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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 9. November 2011; 01:01
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Occupy/Linke/Debatte:

> Wir sind die 100%

Ueber die Aufklaerung und "neue Bewegungen"


Vor etwas mehr als 500 Jahren wurde der Buchdruck mit beweglichen
Lettern erfunden. Mit einem Schlag waren Buecher und ihr enthaltenes
Wissen billiger und damit zugaenglicher geworden. Der Gedanke, das
Wissen vielleicht nicht in irgendwelchen Kloestern vor sich
hinschimmeln muss, konnte nun gefasst werden.

Damit kann man den Buchdruck wohl als materialistische Grundlage fuer
die Aufklaerung betrachten; die Aufklaerung, die letztlich den
absolutistischen Regenten den Kopf und den geistlichen Huetern des
Wissens den Kragen kostete. Ein Meilenstein in der Emanzipation, im
Kampf um die Befreiung der Individuen.

Der Druck entwickelte sich weiter, und im 19. Jahrhundert
ermoeglichten Setzmaschinen das schnellere Erstellen von
Druckvorlagen. Buecher wurden zu Massenmedien, und in zahlreichen
Zeitschriften gab es die erste Moeglichkeit fuer eine Vielzahl von
AutorInnen, ihr Wissen darzulegen und oeffentlich zu diskutieren. Die
sozialistische Bewegung des vorvorigen Jahrhunderts kennt eine
Vielzahl solcher Zeitschriften. Vielleicht koennte man diese sogar als
Motor der sozialistischen Revolutionen bezeichnen.

Spaetestens seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts ueberwand dann
mit der massiven Verbreitung von Fotokopierern das gedruckte Wort die
letzte Schwelle von der Institution in Richtung Individuum - mit
Schreibmaschinen verfasste Schriftstuecke konnten nun abgelichtet und
vervielfaeltigt werden, wo immer sich ein Kopierer befand.

Vorsichtig ausgedrueckt kann man zumindest behaupten: Neuerungen in
der Drucktechnik koennen einen grossen Schritt vorwaerts fuer die
Aufklaerung bedeuten -- die nach Immanuel Kant "den Ausgang des
Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmuendigkeit" darstellt.

Das Netz -- die neue Qualitaet der Kommunikation

Irgendwann in den 70ern fiel der Startschuss fuer etwas Neues. Ein
digitales Netzwerk ermoeglichte es den Menschen, Texte zu
veroeffentlichen, ohne die Probleme, die Verlag und Vertrieb selbst
bei kopierten "Flugis" noch boten. Das Papier wurde fuer diese
Kommunikationsform ueberfluessig. Briefe konnten nun elektronisch
verschickt werden. Dieses Netzwerk weitete sich zum WorldWideWeb aus,
Anfang der Neunziger konnten dann Browser auch grafische Inhalte
darstellen und machten das Internet damit noch attraktiver. Etwa 10
Jahre spaeter war auch hier die Huerde zwischen Individuum (User) und
Institution (Provider) endgueltig durchbrochen. Web 2.0 ist das
Schlagwort, es bedeutet, dass jedeR BenutzerIn jeden erdenklichen
Content (Inhalt) nicht nur lesen sondern auch beliebig erstellen und
publizieren kann.

Wenn der Buchdruck mit jeder Revolution, die er erfahren hat, eine
Revolution in der Gesellschaft ausloesen konnte, so muesste auch
diesmal eine neue Welle der Revolution um die Welt gehen.

Und wer nicht ganz auf die aktuellen Informationen zur Lage der Welt
verzichtet, dem wird nicht entgangen sein, dass diese Revolution
stattfindet. Was im arabischen Raum eine physische Revolution samt
Umstuerzen war, fand seine Auslaeufer in Protesten rund um den Globus.
Ein Franzose forderte "Empoert euch" (akin 3/2011), andere schrieben
ueber den kommenden Aufstand, auch in Europa campiert man auf
oeffentlichen Plaetzen und die #occupy Bewegung versucht in Fahrt zu
kommen. Begleitet wird das alles von Hacker-Angriffen der
Anonymous-Gruppen, welche von Zeit zu Zeit auch physisch praesent
sind, zum Beispiel bei Protesten und Blockaden gegen Scientology.

