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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 17. Jaenner 2012; 23:51
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Libyen/Geschichte:
> Muammar al-Gaddafi - von wegen verrueckt!
Eine Skizze zur Geschichte seines nationalen Projekts
Ueber den verblichenen libyschen Diktator war sich die oeffentliche 
Meinung im Westen schon zu seinen Lebenszeiten einig: Das Adjektiv 
"verrueckt" fie im Zusammenhang mit ihm ziemlich oft. Doch wenn man 
den Blick weniger auf seinen Kleidungsgeschmack, sondern auf seinen 
politischen Werdegang richtet, erscheint der Verstorbene in einem 
etwas anderen Licht. Wer also war Muammar al-Gaddafi?
Westlich ausgebildeter Nationgruender
Gaddafi gehoerte zu einer Generation von arabischen Militaers, die 
nach dem Ende der Kolonialzeit mit den Verhaeltnissen in den neu 
entstandenen Staaten nicht zufrieden waren. Viele dieser Militaers 
absolvierten eine Ausbildung bei den frueheren Kolonialmaechten, so 
z.B. Gaddafi in Grossbritannien. Dort konnten sie beobachten, wie 
erfolgreiche Weltmaechte funktionieren: Naemlich als Nationalstaaten 
mit einem Staatsvolk, welches an seinem Staat interessiert ist und 
sich selbst fuer den Staat nuetzlich macht.
Bei den arabischen Militaers zu Hause, also im Nahen Osten, herrschten 
hingegen von Kolonisatoren eingesetzte Monarchen ueber Clans und 
Stammesverbaende, die fuer ihre Mitglieder viel wichtiger waren als 
der Gesamtstaat. Die Monarchen gaben sich mit der persoenlichen 
Loyalitaet der Clan-Fuehrer zufrieden und ueberliessen den ehemaligen 
Kolonisatoren den Abbau der Rohstoffe gegen Geld, was ihrer 
persoenlichen Bereicherung diente.
Die Offiziere, die im September 1969 den ersten und letzten libyschen 
Koenig Idris I. stuerzten, hatten sich fest vorgenommen, aus den 
Untertanen patriotische Staatsbuerger zu formen. Sie schlossen 
westliche Militaerstuetzpunkte, enteigneten italienische Grundbesitzer 
und begannen damit, die Foerderung und den Export von Erdoel zu 
verstaatlichen. War das Erdoel bisher die Grundlage des auslaendischen 
Einflusses in Libyen, sollte es jetzt zum Mittel der nationalen 
Unabhaengigkeit werden.
Der Bevoelkerung musste erst einmal beigebracht werden, dass sie jetzt 
eine libysche Nation sei, in der die einzelnen Clans als Teil des 
grossen Ganzen ihren Platz haben. Der massive Ausbau des 
Bildungssystems und Alphabetisierungsoffensiven waren noetig, um die 
Fruchtbarkeit von staatlicher Propaganda und Nationalstaatsprogramm 
ueberhaupt zu ermoeglichen. Mit den Einnahmen aus dem Oelexport 
finanzierten die neuen Machthaber einige Massnahmen zur Instandhaltung 
ihrer Manoevriermasse - des Staatsvolkes:In Afrika war solch ein 
Verhaeltnis von einem Staat zu seinen Buergern tatsaechlich etwas 
Neues. Das hoechste Pro-Kopf-Einkommen auf dem Kontinent, 
Gesundheitsversorgung und Bildung fuer groessere Teile der 
Bevoelkerung liessen Libyen im vorteilhaften Licht erscheinen - im 
Vergleich zu anderen afrikanischen Staaten, wo der Staatsapparat den 
Rest des Staatsvolkes als kaum nuetzlich ansieht und mit dessen 
Loyalitaet nicht rechnet.
Demokratieidealist und Diktator
Zwar uebernahm Gaddafi die Macht zusammen mit anderen Militaers, aber 
im Laufe der siebziger Jahre verdraengte er die Armeefuehrung von der 
Macht und wurde zum faktischen Alleinherrscher. Waehrenddessen loeste 
er sich zunehmend von seinem bisherigen Vorbild , dem aegyptischen 
Praesidenten Nasser, und entwarf sein eigenes "Sozialismusmodell". An 
Stelle von Parteien (genau genommen gab es zuvor nur eine) und 
Militaerregierung sollte die ganz unmittelbare Herrschaft des Volkes 
treten. Das war seine Konsequenz aus der Analyse anderer 
Herrschaftsformen: Gaddafi geisselte parlamentarische Demokratie als 
Betrug. Er kritisierte Parteien und Parlamente fuer die Verfaelschung 
des "wahren Volkswillens". Am sowjetischen System wiederum kritisierte 
der Oberst, dass das die Diktatur einer Klasse sei. Die libysche 
Alternative sollte lauten: Dschamahirija, die "Herrschaft der Massen". 
