeter abgeschafft wurde, war
Homosexualitaet bis 1971 gesetzlich verboten und wurde mit schwerem
Kerker bis zu fuenf Jahren geahndet. Begruendet wurde die
Diskriminierung als "Unzucht wider die Natur mit Personen desselben
Geschlechts" - also mit biologistischen Begruendungen, was biologisch
"natuerlich" und was "unnatuerlich" sei.
1971 fiel das generelle Verbot gleichgeschlechtlicher Beziehungen.
Trotzdem bestanden Diskriminierungen weiter fort, u.a. das Verbot fuer
homosexuelle Maenner, eine Beziehung miteinander einzugehen, wenn ein
Partner unter 18 Jahren war, waehrendem fuer heterosexuelle und
lesbische Beziehungen ein Mindestalter von 14 Jahren galt (§ 209).
Dass homosexuelle Maenner hier gesondert diskriminiert werden, haengt
damit zusammen, dass homosexuelle Beziehungen unter Frauen ohnehin nie
so ernst genommen wurden wie homosexuelle Beziehungen unter Maennern.
So hiess es in der Begruendung der Regierung dazu, dass bei weiblichen
homosexuellen Beziehungen ohnehin nicht zwischen sexuellen Handlungen
und Koerperpflege unterschieden werden koenne. Da hier per se keine
Penetration stattfinden kann, wurden lesbische Beziehungen nicht ernst
genommen - ganz nach dem Motto: Wo keine Penetration stattfindet, kann
es sich nur um Koerperpflege handeln. Aus demselben Grund wurden
uebrigens im Nationalsozialismus homosexuelle Maenner per Gesetz
verfolgt, waehrend es fuer homosexuelle Frauen keine derartige
Bestimmung gab.
Der § 209 wurde in Oesterreich jedenfalls erst im August 2002 (!)
abgeschafft - und zwar nur deshalb, weil ein 17-jaehriger schwuler
Jugendlicher vor dem Europaeischen Menschenrechtsgerichtshof geklagt
hatte. § 209 wurde durch den geschlechtsneutral formulierten § 207b
ersetzt. Trotzdem werden unter diesem Paragraphen weiterhin in erster
Linie homosexuelle Maenner verurteilt.
Diskriminierung "abweichender" Sexualpraktiken
Aber nicht nur gleichgeschlechtliche Sexualitaet wird bis heute
diskriminiert, sondern ueberhaupt alle Sexualpraktiken, die vom
gaengigen Sexualitaetsbild abweichen und Sexualitaet von seiner
Fortpflanzungsfunktion abkoppeln. Bis heute wird alles, was
Sexualitaet in erster Linie mit Lust verbindet, als anruechig gesehen.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass Masturbation bis heute mit
dem Schimpfwort "Wichser" belegt ist, gleichgeschlechtliche Maenner
als "schwule Sau" beschimpft werden und Lesben mit dem Vorwurf der
Frigiditaet konfrontiert sind, weil sie sich sexuell nicht fuer
Maenner interessieren.
Dabei entspricht die Diskriminierung "abweichender" Sexualpraktiken
ueberhaupt nicht der Realitaet. Schon der in den spaeten 1940er und
fruehen 1950er Jahren in den USA publizierte Kinsey-Report hatte ein
Auseinanderklaffen zwischen sexuellen Wuenschen und Praktiken auf der
einen Seite und sexuellen Normen auf der anderen Seite gezeigt. Der
Sexualwissenschaftler Alfred Charles Kinsey veroeffentlichte darin
Befragungen, die u.a. ergaben, dass zwischen 90 und 95 Prozent der
Bevoelkerung bis zu einem gewissen Grad bisexuell ist, Masturbation
ein weit verbreitetes Phaenomen ist und "abweichende" Sexualpraktiken
wie BDSM[4] weiter verbreitet sind, als man angenommen hatte.
