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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 2. November 2011; 23:00
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Griechenland/Kommentar:

> Die Schuldner vor dem Ausbluten schuetzen

Lehren fuer Griechenland aus den Erfahrungen Argentiniens

Im Jahr 2002 erklaerte Argentinien mit einem Schuldenberg von 100 Mrd.
US-Dollar seine Zahlungsunfaehigkeit. Griechenland macht derzeit
dasselbe Drama durch. Fuer die Bewaeltigung der Schuldenkrise lassen
sich aus dem argentinischen Beispiel Lehren ziehen.

Im Verlauf der 90er Jahre stiegen die argentinischen Staatsschulden
von 84 auf 147 Mrd. US-Dollar, die Last des Schuldendiensts erdrueckte
den Staatshaushalt - sie war dreimal so hoch wie die laufenden
Ausgaben und sechsmal so hoch wie der Sozialetat. Periodisch mussten
Umschuldungen vorgenommen werden, um eine Bankrotterklaerung zu
vermeiden. Dafuer verlangten die Banken Wucherzinsen.

Griechenlands Verschuldung belaeuft sich auf einen aehnlichen hohen
Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) wie die von Argentinien damals
und greift zu denselben Mitteln, um die Glaeubiger zufrieden zu
stellen. Seit dem vergangenen Jahr greift es immer wieder zu
«Rettungsplaenen», um eine Zahlungsunfaehigkeit zu vermeiden.

Gemeinsamkeiten

Die Entscheidung, vor allem die Glaeubiger zufrieden zu stellen,
fuehrte Argentinien an den Rand einer sozialen Katastrophe: die
Armutsquote stieg auf 54%, die der Erwerbslosen auf 35%, die Aermsten
litten Hunger. Die Loehne wurden gekuerzt und die direkten Steuern
angehoben, die Ausgaben fuer Bildung zusammengestrichen und das
Rentenalter sukzessive angehoben. Dasselbe passiert in Griechenland:
20% der Stellen im oeffentlichen Dienst wurden im Verlauf dieses
Jahres gestrichen, die Renten um 10% gekuerzt, die Mehrwertsteuer
angehoben, das oeffentliche Gesundheits- und Bildungssystem ruiniert.

Vor zehn Jahren hatte Argentinien bereits die Mehrheit des
oeffentlichen Eigentums privatisiert (die Oelgesellschaft, die Strom-
und Gasversorgung, die Telefongesellschaft) und bereitete sich darauf
vor, auch den Rest noch zu verkaufen: die Nationalbank,
Staatsunternehmen in verschiedenen Provinzen, die staatliche Lotterie,
die Universitaeten. Griechenland ist jetzt dabei, die Post, die Haefen
und Wasserbetriebe zu verkaufen. Nur die Akropolis bleibt von den
Ramschverkaeufen verschont, in die einige deutsche Kapitalisten gerne
auch noch die Inseln einbeziehen wuerden.

Dieselben Beamten des IWF, die heute Memoranden ueber Griechenland
verfassen, tauchten damals periodisch als Inspektoren am Suedzipfel
Lateinamerikas auf und waehlten die Aktiva aus, die den Glaeubigern
auszuhaendigen waeren. Das Parlament veranstaltete dieselben
Notsitzungen, und der IWF stellte eine ganz aehnliche Task Force wie
jetzt die Troika zusammen, um die Steuereinkuenfte zu ueberwachen.
Alles soll unter den Hammer, alle Kosten auf die Bevoelkerung
abgeladen, die entwerteten Staatsanleihen anderen Staaten uebereignet
werden. Damit koennen diese dann ihre Bilanzen sanieren.

In Argentinien hat dieser Raubzug mehrere Jahre gedauert; mehrfach
wurden die Schuldenzahlungen eingestellt und wieder aufgenommen.
Gleichzeitig setzte eine illegale Kapitalflucht ein, die den
auslaendischen Banken neue Einlagen verschaffte. Die Summen, die
damals ins Ausland geschaffen wurde, sind heute noch erheblich hoeher
als die Staatsverschuldung. Die Banken haben bei diesem Geschaeft
saftige Gewinne eingestrichen, sie haben die entwerteten
Staatsanleihen zum Nennwert in ihren Buechern weitergefuehrt und die
notleidendsten unter ihnen nach und nach abgestossen.

