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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 29. Februar 2012; 05:23
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Russland:
> Wir sind die 146 Prozent!
Als Wladimir Putin im Jahr 2000 Boris Jelzin als Praesident abloeste, 
hatte Russland ein turbulentes Jahrzehnt hinter sich: Auf die 
Transformationsphase Anfang der 1990er Jahre folgte der Schock der 
Privatisierung, der viele Kader der alten Sowjetbuerokratie sehr 
schnell sehr reich machte und viele andere sehr arm. Die 1990er waren 
eine Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs und der ausufernden 
Kriminalitaet. Verglichen damit erschienen die stabilen 2000er vielen 
als Fortschritt. Doch in den letzten Jahren wuchs der Unmut ueber den 
autoritaeren Regierungsstil. Die offensichtlichen Wahlfaelschungen im 
Dezember 2011 trieben die Menschen erstmals seit Jahren wieder 
massenhaft auf die Strasse. Philipp Dickel und Jan Ole Arps 
interviewten fuer "analyse und kritik" (ak) *Wladimir Petrov*, einen 
Aktivisten der Antifa- und Anarchoszene.
ak: Wladimir, du warst im Dezember von Anfang an auf der Strasse mit 
dabei. Erzaehl uns, wie es losging!
Wladimir Petrov: Ziemlich unspektakulaer. Fuer den 4. Dezember, den 
Tag der Wahl, war eine Protestversammlung anberaumt. Buergerrechtler 
und Leute aus unterschiedlichen NGOs wussten schon vorher, dass es 
massive Wahlfaelschungen geben wuerde. Am Abend versammelten sich etwa 
300 Leute auf einem der zentralen Plaetze in Moskau, die ueblichen 
wohlbekannten Aktivisten. Die Polizei loeste die Versammlung brutal 
auf, also alles wie immer. Die Ueberraschung gab es erst am naechsten 
Tag.
ak: Was passierte da?
Petrov: Auch fuer den 5. Dezember hatten einige Gruppen zum Protest 
aufgerufen. Es gab aber nur die Erlaubnis fuer eine Versammlung mit 
maximal 300 Leuten, was in etwa dem entsprach, womit die Organisatoren 
rechneten. Doch stattdessen kamen 8.000, der Platz war voellig 
ueberfuellt! Die meisten Leute waren zum ersten Mal in ihrem Leben auf 
einer Demonstration, sie waren sehr zurueckhaltend. Es gab ein paar 
Schlaegereien mit der Polizei, als eine Gruppe versuchte, zur 
Zentralen Wahlkommission zu marschieren. Ungefaehr 300 wurden 
festgenommen, aber dass ueberhaupt so viele Leute auf der Strasse 
waren, war die grosse Ueberraschung.
ak: Das war aber noch nicht der Hoehepunkt.
Petrov: Richtig. Am naechsten Tag demonstrierten nochmal 1.000 Leute 
auf dem Triumfalnaya Platz. Zu dieser Demonstration kamen auch 
Putin-Unterstuetzer, die schon vor der Wahl aus dem ganzen Land nach 
Moskau gekarrt worden waren. Einige Hundert von Nashi (»Die Unseren«), 
einer vom Staat gegruendeten Jugendorganisation, wollten zeigen, dass 
es noch junge Leute gibt, die fuer Putin sind. Auch rechte 
Fussballhooligans wurden gesichtet. Ihr Auftritt war ein Reinfall. Die 
Leute haben den Kremltreuen ins Gesicht gespuckt, einige von 
der »Putin-Jugend« haben Pruegel bezogen.
Am 10. Dezember fand dann die bis dahin groesste Demonstration mit 
80.000 Teilnehmern statt. Die Versammlung war sehr ruhig und 
friedlich. Aber die Polizei liess auch Dinge durchgehen, bei denen sie 
normalerweise sofort eingeschritten waere: Boeller und Feuerwerk, 
provokante Schilder und Transparente und so was. Es gab eine Menge 
guter und lustiger Slogans.
ak: Zum Beispiel?
Petrov: Am Wahlabend hatte ein Sprecher des staatlichen Fernsehens die 
Ergebnisse der ersten Hochrechnung fuer den Bezirk Rostow 
praesentiert: Einiges Russland: 58,99 Prozent. Kommunistische Partei: 
32,96 Prozent. Liberaldemokraten: 23,74 Prozent, Gerechtes Russland: 
19,41 Prozent, Jabloko: 9,32 Prozent, Patrioten Russlands: 1,46 
Prozent, Rechte Sache: 0,59 Prozent. Zusammengezaehlt ergab das 146 
Prozent! Eine beliebte Parole ist seitdem »Wir sind die 146 Prozent!«
Die naechste grosse Demonstration am 24. Dezember mit 100.000 Leuten 
lief aehnlich ab, wie zuvor, sehr ruhig, die ueblichen Reden. Aber 
zwei Dinge waren an diesem Tag anders. Fast alle Politiker und 
Society-Leute, die sich auf der Buehne blicken liessen, wurden 
ausgebuht. Und um ein Haar waere es den Nationalisten gelungen, die 
Buehne zu stuermen. Aber das konnte verhindert werden.