Familie und die Re/Produktion der Ware Arbeitskraft
Doch warum eigentlich dieses grosse Problem damit, Sex jenseits der
heterosexuellen Penetration anzuerkennen? Warum die Abwertung der
weiblichen Sexualitaet, die jahrhundertelange Verfolgung
Homosexueller, der verkrampfte Umgang mit Masturbation, die Ambivalenz
im Umgang mit BDSM? All diese Bereiche haben miteinander gemein, dass
sie Sexualitaet von der Fortpflanzung losloesen und die sexuelle Lust
in den Vordergrund stellen. Mit der Verbindung von Sex und Lust hatte
nicht nur die Kirche schon immer Probleme. Die lustbetonte Perspektive
auf Sex stellt auch die Grundfeste des Kapitalismus in Frage, dass
Sexualitaet in erster Linie in der (heterosexuellen) Familie
stattzufinden hat. Mit Familie sind damit nicht nur verheiratete
Menschen mit Kindern gemeint, sondern auch die wachsende Zahl an
unverheirateten Paaren mit Kindern.
Die Funktion der Familie im Kapitalismus ist seit jeher die der
Produktion und der Reproduktion der Ware Arbeitskraft. Damit ein
Mensch in der Fabrik "funktionieren" kann, muss er verkoestigt,
gekleidet und gepflegt werden. Traditionell war das die Rolle der
Frau. Und auch heute sind es in erster Linie Frauen, die diese
unbezahlte Arbeit verrichten. Das ist fuer den Staat sehr effizient,
denn er erspart sich eine Menge Geld dadurch, dass er diese Arbeit nur
teilweise ausgelagert (z.B. in Form von Krankenhaeusern und
Altersheimen) anbieten muss. Gleichzeitig ist es die Funktion der
Familie, Arbeitskraefte zu produzieren, d.h. Kinder zu zeugen und sie
aufzuziehen - was wiederum zumeist die Aufgabe von Frauen ist. Die
Familie versorgt so die kapitalistische Oekonomie mit neuen
Arbeitskraeften. Die Sorge um den "demografischen Wandel" zeigt dies
sehr deutlich: So kommen aus Politik und Wirtschaft in regelmaessigen
Abstaenden sorgenvolle Kommentare darueber, dass der Wirtschaft
aufgrund der sinkenden Geburtenrate die Arbeitskraefte ausgehen
wuerden. Angesichts der existierenden Arbeitslosigkeit erscheint das
jedoch wenig realistisch. Die eigentliche Sorge dreht sich daher in
erster Linie um Kinder aus besser gebildeten Haushalten, die als
Fachkraefte besonders verwertbar sind. Denn hier - so die Annahme von
Politik und Wirtschaft - sei die Mutter aufgrund ihres Bildungsstands
in der Lage, ihren Kindern eine gute Bildung zu vermitteln und ihnen
bei Problemen bei den Hausaufgaben zu helfen. Darueber hinaus koennen
besserverdienende Eltern sich fuer ihre Kinder eine Nachhilfe leisten.
Diese Annahme verweist darauf, dass im Kapitalismus die Familie auch
als Bildungsinstitution, die auf der unbezahlten Arbeit vor allem von
Frauen basiert, eingeplant ist. Deshalb wird die sinkende Geburtenrate
insbesondere der besser gebildeten Frauen als zentrales Problem
aufgefasst. Anstatt von staatlicher Seite mehr Geld in die Bildung zu
investieren um allen Kindern gleiche Chancen zu ermoeglichen, wird
sozial unterprivilegierten Eltern, die ihren Kindern aufgrund
mangelnder Ressourcen keine gute Bildung vermitteln koennen,
mangelndes Bildungsbewusstsein unterstellt.