Die Staatsanleihen Griechenlands werden den Banken von der EZB
abgekauft, dafuer duerfen sie neue ausgeben, fuer die sie Wucherzinsen
kassieren.

Unterschiede

Doch die griechische Krise ist bedeutend explosiver als die
argentinische. Nicht nur ist das Haushaltsdefizit viel groesser (10,5%
statt 3,2% wie in Argentinien), eine Einstellung des Schuldendienstes
wuerde die Banken im Falle Griechenlands auch viel staerker treffen
als in Argentinien. Zum Zeitpunkt der Erklaerung der
Zahlungsunfaehigkeit Argentiniens hatten die Banken den Grossteil
ihrer Vermoegenswerte bereits ins Ausland transferiert. Deshalb
duldete sie der IWF, waehrend die EZB hat eine aehnliche Loesung fuer
Griechenland bislang verworfen hat.

Es gibt noch einen grossen Unterschied: Die Schulden Argentiniens
wurden von einem IWF-Team kontrolliert, das unter der unmittelbaren
Aufsicht der USA stand. Die Schulden Griechenlands werden von einer
Troika ueberwacht, die nur wenig Autoritaet besitzt und nicht einem
zentralisierten europaeischen Staat verantwortlich ist.
Meinungsverschiedenheiten, z.B. zwischen Deutschland und Frankreich,
kann sie kaum entscheiden. Die beiden Staaten waren sich urspruenglich
einig, Zahlungsschwierigkeiten aus ihren jeweiligen Staatskassen
auszugleichen. Doch die rasante Beschleunigung der Krise zwingt sie
dazu, auch die privaten Glaeubiger mit heranzuziehen. Deutschland ist
sich bewusst, dass eine Rettungsaktion ausschliesslich aus
oeffentlichen Mitteln katastrophale Folgen fuer den Haushalt haette.
Frankreich hingegen lehnt eine Beteiligung privater Glaeubiger ab,
weil es dann einen massiven Kapitalverlust fuer seine Banken
fuerchtet. Im Moment hat man sich auf eine «freiwillige» Beteiligung
der Privaten und eine nochmalige Ausweitung des Rettungsschirms
geeinigt.

Einen so dramatischen Verlauf nahm die argentinische Krise nie. Die
griechische Krise haengt an einem europaeischen Finanzsystem und an
einer Waehrung, dem Euro, die Griechenland mit 16 anderen Laendern
teilt. Anders als in Argentinien haette ein massiver Abzug von
Einlagen Auswirkungen auf den gesamten Kontinent.

Das Problem ist, dass die griechische Krise die Laender der sog.
Ersten Welt trifft. Die Staatsschulden Frankreichs, Deutschlands,
Japans und der USA - jeweils 81%, 80%, 220% und 91% des BIP - koennen
nicht mit derselben Gelassenheit angegangen werden wie in Argentinien,
hinter ihnen steht niemand mehr, der sie auffaengt.

Drei Lehren

Die Einstellung des Schuldendienstes in Argentinien hat sich ueber
drei Jahre hingezogen. Sie hat den Anteil der argentinischen
Staatsschulden an den Exporten und am BIP deutlich gesenkt; die
Haelfte der Schulden konnte in einheimischer Waehrung zurueckgezahlt
werden. Fuer die argentinische Wirtschaft war das eine
Sauerstoffspritze. Alle Albtraeume, die die Banken an die Wand gemalt
hatten, um die Schuldner einzuschuechtern und von ihrem Schritt
abzuhalten, sind in sich zusammengebrochen: Weder ist das Land «aus
der Weltgemeinschaft» gefallen, noch hat es Maerkte verloren, noch
wurden seine auslaendischen Vermoegenswerte konfisziert.

