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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 29. Februar 2012; 05:29
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Das Letzte:

> EU-Grundrechtecharta: Religion nur auf Deutsch

Laut SPD-Bundestagsmitglied *Rolf Schwanitz* hat sich bei der
Uebersetzung der EU-Grundrechtecharta "die Religion" in die deutsche
Uebersetzung "hineingeschmuggelt" -- in der Fassung der anderen
Amtssprachen fehlt ein ausdruecklicher Hinweis auf die Religiositaet.
Schwanitz ging der Sache auf den Grund.
*

Die deutsche Fassung von Satz 2 der Praeambel der Grundrechtscharta
der Europaeischen Union vom 12. Dezember 2007 lautet: "In dem
Bewusstsein ihres geistig-religioesen und sittlichen Erbes gruendet
die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Wuerde des
Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidaritaet". In der
Literatur findet sich allerdings zum Wort "religioesen" folgender
Hinweis: In der Fassung der anderen Amtssprachen fehlt ein
ausdruecklicher Hinweis auf die Religioesitaet. So heisst es etwa im
Englischen: "spiritual and moral heritage", im Franzoesischen:
"patrimoine spirituel et moral". Die Wendung "spiritual and moral"
wurde im Uebrigen bewusst aus der Praeambel der Satzung des
Europarates vom 5. Mai 1949 uebernommen, wo sie in der amtlichen
deutschen Uebersetzung mit "geistig und moralisch" wiedergegeben wird.
Diese Unterschiede in den amtlichen Fassungen der Praeambel machen
neugierig. Wie ist es dazu gekommen?

Nach einiger Recherche zeigt sich, dass der Vorgang vor nunmehr zwoelf
Jahren keineswegs verdeckt abgelaufen ist, sondern damals auf EU-Ebene
sehr umstritten war und gut dokumentiert worden ist. In einer auch im
Internet nachlesbaren Publikation von Mattias Triebel [1] wird die
damalige Debatte im europaeischen Konvent zur Erarbeitung der
Grundrechtecharta anschaulich beschrieben.

Stellungnahme der deutschen Bundesregierung

In Kenntnis der von Triebel beschriebenen Ablaeufe habe ich die
Bundesregierung am 6. Februar 2012 nach den Regeln des Deutschen
Bundestages mit einer schriftlichen Frage konfrontiert. Ich wollte
wissen: "Haelt die Bundesregierung die inhaltliche Abweichung in Satz
2 der Praeambel der Charta der Grundrechte der Europaeischen Union
zwischen der amtlichen englischen Fassung ‚spiritual and moral' und
der auf der Homepage des Bundesministeriums der Justiz
veroeffentlichten amtlichen deutschen Fassung ‚geistig-religioesen und
sittlichen' fuer zulaessig und sprachlich generell anwendbar?"

Der Parlamentarische Staatssekretaer bei der Bundesjustizministerin,
Dr. Max Stadler (FDP), antwortete darauf am 13. Februar 2012
stellvertretend fuer die Bundesregierung: "Auf der Homepage des
Bundesministeriums der Justiz ist als PDF-Dokument die amtliche
Fassung der Charta der Grundrechte der Europaeischen Union in der
Amtssprache Deutsch als Veroeffentlichung des Amtsblatts der
Europaeischen Union, Nr. C 364 vom 18. Dezember 2000, Seite 1,
abrufbar. Nach Artikel 55 des Vertrages ueber die Europaeische Union
sind die Sprachfassungen des Primaerrechts in jedem Wortlaut
gleichermassen verbindlich. Aussagen ueber die generelle sprachliche
Anwendbarkeit dieser Formulierungen sind damit nicht verbunden."

Mit dieser Antwort kann also noch einmal festgehalten werden:
Lediglich in der deutschen Fassung von Satz 2 der Praeambel der Charta
der Grundrechte der Europaeischen Union wird ueber das angebliche
Bewusstsein der EU eines "religioesen Erbes" im Zusammenhang mit den
unteilbaren und universellen Grundsaetze der Menschenwuerde, der
Freiheit, der Gleichheit und der Solidaritaet gesprochen. Die anderen
offiziellen Fassungen der Grundrechtecharta kennen eine solche
Erwaehnung nicht. Sie schreiben der Religion in diesem Zusammenhang
nicht die Rolle eines praegenden Erbes zu. Die inhaltlich abweichende
deutsche Fassung war das Resultat eines hart ausgetragenen Konfliktes
ueber diese Frage im damaligen Konvent. Dieser Konflikt endete weder
in einem Konsens noch in einem Formelkompromiss. Die kirchliche
Auffassung zum Thema blieb, getragen von den konservativen Teilnehmern
im Konvent, letztlich lediglich in der deutschen Fassung erhalten.
Diese Abweichung wurde als ein angebliches Uebersetzungsproblem
getarnt und legitimiert. Deshalb existiert heute das rechtliche
Kuriosum, dass es zu dieser "Erbschaftsfrage" in der Europaeischen
Union gleichermassen verbindliche, aber inhaltlich verschiedene
Fassungen der Grundrechtscharta gibt. Die Bundesregierung ist sich
ueber diese inhaltliche Abweichung voellig im Klaren, weshalb sie
ausdruecklich darauf verweist, dass die in der deutschen Fassung
angewandte Uebersetzung keine generelle sprachliche Anwendbarkeit
besitzt.