Lebensformen, die Sexualitaet nicht mit Fortpflanzung, sondern mit
Lust verbinden, stellen jedenfalls die Funktion der Familie als Ort
der Produktion und Reproduktion von Arbeitskraeften in Frage. Bei
homosexuellen Paaren ist ploetzlich nicht mehr klar, welcher Part die
unbezahlte Haus- und Fuersorgearbeit zu uebernehmen hat. Eine
selbstbestimmte weibliche Sexualitaet stellt die untergeordnete Rolle
der Frau in der Familie in Frage. Wenn Fortpflanzung nicht mehr im
Mittelpunkt von Sexualitaet steht, wird die Rolle der Familie als
Produzentin von neuen Arbeitskraeften fuer die Wirtschaft in Frage
gestellt. Darin liegen die Ursachen fuer die enge Normierung von
Sexualitaet im Kapitalismus, die trotz teilweise gewandelter
Lebensformen weiterhin existent ist. In dieser Koppelung von
Sexualitaet und Familie liegt auch begruendet, warum Vergewaltigung in
der Ehe bis 1989 (!) kein Strafbestand war. In diesem Zusammenhang ist
auch interessant, dass sexuelle Verweigerung und "Verletzung der
Treuepflicht" auch heute noch Gruende sind, um eine Ehe schuldig zu
scheiden. Anstatt die Regelung solcher Fragen den EhepartnerInnen zu
ueberlassen, schreibt der Staat hier eine sexuelle Norm vor.
Die Norm der (heterosexuellen) Paarbeziehung
Promiskuitaet (= sexuelle Freizuegigkeit) und offene Beziehungsmuster
werden oft abgewertet bzw. nur fuer einen bestimmten Lebensabschnitt
als normal erachtet. Jugendlichen wird heute durchaus in einem
gewissen Rahmen das Ausprobieren ihrer eigenen Sexualitaet
zugestanden. Gleichzeitig dominieren auch hier sexistische
Bewertungen, die dies Maennern eher zugestehen als Frauen. Maenner,
die sexuell experimentierfreudig sind, werden als "tolle Hengste" oder
"Weiberhelden" bezeichnet, Frauen, die dasselbe tun, gelten gemeinhin
als "Schlampe" oder "leichtes Maedchen". Wenn eine Frau sexuell
experimentierfreudig ist, heisst es sie sei "leicht zu haben". Dabei
wird suggeriert, dass sie ein sexuelles Objekt sei, auf das Maenner
leichten Zugriff haetten. Bei Maennern wird hingegen in der Regel
davon ausgegangen, dass sie selbstbestimmt ihre Sexualitaet ausleben
wuerden und sich die Frauen "waehlen" wuerden, mit denen sie ins Bett
gehen wollen. Das spiegelt auch wieder, dass die Monogamie in erster
Linie fuer Frauen gilt, waehrendem es bei Maennern viel eher geduldet
wird, wenn sie das nicht so streng nehmen.
Trotz aller Unterschiede, die hier zwischen Maennern und Frauen
gemacht werden, wird ab einem gewissen Alter davon ausgegangen, dass
nun eine Familie gegruendet werden muesse. Schon der Begriff des
"Singles" suggeriert, dass Menschen ohne feste sexuelle Partnerin bzw.
festen sexuellen Partner einsam waeren. Und die Bezeichnung
"kinderlos" suggeriert, dass solchen Menschen etwas fehlen wuerde.
Menschen, die auch nach einem Alter von 30 Jahren in einer
Wohngemeinschaft wohnen seien "nicht erwachsen" geworden. Menschen,
die keine Kinder und wechselnde PartnerInnen haben, seien
"hedonistische Singles", die nur an ihrem eigenen Ego interessiert
seien. Und offene Beziehungen wuerden ohnehin nicht funktionieren,
weil Eifersucht ja etwas voellig "natuerliches" sei. All dies sind
gaengige Klischees, die zeigen, dass als Ort, an dem Sexualitaet
ausgelebt wird, die (heterosexuelle) romantische Paarbeziehung
erachtet wird. Auch wenn heute aus vielen Partnerschaften keine Kinder
mehr hervorgehen, ist diese Beziehungsform nach wie vor nahezu
unumstritten und wird mit Besitzanspruechen auf den/die PartnerIn
legitimiert. Und auch wenn es heute viele Alleinerziehende gibt, gilt
auch fuer diese, dass sie entweder keinen Partner bzw. keine Partnerin
haben, oder nach der Trennung eine neue Paarbeziehung eingehen. Auch
rechtlich wird die (heterosexuelle) Paarbeziehung gestuetzt. So ist es
zum Beispiel unmoeglich, die Obsorge fuer ein Kind auf mehr als zwei
Elternteile zu uebertragen. Die Vorstellung, dass genau zwei Eltern
die "richtige" Anzahl an Bezugspersonen fuer ein Kind seien,
legitimiert solche Regelungen.