Eine "echte" Demokratie koenne nur direkt sein, so lautete nun die 
Parole. Mit seinen pathetischen Hinweisen darauf, dass Volksvertreter 
in Parlamenten nicht das beschliessen, was das Volk wirklich will, 
sprach er vielen Linken aus dem Herzen. Seine Vorstellung, ein richtig 
geeintes Volk haette einen einheitlichen Willen, den eine 
entschlossene Fuehrung nur noch umsetzen muesse, brachte das 
faschistische an der Dschamahirija-Staatskonzeption auf den Punkt. Die 
Pilgerreisenden von links und rechts verbreiteten schwaermerische 
Berichte ueber die Einigkeit, die zwischen Volk und Oberstem 
Revolutionsfuehrer herrschte. Faktisch war es immer noch so, dass fuer 
die Entscheidungen Delegierte entsandt wurden, alle Entscheidungen des 
"Volkskomitees" allerdings von der "revolutionaeren Fuehrung" 
jederzeit aufgehoben werden konnten und ueber die Arbeit der 
"Volkskomitees" wiederum die "Revolutionaeren Komitees", die nur aus 
loyalen Kraeften bestanden, mit Argusaugen wachten.
Gaddafi klagte jegliche Politik, die ihm nicht passte, formell als 
"undemokratisch" an. Als Kritiker jeglicher Repraesentanz und 
Delegation reklamierte er fuer sich, die vereinigte Stimme des Volkes 
direkt zu vernehmen. Es war diese Stimme, die ihn ueber die Jahre zum 
Weiterherrschen ermunterte. Da aller Volksideologie zum Trotz, in der 
Bevoelkerung allerdings nach wie vor politische und oekonomische 
Interessenskonflikte produziert und reproduziert wurden, sah sich der 
Staat immer wieder veranlasst durchzugreifen, um die vermeintlichen 
Volksinteressen durchzudruecken.
Kommunistenschlaechter und Partner des Ostblocks
Anfaenglich war Gaddafi dem Kommunismus und dem Ostblock recht 
feindlich gesonnen. Noch 1971 half er dem sudanesischen Diktator 
Numairi bei der Eliminierung einer der groessten kommunistischen 
Parteien Afrikas und des Nahen Ostens - der Sudanese Communist Party. 
Doch ab der zweiten Haelfte der siebziger Jahre fanden Libyen und die 
UdSSR auf Grundlage der gemeinsamen Feindschaft zur NATO und zu Israel 
zueinander. Seit dem Machtantritt von Ronald Reagan als US-Praesident 
wurde Gaddafi im Westen als de-facto Kommunist in einem Atemzug mit 
Fidel Castro und Kim Il-Sung genannt.
Doch auch wenn Libyen im Osten einen neuen Kaeufer fuer sein Erdoel 
und eine neue Quelle fuer (die stets benoetigten, aber vom Westen 
verweigerten) Waffen fand, betonte Gaddafi stets die Unabhaengigkeit 
seines "Dritten Weges". Waehrend andere Linksnationalisten in der 
arabischen Welt der Freundschaft mit Moskau zuliebe zwischendurch mit 
gezaehmten KPs paktierten, liess der Autor der "Dritten Welttheorie" 
bei sich keinerlei kommunistische Umtriebe aufkommen. Libyen verbot 
Marx-Werke und die UdSSR ihrerseits unterband alle Versuche, das 
"Gruene Buch" des Obersten Revolutionsfuehrers bei sich zu verbreiten.
Antiimperialist und Partner des Westens
Trotz der Betonung der libyschen Unabhaengigkeit liefen die Geschaefte 
mit dem Westen bestens. Noch 1980 erreichte das amerikanisch-libysche 
Handelsvolumen seinen Hoehepunkt. Vor moeglichen, auch militaerischen 
Interventionen durch die kapitalistischen Kaeuferlaender schuetzten 
Libyen die im Ostblock in rauen Mengen erworbenen Waffen. Dabei musste 
Gaddafi von Anfang an Kompromisse eingehen: Die Enteignung der 
westlicher Konzerne etwa verlief nicht ohne Entschaedigung, die 
westlichen Militaerbasen wurden geschlossen auf Grundlage der 
Zusicherung, dass es keine sowjetische Militaerbasen in Libyen geben 
wird. Das ist ein Hinweis auf den dauerhaften Widerspruch, der in 
Gaddafis nationalem Projekt angelegt war: Die Grundlage seines 
Unabhaengigkeitsgebarens waren die hohen Oelpreise und grosse 
Nachfrage danach - und zwar genau in jenen Laendern, von denen sich 
Libyen unabhaengig machen wollte.