Klerikaler Lobbyismus

Damit das Bild von der Entstehung der inhaltlichen Abweichung in der
deutschen Fassung der Praeambel der EU-Grundrechtecharta auch unter
dem Gesichtspunkt des klerikalen Lobbyismus noch etwas plastischer
wird, sei zum Schluss noch einiges zum Konvent-Mitglied Dr. Ingo
Friedrich erwaehnt. Friedrich taucht in dem von Matthias Triebel
beschriebenen Konflikt im Konvent ueber das "religioese Erbe" mehrfach
auf. Friedrich war bis 2009 fuer die CSU Mitglied im Europaparlament
und in dieser Funktion auch Angehoeriger des Konvents. Zugleich war
Friedrich Landesvorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises (EAK)
der CSU und stellvertretender Bundesvorsitzender des EAK der CDU/CSU.

Im Internet ist unter dem Titel "Lobbyismus und Gesetzgebungsverfahren
in der EU" [2] ein Vortrag zu finden, den Friedrich offensichtlich
anlaesslich einer Tagung "Christ+Jurist" gehalten hat. In diesem
Vortrag aeussert sich Friedrich ausfuehrlich zu den damaligen
Ereignissen und zu seinem Verstaendnis gegenueber einem christlichen
Lobbyismus in der Gesetzgebung. Diese Aeusserungen sollen hier nicht
unterschlagen werden. Sie runden das Bild ueber die damaligen
Ereignisse eindrucksvoll ab. Friedrich sagte ausweislich des
Redemanuskripts unter anderem:

"Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen kurz die Genese der
EU-Grundrechtecharta skizziere, im Rahmen derer die Einbringung
christlicher Werte in das Gesetzgebungsverfahren eine besondere Rolle
gespielt hat. Zudem war ich an der Entstehung der Grundrechtecharta
unmittelbar beteiligt, so dass ich, wie von Ihnen gewuenscht, ein
wenig aus dem Naehkaestchen plaudern kann. ... In der ersten Fassung der
Praeambel fehlte in der Tat jeglicher religioese Bezug, wohingegen das
Grundrecht Religionsfreiheit von Beginn an vorgesehen war. Saemtliche
Kirchenvertreter, die den Entstehungsprozess der Charta intensiv
mitverfolgt haben, haben sich engagiert eingebracht, um in der
Praeambel einen Gottesbezug zu verankern. Als Wortfuehrer der
christdemokratischen Delegation innerhalb des Konventes und
Vorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises der CSU (EAK) bin ich
froh, dass es der christdemokratischen Delegation gelungen ist, zwar
nicht das Wort ‚Gott', aber das geistig-religioese Erbe Europas in der
Praeambel des Entwurfes der Charta schliesslich (...) zu verankern. (...)
Die Durchsetzung dieser Formulierung bedurfte eines monatelangen
Kampfes und grossen Auseinandersetzungen, weil starke Gegenkraefte
ueberwunden werden mussten. (...) In diesem Fall war ich als
Abgeordneter und Mitglied des EU-Grundrechtekonvents sozusagen selbst
ein Lobbyist. Und das aus Ueberzeugung, weil ich glaube, dass Europa
gut daran tut, sich seiner christlich-abendlaendischen Wurzeln zu
erinnern. Meine Erfahrung in dieser ‚aktiven Lobbyarbeit' lehrt, dass
die informellen Gespraeche, Kontakte und Netzwerke neben den
offiziellen und formellen Kontakten und Beschluessen einen
entscheidenden Beitrag zum Erfolg geleistet haben."
(Humanistischer Pressedienst/bearb.)

Originaltext: http://hpd.de/node/12914

[1] Matthias Triebel, Religion und Religionsgemeinschaften im
kuenftigen Europaeischen Verfassungsvertrag, NomoK{AT}non-Webdokument,
Rdnr. 1-88. http://www.nomokanon.de/abhandlungen/014.htm

[2]
http://politiker-portal.solemedia.de/no_cache/hn/meine-arbeit/aufsaetze-und-reden/article/rede-von-dr-ingo-friedrich-anlaesslich-der-tagung-christ-jurist.html



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