Die Vorstellung, dass Sexualitaet nur in der Paarbeziehung mit einem
Menschen ausgelebt werden soll, fuehrt dann nicht nur dazu, dass
Abweichungen von dieser Norm als "Seitenspruenge" oder "Treuebrueche"
bezeichnet werden. Durch die Norm der Paarbeziehung wird genau
geregelt, wen man unter welchen Umstaenden umarmen oder kuessen darf.
Diese Verhaltensregeln machen einen willkuerlichen Unterschied
zwischen "Freundschaft" und "Liebesbeziehung". Waehrend "Freunde"
einander koerperlich nicht zu stark nahe kommen duerfen, sind
Zaertlichkeiten bei einer "Liebesbeziehung" akzeptiert. Anstatt
menschliche Beziehungen als komplexe Verhaeltnisse zu erfassen, die
individuell unterschiedlich eine ganze Reihe verschiedener verbaler,
koerperlicher oder sonstiger Handlungen umfassen, werden in diesem
Konzept menschliche Beziehungen in die Schubladen "Liebe" oder
"Freundschaft" gepresst.
Interessant erscheint in diesem Zusammenhang auch die Anruechigkeit,
mit denen Swingerclubs belegt werden. Wenn Menschen sich aus freien
Stuecken zur Auslebung ihrer sexuellen Wuensche treffen und dabei mit
mehreren Personen Sex haben, gilt dies als unanstaendig. Demgegenueber
wird der Bordellbesuch eines Mannes viel eher toleriert: Hier zahlt
der Mann fuer eine kommerzielle Dienstleistung, die die Paarbeziehung,
die er mit seiner Freundin fuehrt, nicht grundsaetzlich in Frage
stellt. Die Prostitution ist so einerseits oft ein Zeichen dafuer,
dass viele Paarbeziehungen ueberhaupt nicht funktionieren.
Andererseits erhaelt die Prostitution so manche Ehe oder Partnerschaft
am Leben, da der Mann sich hier "Abwechslung" sucht. Denn die Ehe oder
Familie wird - im Kontrast zum Bordellbesuch - als "lustloser" Ort
angesehen, an dem sexuelle Wuensche nicht ausgelebt werden koennen.
Ein Bordellbesuch wird deshalb von vielen Frauen eher toleriert als
ein "Seitensprung", denn hier geht es um die Inanspruchnahme einer
"geschaeftsmaessig" erbrachten Leistung, die das Konzept der
Liebesbeziehung weniger in Frage stellt. Was fuer den Mann gilt, gilt
dabei nicht fuer Frauen. Ihre "Abwechslung" ist in diesem Konzept
nicht eingeplant - was wiederum auf die doppelboedige Moral gegenueber
promiskuitiven Frauen hinweist. Dass Prostituierte jedoch
gesellschaftlich geaechtet werden und als "unanstaendig" gelten,
spiegelt genau diese doppelboedige Moral zwischen "heiler Familie" und
Bordellbesuch wieder. Somit ist die Prostitution Ausdruck der
patriarchalen Institution der monogamen (heterosexuellen) Ehe bzw.
Partnerschaft.
Die Vermarktung von Sexualitaet, neue Normen und Leistungsdruck
Durch die in den 1970er Jahren angestossenen Liberalisierungen ist
Sexualitaet stark kommerzialisiert worden. Eine ganze Industrie
versorgt KundInnen mit teuren Sexspielzeugen, Fetischzubehoer und
Pornofilmen. Alleine die Pornoindustrie macht Milliardengewinne mit
ihrem Geschaeft. Und nicht nur fuer heterosexuelle, sondern auch fuer
homosexuelle Maenner bieten Prostituierte die Moeglichkeit, Sex zu
"kaufen". (Dass der Freier dabei immer maennlich ist, spiegelt auch
die patriarchale Struktur des Kapitalismus wieder.)