All die so entstandenen Bewegungen von Aegypten bis New York haben
eines gemeinsam: Sie koennen als die ersten Bewegungen bezeichnet
werden, die den durch Web 2.0, SocialMedia und Blogs gebotenen
Spielraum voll ausnuetzen. Fassen wir sie daher als "neue Bewegungen"
zusammen.

Was riecht hier so nach Rauch?

Weltweit stehen die Massen auf (so wird es zumindest propagiert), und
erheben sich gegen das System. Es riecht nach angekokelten Strukturen.
Nur meinen wohl auch junge Freiheitliche, die Strukturen gern mal
ankokeln zu wollen. Den Forderungen nach "einer echten Partizipation
des Volkes in politischen Entscheidungsprozessen" bzw. nach
Unterlassung der "Manipulation von Politikern durch Banker und andere
Maechte" (beides Punkte des Aufruftextes zur 15. Oktober-Demo in Wien)
koennte sich auch ein Herr Strache anschliessen wollen.

Diese Forderungen muessen deswegen noch nichts Schlechtes bedeuten,
aber es lohnt sich, sie etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Einen
gewissen Populismus kann man ihnen naemlich schon unterstellen. Wer --
der an Protesten interessiert ist -- will denn nicht gerne in der
Politik mitreden, und wer ist denn FUeR eine Manipulation von
Politikern durch Banken und andere Maechte? Der Verdacht liegt nahe,
dass hier Kritik so verkuerzt geaeussert wird, (vielleicht nicht
absichtlich, sondern eher unbedacht), dass sich ihr nanona eine grosse
Menge an Menschen anschliessen muss.

Verschwoerungswahnsinn mangels Feedback

Im 19. und 20. Jahrhundert waren zu veroeffentlichende Texte oft noch
einem journalistischen Ethos unterworfen, sie bedurften oft einer
redaktionellen Pruefung. So war die Ruecksprache mit anderen Personen
also eher die Regel. Positionen, die in ihrer Argumentation auf
wackligen oder schiefen Beinen stehen, bzw. die ob mangelnder
Beweisbarkeit eher zu den Verschwoerungstheorien zu zaehlen sind,
haben bei solchen Bedingungen weniger gute Chancen auf
Veroeffentlichung, und fanden sich eher in einschlaegigen Kreisen.

Im Internet kann aber jeder Mensch alleine alles lesen und
veroeffentlichen, wodurch gut recherchierte Information (und bei
Systemkritik gehoert eigentlich auch Staatstheorie zur guten
Recherche, um nicht zu sagen: zum Basiswissen) mit wilden
Verschwoerungstheorien gemischt wird.

Aufgrund der vermischten Zugaenge kommt es dazu, dass man nicht jeden
Menschen, der einem Verschwoerungtheorien um die Ohren haut, als
VerrueckteN bezeichnen kann; es unterbreiten aber vor allem leider
nicht alle Menschen, die sich dem noblen Gedanken der Aufklaerung zu
verschreiben scheinen, nuechterne Gedanken zur Befreiung des Menschen.
Die leichteste Moeglichkeit, Misstaende zu erklaeren, ist eben die,
die dafuer Verantwortlichen innerhalb eines klar umrissenen
Personenkreises zu suchen - so spart man sich die langen Erklaerungen
komplexerer Zusammenhaenge.

Auch in traditionellen linken / linksradikalen Kreisen ist es ueblich,
emanzipatorische Kritik an den Zustaenden von gesellschaftlicher
Verflechtung abzuheben und auf aussenstehende Personen(gruppen) zu
projizieren, bzw. Personen(gruppen) von der Gemeinschaft abzugrenzen.
Derartige Vereinfachungen erscheinen jedoch (zumindest von aussen
betrachtet) in den "neuen Bewegungen" viel deutlicher.