Nach diesem Tag veraenderte sich die Rhetorik der Regierung. Medwedjew 
redete ploetzlich von Reformen, und sogar Putin aeusserte Verstaendnis 
fuer die Proteste. In den ersten Tagen hatte es nur geheissen, die 
Demonstranten sind eine kleine Minderheit, Chaoten und Unruhestifter, 
die Polizei wird sich der Sache annehmen. Als dann 100.000 Leute auf 
der Strasse waren, konnten sie sich das nicht mehr erlauben.
ak: Wer geht auf die Strasse?
Petrov: Vor allem die neue russische Mittelschicht, manchmal auch 
die »innovative« oder »kreative Klasse« genannt. Die meisten 
Demonstranten haben ein ordentliches Einkommen, viele ein Auto, sie 
koennen sich Reisen leisten etc. Ihr Problem ist nicht die Armut, 
sondern das Gefuehl: »Etwas stimmt nicht mit unserem Land.« Sie wollen 
die Korruption nicht mehr, sie haben es satt, dass sie jemanden 
bestechen muessen, damit ihr Kind in den und den Kindergarten kommt. 
Die wichtigsten Forderungen auf den Demonstrationen sind der Sturz 
Putins, faire Wahlen und ein Ende der Korruption.
ak: Kannst du etwas ueber die politischen Organisationen und 
Vorstellungen sagen, die im Protest eine Rolle spielen
Petrov: Der Protest wurde komplett ueber das Internet organisiert. Nun 
versuchen zahlreiche liberale Kraefte, die in den 1990ern teilweise 
zum russischen Establishment gehoerten, die Proteste fuer sich zu 
nutzen. Diese prowestlichen Politiker sind ziemlich unpopulaer, die 
Leute, die auf der Strasse sind, trauen ihnen nicht.
Allerdings gibt es insgesamt kaum weitergehende Vorstellungen. Passend 
zu unseren »postideologischen« Zeiten lehnen die meisten Leute 
politische Ideologien ab, ueber Politisches wird sehr ungern 
gesprochen. Weder wollen sie eine Revolution, noch wollen sie in 
irgendeiner Weise Gewalt anwenden. Es reicht ihnen, stundenlang auf 
dem Platz herumzustehen und Parolen zu rufen, dabei kommen sie sich 
vor wie Martin Luther King oder Gandhi. Das ist fuer den Moment auch 
in Ordnung, aber sie vergessen, dass es Leuten wie Putin nicht im 
Traum einfaellt, ihre Macht aus der Hand zu geben.
ak: Wie aktiv sind rechte Kraefte bei den Demonstrationen?
Petrov: Sie sind ein Problem. In den letzten Jahren gehoerten Neonazis 
zu den wenigen Gruppen, die immer mal wieder mehrere Tausend Leute zu 
Aufmaerschen mobilisieren konnten. Aber sie hatten nie irgendeine 
soziale Agenda, nur ihren rassistischen Nazimuell. Bei den aktuellen 
Protesten versuchen Neonazis, einige Konservative und andere 
Rassisten, sich als buergerliche Nationalisten zu praesentieren. Wie 
die europaeischen Rechten ruecken sie das »Einwandererproblem« in den 
Vordergrund. In den Protesten haben sie bisher keinen grossen 
Einfluss, aber das kann sich aendern. Viele buergerliche Demonstranten 
fuehlen sich unwohl angesichts der zunehmenden Einwanderung. Besonders 
Migranten aus dem Nordkaukasus, bei denen islamistische Einstellungen 
verbreitet sind, wecken Misstrauen. Schlaue Politiker wie Alexei 
Nawalny, ein bekannter Blogger und Anti-Korruptions-Aktivist, 
versuchen, mit diesen Gefuehlen zu spielen. Er nennt sich 
einen »nationalen Demokraten« und aeussert sich besorgt ueber die 
Imigrationspolitik und darueber, dass »wir den Kaukasus 
durchfuettern«, wie er sich ausdrueckt.
ak: Und die Linken?
Petrov: Es gibt Linke, die die Ereignisse kritisieren. »Das ist eine 
falsche Revolution, da machen wir nicht mit.« Diese Leute sitzen auf 
ihren Sofas und verfassen Pamphlete, die kein Mensch liest. Das 
Tragische ist, dass sie sich damit selbst komplett aus dem 
historischen Prozess, in dem wir stecken, hinausbefoerdern. Es gibt 
auch ein paar neomarxistische Gruppen, die zu den Protesten gehen und 
dort ihre Propaganda verteilen. Aber sie haben es nicht hinbekommen, 
in den selbstorganisierten Komitees mitzuarbeiten, die seitdem 
entstanden sind. Manche weigern sich, sich mit liberalen und rechten, 
nationalistischen Kraeften in einen Raum zu setzen und ueberlassen 
diesen das Feld. Man darf nicht vergessen: Im Moment ist die 
Anti-Putin-Stimmung wirklich die einzige gemeinsame Grundlage des 
Protestmilieus. Und schliesslich sind da noch die anarchistischen 
Gruppen. Auch sie haben versucht, ihre Botschaft zu verbreiten. Aber 
sie sind - welch eine Ironie! - die unorganisierteste linke Gruppe.
ak: Das heisst, die Linke hat keinen Einfluss auf die Ereignisse?