PartnerInnenboersen bieten die Moeglichkeit, potenzielle
SexualpartnerInnen per Annonce oder im Internet kennenzulernen.
Sexualitaet ist im Kapitalismus einer totalen Kommerzialisierung
unterworfen, Sex und die damit verbundenen Produkte und
Dienstleistungen werden als profitabler Markt erschlossen. Die
Vermarktung von Sexualitaet orientiert sich rein am Profitinteresse
der Unternehmen. KundInnen werden dabei nicht beruecksichtigt. Weder
sind Verhuetungsmittel gratis erhaeltlich sein, noch werden
Abtreibungen kostenlos durchgefuehrt. Eine bis heute nicht erfuellte
Forderung der Frauenbewegung ist die Abtreibung auf Krankenschein.
Die Darstellung nackter Frauen ist heute nicht mehr verpoent. Im
Gegenteil: Werbung und Medien sind voll von sexualisierten
Darstellungen von Frauen. Frauen werden so als verfuegbare Sexobjekte
dargestellt, was ein Klima sexistischer Uebergriffe auf Frauen
befoerdert. Neue sexuelle Freiheiten, die Frauen sich erkaempft haben,
sind so marktfoermig "entschaerft" worden und Frauen sind mit dem
Zwang konfrontiert, "sexy" sein zu muessen. Der Sexismus und der damit
verbundene Leistungsdruck hat fuer die Zufriedenheit von Frauen mit
ihrem Sexualleben auch negative Auswirkungen. So ist belegt, dass
Frauen in der BRD mit ihrer Sexualitaet viel weniger zufrieden waren
als Frauen in der DDR. Zwar waren auch in der DDR in erster Linie
Frauen fuer Haushalt und Familie zustaendig, die hohe Erwerbsteilhabe
von Frauen und der Wegfall sexistischer Vermarktung von Sexualitaet
fuehrte jedoch dazu, dass die DDR-Frauen im Bett ihre Wuensche
selbstbestimmter artikulieren konnten und im Bett mit weniger Sexismus
konfrontiert waren.
Bei der Kritik an der Vermarktung von Sexualitaet und am Sexismus, der
in dieser Vermarktung mitschwingt, geht es nicht um Pruederie. Im
Gegenteil: Auch in einer kuenftigen sozialistischen Gesellschaft soll
es Menschen freistehen, sich bei sexuellen Handlungen zu filmen und
das Filmmaterial anderen zur Verfuegung stellen, wenn sie dies tun
wollen. Solche Filme sollen dabei aber keine einseitigen und
frauenverachtenden Darstellungen von Sexualitaet bieten. Erst die
Befreiung der Pornoindustrie von der Profitmacherei bietet die
Moeglichkeit, dass sich jedeR Einzelne einbringen kann und viele
verschiedene Spielarten von Sexualitaet gleichberechtigt dargestellt
werden koennen. Fuer die Pornografie kann - so wie fuer die
menschliche Sexualitaet insgesamt - gesagt werden: Erst, wenn die
Menschen frei von oekonomischen Zwaengen und eingeengten Vorstellungen
von Sexualitaet ihre individuellen sexuellen Vorlieben ausleben
koennen und Sex keine Ware mehr ist, ist die Grundlage fuer eine
befreite Sexualitaet gelegt.
Mit der Kommerzialisierung zusammenhaengend wird Sexualitaet - wie
auch alles andere im Kapitalismus - zunehmend vom Leistungsgedanken
und neuen Normen durchdrungen: Um als attraktiv zu gelten, darf der
Busen nicht "zu klein" sein, der Hintern soll flach sein, die
Schamlippen sollen rasiert sein, der Penis darf nicht "zu klein" sein.