Doch das heisst nicht, dass der libysche Staat seinen 
antiimperialistischen Anspruch nicht ernst nahm. Das Ausgangsproblem, 
dass die westlichen Grossmaechte deutlich mehr auf dem afrikanischen 
Kontinent zu sagen hatten als die unabhaengig gewordenen Ex-Kolonien, 
blieb. Libyen war jetzt ein Nationalstaat, aber im internationalen 
Vergleich ein recht unbedeutender. So viel hatte Oberst Gaddafi schon 
gelernt, dass man so etwas nicht auf sich sitzen liess - und versuchte 
fleissig sich in alle nahen und fernen Konflikte zu intervenieren:wie 
es sich fuer eine Weltmacht gehoert. Egal ob er alle Araber, alle 
Moslems oder alle Afrikaner unter libyscher Initiative vereinen 
wollte; ob er palaestinensische Splittergruppen, afrikanische 
Diktatoren oder britische Trotzkisten mal mehr, mal weniger 
grosszuegig unterstuetzte - das Ziel, sich wie ein Staatschef vom 
Kaliber seiner Gegner aufzufuehren, verlor er nicht aus den Augen. 
Gaddafis Anti-Imperialismus war eine versuchte Nachahmung der 
Aussenpolitik seiner Partner und Widersacher.
In den achtziger Jahren raechten sich die USA und spaeter auch ihre 
Verbuendeten durch Wirtschaftsembargos und Luftangriffe. Die 
Unterstuetzung aus dem Ostblock fiel bald auch noch weg. Gaddafi 
musste sich umorientieren. Erst wechselte er sein Image vom 
Terroristenunterstuetzer zum Friedensstifter. Mal wurden mit libyscher 
Vermittlung westliche Geiseln in islamischen Laendern freigepresst, 
mal initiierte er eine fuer den Westen recht nuetzliche Afrikanischen 
Union (AU), welche sich kostenguenstig um die Aufsicht ueber Konflikte 
auf dem Kontinent kuemmert.
Spaetestens ab 2003 war auch Schluss mit den 
sozialistisch-sozialstaatlichen Experimenten: Der Aufbau des 
"Volkskapitalismus" wurde verkuendet. Eine riesige Welle von 
Privatisierungen rollte ueber das Land. Fuer die EU war der Chef des 
Mittelmeerstaates Libyen aber auch als Kerkermeister von grosser 
Bedeutung, als er, der fruehereVerkuender der internationalen 
Solidaritaet, nun begann, afrikanische Fluechtlinge noch vor ihrer 
Seereise auf dem Mittelmeer abzufangen und in Lager zu sperren. 
Ausserdem war der Westen nach dem 11. September so ueber den 
Islamismus besorgt und Libyen wiederum so auf auslaendisches Kapital 
angewiesen, dass man sich recht problemlos einigte.
Kaum war der ehemalige "bad guy" rehabilitiert, schon ging der 
"arabische Fruehling" los und die neuen Freunde liessen Gaddafi, der 
an eine Abgabe der Macht nicht dachte, prompt fallen. Moegen die 
Medien noch so sehr von den friedlichen Revolutionen schwaermen, 
Gaddafi hat demonstriert, dass Proteste auf der Strasse, und moegen 
die noch so zahlreich sein, fuer den Staat noch kein Grund sein 
muessen einzulenken. Er griff zu dem Mittel, das alle Staaten im Falle 
von massiver Stoerung ihrer Funktionen vorsehen: dem Notstand und 
damit einhergehend dem ruecksichtslosen Gebrauch von Gewaltmitteln 
zwecks Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols. Das wurde ihm 
sehr uebel genommen - die Oeffentlichkeit der demokratischen Laender, 
auch solcher mit Notstandgesetzen, empoerte sich darueber, dass 
Gaddafi sein eigenes Volk zusammenschiesse. Dem kann man entnehmen, 
dass es tatsaechlich fuer verwerflicher gehalten wird, das eigene 
statt eines fremden Volkes umzubringen
Ungeachtet des schwachen Protests einiger rechter US-Republikaner (die 
den Oberst fuer das kleinere Uebel gegenueber Islamisten hielten) und 
antiimperialistischen Linken (die teils Gaddafis fruehere Verdienste 
noch schaetzten, teils es einfach unfair finden, wenn staerkere 
Staaten sich in die Angelegenheiten der schwaecheren einmischen) wurde 
Gaddafis Dschamahirija mit NATO-Bomben eingedeckt.
(Gruppe "Kritik im Handgemenge", Bremen)
http://www.junge-linke.de
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Anmerkung der Korrekturleserin: Ist es moeglich, sich darauf zu 
einigen, dass Macht prinzipiell verrueckt macht? Wer ueber mehrere 
Jahre an der Macht ist, wird psychisch geschaedigt, und zwar derart 
stark geschaedigt, dass sich garantiert eine Bezeichnung dafuer finden 
laesst. Im Interesse der Gesundheit unserer lieben Regierenden sollte 
also niemand laenger als eine Woche an der Macht sein, am besten waere 
wohl eine Viertelstunde. -ig-
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