In der dort verbreiteten Darstellung befinden sich auf der einen Seite
die Protestierenden, die sich selbst manchmal als "das Volk"
bezeichnen, oder als die 99% -- auf der anderen Seite stehen
PolitikerInnen, Banken und andere Maechte.

In diesem Weltbild gibt es quasi ein Gutes und ein Boeses, und beides
ist gewissermassen transzendent; entzieht sich einer irdischen
Betrachtung, ist bei genauerem Nachfragen nur symbolisch gemeint und
so weiter und so fort.

Man glaubt an das Gute -- das Ideal, die Utopie. Und man glaubt an
seine Widersacher die PolitikerInnen, Banken und Konzerne. Weil man
das Wirken dieser vermeintlich boesen Maechte nicht verstehen kann
(oder will), muss es sich dabei um eine Verschwoerung handeln, hinter
der ANDERE Maechte stehen. Das alles klingt nach einer neuen Version
von Himmel und Hoelle, mit revolutionaeren Engelchen und
kapitalistischen, raffgierigen Teufelchen.

Was gut gemeint und demonstrierend daher kommt ist ein neuer Aufguss
von Religion, eine ausgesprochen hatscherte Ideologie, was auch
immer -- aber es dient nicht wirklich der Aufklaerung. Vielmehr wird
der Blick des Menschen auf die Offensichtlichkeit der Widersprueche
von einer Verschwoerungtheorie verstellt.

Nicht die Menschheit begeht gravierende Fehler und unterwirft sich
ihrer eigenen Knechtschaft in dem sie ihre Unmuendigkeit als
naturgegeben vor sich hertraegt, sondern nur 1% davon begeht den
gravierenden Fehler, die restlichen 99% zu knechten und zu
manipulieren.

Das Wort mit strukt- vorn und -itismus hinten

Das hatten wir doch schon mal, auch wenn es immer weniger Leuten
bewusst zu sein scheint. In der ersten Haelfte des zwanzigsten
Jahrhunderts waren die Nazis die Vollzieher einer Ideologie, die nicht
einfach die Juden und Juedinnen loswerden wollte. Antisemitimus setzt
das Judentum mit Kapitalismus, Profitgier, besonderer Hinterlistigkeit
und Volksfeindlichkeit gleich, macht es verantwortlich fuer all das,
und legt somit die Notwendigkeit seiner Vernichtung nahe.

Argumentationsstrukturen, die in der verwendeten Symbolik den
bekannten Stereotypien vom internationalen Judentum gleichen, kann man
als "strukturellen Antisemitismus" bezeichnen. Die Betonung liegt auf
KANN, denn die Verwendung des Begriffs gestaltet sich schwierig, weil
hier jedeR einen anderen Eindruck hat; man tut nicht schlecht daran,
ihn nur in homoeopathischen Dosen in Diskussionen einzustreuen
(vielleicht einmal im Jahr vorsichtig andeuten).

Als Erklaerung, warum die juedische Herkunft von vermeintlichen
Verursachern der Missstaende so oft in den Vordergrund gestellt wird,
ist dieser Begriff aber nicht auszulassen.

Es macht schlichtweg keinen Unterschied, ob "die Juden" oder
irgendeine andere Personengruppe (1%) fuer die Widerspruechlichkeiten
in unserer Gesellschaft verantwortlich gemacht werden

Fakt ist: Genauso wie revolutionaere haben auch reaktionaere
Ideologien eine Geschichte -- also eine Zukunft, eine Gegenwart und
eine Vergangenheit; ganz gleich, ob ihre Heimatstaedte in Schutt und
Asche gebombt wurden.