Man muss "gut" im Bett sein, die "richtigen" Techniken beherrschen und
zum "richtigen" Zeitpunkt einen Orgasmus haben. Taeglich geben Bilder
in den Medien vor, wie oft in der Woche man Sex haben sollte, wie
viele Orgasmen man dabei haben sollte und wie viel sexuelle Erfahrung
man in welchem Alter bereits "vorweisen" sollte. Kein Wunder, dass
unter diesem Leistungsdruck viele Frauen beim Sex Orgasmen
vortaeuschen oder Maenner der Partnerin oft vorluegen, dass sie schon
viele sexuelle Erfahrungen gemacht haetten. Kein Wunder, dass
Jugendliche untereinander wetteifern, wer mit mehr PartnerInnen ins
Bett geht - ohne danach zu fragen, ob dies eigentlich wirklich
relevant ist. Kein Wunder, dass viele Frauen sich fuer eine Brust-OP
unters Messer legen lassen und Schamlippen-Operationen immer beliebter
werden. Dieser Leistungsgedanke schlaegt sich dann auch in der
staendigen Konkurrenz mit anderen SexualpartnerInnen nieder. Um den
begehrten Mann bzw. die begehrte Frau zu beeindrucken, muss man
"richtig" gekleidet sein, den "richtigen" Koerper haben, darf nicht zu
unterwuerfig, aber auch nicht zu abweisend sein. Die Anbahnung
sexueller Handlungen geraet so zu einem aufreibenden Strategiespiel,
an dessen Ziel so manch einem/einer der Spass am Sex vergeht...
Hinzu kommt ausserdem noch, dass der permanente Stress in Schule,
Ausbildung und Arbeitsleben sich auch negativ auf das Sexualleben
auswirkt. Staendig muessen wir "funktionieren", Pruefungen bestehen,
im Erwerbsleben viel zu viel Arbeit in viel zu wenig Zeit bewaeltigen.
Erwerbslose muessen sich demgegenueber mit zunehmenden
Repressionsmassnahmen auseinandersetzen und sich Sorgen machen, wie
sie finanziell ueber die Runden kommen. Dieser Stress fuehrt dann auch
dazu, dass wir am Abend einfach nur noch erschoepft sind oder nicht
richtig abschalten koennen. Erhoehte sexuelle Lustlosigkeit ist nur
eine der vielen Auswirkungen von Stress auf unsere Stimmung und unsere
Gesundheit. Stress und Druck in Ausbildung und Erwerbsleben sowie
Zeitmangel durch Berge an Hausaufgaben oder viele Ueberstunden setzen
somit einer kreativen und lustvollen Auslebung der eigenen Sexualitaet
enge Grenzen.
Die Ambivalenz von Vermarktung und Tabuisierung
Trotz der massiven Kommerzialisierung von Sexualitaet ist Vieles, was
in den 70er-Jahren in Frage gestellt wurde, heute nicht mehr praesent.
Viele Fakten wurden begraben und auch heute wissen viele Jugendliche
zum Beispiel nicht, dass die Mehrzahl der Frauen beim vaginalen
Geschlechtsverkehr nicht zum Orgasmus kommen koennen. Auch heute
werden homosexuelle Menschen misstrauisch beaeugt und als Uebertraeger
einer ansteckenden Krankheit gebrandmarkt. Und auch heute ist
Sexualitaet trotz der staendigen Praesenz sexueller Darstellungen in
den Medien ein peinliches Thema, ueber das man oft nur verschaemt oder
in Witzen - selten jedoch ernsthaft - spricht. So bleibt der heutige
gesellschaftliche Umgang mit Sexualitaet einer Ambivalenz zwischen
Vermarktung einerseits und normierenden Zwaengen und Tabuisierung
andererseits unterworfen. Die Einfuehrung neuer Schoenheitsnormen und
Leistungszwaenge seit den 1970er Jahren hat dabei nicht zu einer
befreiten Sexualitaet gefuehrt, sondern den bereits existierenden
Normen wie etwa der Orientierung auf den Fortpflanzungsaspekt und die
romantische Paarbeziehung weitere einengende Normen hinzugefuegt. Da
im Kapitalismus das Interesse dominiert, mit allem Profit zu machen,
hat dies zur Situation gefuehrt, dass einander widersprechende Normen
nebeneinander existieren. So widerspricht etwa das grosse Angebot an
Sexspielzeugen in einschlaegigen Shops dem verbreiteten Verstaendnis,
dass nur die (heterosexuelle) Penetration der eigentliche Sex sei.