Petrov: Nicht wirklich. Ich muss aber auch zugeben, dass die Linken 
den Leuten nichts anzubieten haben. Wie gesagt, den meisten 
Demonstranten geht es um freie Wahlen, weniger Korruption und vor 
allem darum, dass Putin zuruecktritt. Wenn du da etwas von freier 
Bildung, kostenloser Gesundheitsversorgung und progressiver 
Besteuerung erzaehlst oder andere soziale Probleme ansprichst, rennst 
du nicht gerade offene Tueren ein. Die Liberalen hueten sich, solche 
Themen anzusprechen, schliesslich werden sie die gleiche antisoziale 
Politik machen wie die jetzige Regierung, falls sie irgendwann mal an 
die Macht kommen.
ak: Du sagst, die Leute sind unzufrieden mit der Politik der 
Regierung. Ist von dieser wachsenden Unzufriedenheit auch im Alltag 
etwas zu merken? Gibt es zum Beispiel neue Subkulturen? Oder mehr 
Konflikte im Arbeitsleben?
Petrov: Die meisten Leute glauben ueberhaupt nicht an parlamentarische 
Politik. Sie wissen, dass die Entscheidungen woanders gefaellt werden; 
nur sehr naive Menschen aus der Mittelschicht glauben, dass sich alles 
aendern wuerde, wenn wir »faire« Wahlen haetten. Das ist natuerlich 
Unsinn, man sieht es ja auch an den Protesten, die ueberall auf der 
Welt stattfinden.
ak: Wie geht es jetzt weiter?
Petrov: Am 4. Maerz sind erstmal Praesidentschaftswahlen. Danach wird 
es heftige Proteste geben, das ist sicher! Viele Leute werden sehr 
enttaeuscht sein. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass die Leute 
aggressiver werden und die Proteste militanter. Ich glaube es ist 
moeglich, die Lage zu eskalieren.
ak: Was meinst du, wie wird die Regierung damit umgehen?
Petrov: Fuer Putin waere es wahrscheinlich das Beste, die 
Praesidentschaftswahlen erst im zweiten Durchgang zu gewinnen. Er hat 
jetzt angekuendigt, Webcams zu installieren, um zu beweisen, dass die 
Wahlen sauber sind. Trotzdem gibt es keinen Zweifel, dass es wieder 
Faelschungen geben wird. Wenn er es schlau anstellt, gewinnt er erst 
im zweiten Wahlgang, das wuerde nach richtig schoen demokratischen 
Wahlen aussehen. Das koennte die Empoerung vielleicht etwas bremsen. 
Aber wie soll man sich das ausmalen? Die einzige Person, die ebenfalls 
den zweiten Wahlgang erreichen koennte, ist Gennadij Sjuganow, der 
Vorsitzende der »Kommunistischen Partei« - die alles Moegliche ist, 
aber ganz bestimmt nicht links oder kommunistisch. Sollte er es 
irgendwie schaffen, die Wahlen durch Proteststimmen zu gewinnen, weil 
die Leute fuer egal wen stimmen, Hauptsache gegen Putin, wird er 
sicher zugunsten Putins verzichten. Aber vielleicht spart sich die 
Regierung das ganze Theater und loest die Sache mit Gewalt, so wie 
ueblich.
So oder so bin ich ueberzeugt, dass Putins Ende naeher rueckt. 
Vielleicht hat er noch ein oder zwei Jahre. Aber auf jeden Fall wird 
es blutig werden.
ak: Irgendwann mussten wir diese Frage ja stellen: Siehst du einen 
Zusammenhang zwischen den russischen Protesten und der weltweiten 
Protestwelle von 2011, den arabischen Revolutionen usw.?
Petrov: Es gibt genau drei Verbindungen: erstens das Internet, das es 
vielen Leuten ermoeglicht hat, miteinander zu kommunizieren und zu 
Protesten zu mobilisieren. Zweitens ist durch die Kaempfe, die es in 
den letzten Jahren in anderen Laendern gegeben hat, auch in Russland 
der Protest in Mode gekommen. Und die dritte Verbindung besteht in der 
weltweiten Wirtschaftskrise, die im Moment alle Kaempfe miteinander in 
Beziehung setzt, ob wir es wollen oder nicht.
(gek.)
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Wladimir Petrov lebt in Moskau und ist seit mehreren Jahren in der 
russischen Antifaszene aktiv. Er hat sich in der Bewegung fuer den 
Khimki-Wald engagiert, einer der groessten Oekologiekampagnen seit dem 
Ende der Sowjetunion, und arbeitet an dem anarchistischen Videomagazin 
Burevestnik TV mit.
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Volltext: analyse & kritik - zeitung fuer linke Debatte und Praxis / 
Nr. 569 / 17.2.2012, http://www.akweb.de/ak_s/ak569/39.htm
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