Aufklaerung 2.0

Unterstellt man den "neuen Bewegungen" aufklaererische Ansprueche, so
hat die Kritik an diesen eben die Aufklaerung ins Aug zu fassen, und
die Aehnlichkeiten der in den Schriften konstatierten Weltbilder mit
religioesen Weltbildern anzufechten. "Die Kritik der Religion ist die
Voraussetzung aller Kritik." (K. Marx, MEW 1, S. 378)

Alle Freiheit, die dem Menschen fehlt, ist Freiheit, die er an die
Staatsgewalt abgetreten hat, um sich vor der Boshaftigkeit seiner
Mitmenschen zu schuetzen. Was uns also zu Unmuendigen macht, ist der
bestehende eigene Glaube an ebendiese Boshaftigkeit der Anderen.

Auch der Fortbestand von Begriffen wie "Eigentum" beruht auf unserem
Wunsch, unsere Reserven von der Umwelt abzugrenzen, auf dass sie uns
niemand streitig mache.

Selbst wenn dieses Menschenbild als buergerliches Modell revidiert
sein sollte, so haben wir es hierzulande immer noch nicht geschafft,
die Konsequenzen daraus zu ziehen. Wir leben immer noch in einem
buergerlichen Staat, der Gewalt auf seine Bevoelkerung ausuebt. Wir
rackern uns jahrelang ab, und verlangen von unseren Mitmenschen das
gleiche, weil sonst ...

Es mag zwar zynisch klingen, wenn man Leute, die sich neuerdings mit
zu den Betroffenen dieser Gewalt zaehlen, darauf hinweist, dass die
Gewalt eben eine der vielen schlechten Seiten von Staaten ist; genauso
zynisch sind VertreterInnen der neuen Bewegung aber sich selbst
gegenueber, wenn sie vom Staate fordern, dass er seinen Aufgaben
nachkomme.

Denn eine der Aufgaben des Staates ist der Selbstschutz, und damit
auch die Bespitzelung und Niederschlagung von oeffentlichen Protesten,
die seine Sicherheit (moeglicherweise) gefaehrden.

Wenn eine radikale Aenderung ansteht, sind der Staat und seine
VertreterInnen keine guten Garanten fuer einen Wandel. Das mag in den
Vereinigten Staaten unter Obama mit der Krankenversicherung
funktioniert haben, aber auch nur mit erheblichen Schwierigkeiten und
mit Abstrichen, unter denen sich das neue System erst bewaehren muss.
Und selbst wenn, dann bleiben da noch buergerrechtliche, soziale und
demokratische Missstaende.

Bei einer Revolution in der westlichen Welt, kann es nur ums Ganze
gehen. Der Mensch hat nicht einfach nur tugendhafter --
demokratischer, genuegsamer -- und auch nicht autoritaetskritischer zu
werden, er muss sich nicht einfach "bessern". Er soll eben muendiger
werden.

Eine Aenderung des ganzen bestehenden Systems kann nur erreicht
werden, wenn die Kritik am System als Ganzes geuebt wird.

Subjektive Kritik, die nur zusammenfasst, woran sich Indviduen gerade
stossen; die aber die Frage vernachlaessigt, warum sie sich stossen,
wird nicht viel an der Gesamtsituation aendern.

Kommunikationskanaele im WorldWideWeb zu suchen, um den Protest in die
reale Welt, auf die Strassen zu tragen, ist der richtige Weg. Wir
sollten uns aber auch vernetzen, um Perspektiven zu vereinen und
gemeinsam nach Erklaerungen suchen.

Dabei sollten wir aber nicht auf all jene Erklaerungen vergessen, die
bereits gefunden sind. Bei der Kritik am Bestehenden sollten die
Herren Marx und Engels, sowie saemtliche VertreterInnen der
Frankfurter Schule nicht vernachlaessigt werden.

Ach ja, weil wir gerade beim "Ganzen" waren: WIR sind niemals 99%, wir
sind 100%. Andernfalls waeren WIR nur ein Bruchteil von UNS.
-postcore-



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