Doch mit Sexspielzeugen laesst sich Geld machen. Das fuehrt dann zum
Beispiel dazu, dass Sexshops die Anlieferung von Bestellungen
verschaemt in "diskreter Verpackung" anbieten. Das zeigt, dass der
Umgang mit Sexualitaet auch heute noch keineswegs so offen und
zwanglos ist, wie gerne behauptet wird. Auch das Nebeneinander von
permanenter Praesenz sexualisierter Darstellungen von Frauen in den
Medien und teilweise rigiden Altersfreigaben fuer Filme mit Sexszenen
zeigen diesen doppelboedigen und verlogenen Umgang mit Sexualitaet im
Kapitalismus. ###
Fussnoten:
[1] Vgl. Der Vaginale Orgasmus, online unter:
http://www.the-clitoris.com/german/html/g_vag_org.htm (Zugriff vom
2.3.2012).
[2] Sex we can?!, online unter:
http://www.youtube.com/watch?v=To_XEf_3fYI (Zugriff vom 2.3.2012).
[3] Vgl. dazu die Dokumentation "Klitoris. Die schoene Unbekannte",
online unter:
http://www.youtube.com/watch?v=1Unt0dEVNUI (Zugriff vom 2.3.2012).
[4] BDSM ist eine Sammelbezeichnung fuer sexuelle Praktiken, in denen
es um spielerische Dominanz und Unterwerfung geht. Umgangssprachlich
wird das als Sadomasochismus bezeichnet, was jedoch mit einer relativ
engen Vorstellung dessen, was damit gemeint ist, einhergeht.
[5] Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums
und des Staats, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 21, 5.
Aufl., Berlin 1975, unveraenderter Nachdruck der 1. Aufl., Berlin/DDR
1962, 77, online unter:
http://www.mlwerke.de/me/me21/me21_036.htm (Zugriff vom 2.3.2012).
*
Anmerkungen einer akin-Redaktionsfrau:
Ja, eh ..... aaaaber: Erstens: Dass die Frauen in der DDR gluecklicher
mit ihrem Sexualleben waren, halte ich fuer eine gewagte Behauptung,
dafuer gibt es keinen wie immer gearteten Beweis. Offene Kommunikation
in der DDR zum Thema gab es nicht, Wichtige Literatur zum Thema war
nicht erhaeltlich, wissenschaftliche Beschaeftigung mit dem Thema
unerwuenscht. Lektuere von Freud-Texten und daher auch Lektuere seiner
feministischen psychoanalytischen Kritikerinnen war unmoeglich
und/oder verboten.
DDR-Frauen durften deshalb weniger oder gar keine Probleme mit ihrer
Sexualitaet haben, weil die DDR nach Ansicht ihrer Regierenden
(hauptsaechlich Maenner) ja schon ein sozialistisches Land war und im
Sozialismus das Problem bereits geloest ist. Basta.
Zweitens: Das Problem mit den Mehrfach-Beziehungen ist weder im
Kapitalismus noch im Sozialismus zu loesen, auch wenn wir die
Eifersucht "herausrechnen". Wenn eine Beziehung halbwegs gut
funktionieren soll - also neben vergnueglichem Sex auch noch
gemeinsame Interessen anderer Art befriedigt werden sollen - dann ist
das schon ziemlich anstrengend. Unterschiedliche Ansprueche und
Sichtweisen sind auf einander abzustimmen und Konflikte sind zu
loesen. Das ist schon zwischen zwei Menschen schwierig. Bei mehrfachen
Beziehungen - wenn sie den Namen verdienen und nicht nur kurzfristige
Begegnungen sein sollen - vervielfachen sich die noetigen
Anstrengungen. Das haelt auch die staerkste Frau nicht aus.
*Ilse Grusch*
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