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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 17. Jaenner 2012; 23:49
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Debatten/Medien:

> Wikipedia in Mahagonny (AUDIO)

"If Wikipedia Says It, It Must Be True" so heisst eine Gruppe auf
Facebook. Damit ist schon fast alles gesagt: Wikipedia wird heute als
Referenz fuer alles genommen. Du willst etwas ueber die US-Verfassung,
Kannibalismus oder die Elektronenkonfiguration von Kohlenstoff wissen?
Schlag nach bei Wikipedia!

Und dann gibt es diejenigen, die sagen: Wikipedia luegt! Zuletzt hatte
ein kalifornischer Student eine Datenbank angelegt, in der er
automatisiert Wikipedia-Artikel und die IP-Adressen der Autoren
verknuepfte. Eine weitere Verknuepfung der fixen IP-Adressen mit ihren
bekannten Besitzern ergab, dass Grosskonzerne und Regierungen massiv
an Wikipedia-Artikeln rumdoktern! Grosse Empoerung!

Ohne die Arbeit des Informatikers herabsetzen zu wollen (schliesslich
lieferte er in der Debatte um Wikipedia stichhaltige Beweise), ist
doch die Empoerung unangebracht. Was habt ihr Empoerten geglaubt? Da
gibt es ein neues Standardwerk der Information, auf das jeder Mensch
mit Internetzugang gestaltenden Zugriff hat -- und ausgerechnet die
Maechtigen dieser Welt werden sich dort nicht engagieren?

Wikipedia ist ein Lexikon, das mittels eines Mit-mach-Konzeptes
erstellt wird. Laengst sprengt dieses Lexikon die Wissensfuelle aller
herkoemmlichen Lexika. Die meisten, die daran arbeiten, werden nicht
dafuer bezahlt -- aber deswegen ist es kein besseres Lexikon, denn wir
leben in einer Welt, die von Kapitalismus und autoritaeren Regierungen
dominiert wird.

Man hat sich Wikipedia als demokratisches Instrument vorgestellt. Das
ist es auch, denn diese Maechtigen bekommen ihr Contra auf den
Wikipedia-Seiten sehr wohl. Aber natuerlich findet sich auf Wikipedia
nicht nur "objektives" Wissen, das von Menschen ohne materielle oder
sonstwie manifeste Interessen eingespeist wird.

Die Empoerung darueber, dass Wikipedia kein "unschuldiges" objektives
Medium ist, ist laecherlich. Zum Einen ist "Objektivitaet" zwar ein
Wunschbild, an dem man sich in der Wissensvermittlung orientieren kann
und auch soll, das aber niemals hundertprozentig erreicht werden kann.
Hoechstens ein Durchschnitt, eine Synthese aller Subjektivitaeten
mittels einer "Schwarmintelligenz" ist so erreichbar.

Zum Anderen zeigt diese Empoerung aber vor allem unseren immer noch
manifesten Glauben an publizistische Autoritaeten. "Und dieses ganze
Mahagonny ist nur, weil alles so schlecht ist! Keine Ruhe, keine
Eintracht und nichts, woran man sich halten kann!" heisst es in Bert
Brechts Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny". Wir wollen eine
garantierte, immer die volle Wahrheit verbreitende Instanz. Sonst sind
wir verunsichert.

Es ist sicher ein Anfang, Zeitungen und Fernsehen zu misstrauen,
Medienkompetenz ist das aber noch lange nicht. Auch zum Beispiel den
alten Platzhirschen des universellen Wissens wie Meyer oder Brockhaus
(quasi den Vorlaeufern von Wikipedia) musste man immer Skepsis
entgegenbringen -- da war zu den meisten Zeiten die Information zwar
um einiges serioeser als in den Tagesmedien, aber auch hier fand sich
hoechstens der common sense der jeweiligen Epoche.

Da ist Wikipedia in bestimmter Hinsicht sogar viel objektiver. Denn
hier kann man die Aenderungen sowie bisweilen auch Links auf
Originalquellen nachverfolgen und es gibt eine Diskussionsseite -- nur
muss man diese Moeglichkeiten nutzen, wenn einem etwas komisch
vorkommt. Das ist viel Aufwand, aber er ist oft notwendig, denn die
Illusion von unserer Medienwelt jederzeit ohne einen solchen Aufwand
ueber jedes Thema Informationen bekommen zu koennen, die in
irgendeinem Sinne auch nur als "korrekt" anzusehen sind, muss man
endlich aufgeben.

Information war immer schon ein umkaempftes Gut. Nicht nur
Geheimdienste Und Grosskonzerne gieren nach moeglichst korrekten
Informationen und produzieren dafuer zum Ausgleich Fehlinformationen.
Jeder Mensch verzerrt tagtaeglich Informationen, sei es nach dem
Stille-Post-Prinzip oder weil er einen Teil des Erfahrenen nicht
wahrhaben will oder aus purer Absicht. Und diese Verzerrung findet
auch bei groesstmoeglicher "Objektivitaet" oder "Seriositaet" immer
wieder aufs Neue ihre Rezipienten und Multiplikatoren.

In einer Gesellschaft aber, in der Information zum einen ein Gut ist,
dass so wichtig ist wie nie zuvor und dementsprechend umkaempft, zum
anderen jedoch moeglichst billig und schnell produziert werden soll,
ist der Glaube an Distributoren "absoluter Wahrheit" noch weniger
angebracht als er es bislang war. Sowas koennen hoechstens Religionen
liefern, aber die bieten halt leider Glauben statt Wissen an. Uns, die
wir wissen wollen, bleibt nichts anderes uebrig, als in einer Welt zu
verharren, wo wir uns brauchbare Information immer wieder neu
erkaempfen muessen und trotzdem zu akzeptieren haben, dass wir niemals
in den Besitz der absoluten Erkenntnis gelangen werden -- und auch,
dass es diese gar nicht gibt.

Wikipedia kann da wirklich nichts dafuer.
*Bernhard Redl*



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