Aus Argentinien lassen sich fuer Griechenland drei wichtige Lehren
ziehen:

Die erste sagt: Der Schuldner muss unbedingt vor der Ausblutung
geschuetzt werden - durch eine einseitige Einstellung des
Schuldendienstes. Dafuer muss ein geeigneter Zeitpunkt gewaehlt
werden. Griechenland sollte dies tun, bevor es all sein Vermoegen
verliert. Noch ist es handlungsfaehig, waehrend seine Glaeubiger von
vielen faulen Krediten geplagt werden; das Land sollte nicht solange
warten, bis die Banken sie alle umtauschen konnten.

Zweitens muss sofort eine Anhoerung ueber die Schulden beginnen. In
Argentinien wurde darueber viel diskutiert, doch die Banken haben
jeden Vorstoss in diese Richtung, auch von Parlamentariern, vereitelt.
Ein Schuldenaudit hat es in Argentinien, anders als in Ecuador, nicht
gegeben. In Griechenland koennte es ihn geben. Der illegitime Teil der
Schulden koennte dann abgeschrieben, ein Register der Inhaber von
Schuldentiteln aufgestellt werden. Das braucht man, um die
Berechtigung der Schuldeneintreibung zu pruefen.

Die dritte Lehre ist, dass die Banken verstaatlicht und die Kapital-
und Devisenbewegungen vollstaendig unter oeffentliche Kontrolle
gestellt werden muessen. Das muss vor der Einstellung der
Schuldenzahlung geschehen.

Ausstieg aus dem Euro?

Einige Oekonomen halten es fuer wichtiger, sofort aus dem Euro
auszusteigen. Aber selbst in diesem Fall muss die Regierung sich ihrer
Vermoegenswerte versichern und die ungehemmte Kapitalflucht
verhindern, die mit einem solchen Schritt verbunden waere. Das geht
nur ueber die Verstaatlichung der Banken und eine strikte Kontrolle
der Kapital- und Devisenbewegungen.

In Argentinien wurden diese Massnahmen nicht ergriffen, mit dem
Ergebnis, dass die Waehrung nicht mehr konvertibel war (Argentinien
sich also nicht auf dem Kapitalmarkt refinanzieren konnte) und die
Inflation galoppierte. In Griechenland gilt es zu beruecksichtigen,
wie die Importe weiter bezahlt, Tourismus und Schifffahrtindustrie
aufrecht erhalten werden koennen. Ein Ausstieg aus dem Euro ohne
solche Schutzmassnahmen wuerde die Lage nur verschlimmern.

Schliesslich ist Griechenland viel staerker an Europa gebunden als
Argentinien an Lateinamerika. Europa ist ein Wirtschaftsraum mit einer
recht ausgeglichenen Leistungsbilanz, waehrend Lateinamerika nach wie
vor traditionelle Abhaengigkeiten von den Zentren der Weltwirtschaft
aufweist.

Griechenland muss ein eventuelles Schuldenmoratorium von gemeinsamen
Aktionen mit seinen Nachbarn in der Region bzw. an der Peripherie
Europas begleiten: Irland, Portugal, Island usw. In Lateinamerika ist
der «Klub der Schuldner» nie zustande gekommen, auf dem alten
Kontinent aber gibt es einen hohen Grad an Kooperation, die umso
wichtiger wird, je mehr auch groessere Laender wie Spanien oder
Italien Gefahr laufen, unter das Schuldendiktat zu kommen.

Dafuer muss ein Land aufstehen und sagen: Wir zahlen die Schulden
nicht, lasst uns ein Netz der Solidaritaet spannen. Griechenland
koennte das tun. (Claudio Katz/SoZ)
*

Quelle: SoZ - Sozialistische Zeitung:
http://www.sozonline.de/2011/10/die-schuldner-vor-dem-ausbluten-schutzen/
Claudio Katz ist Wirtschaftsprofessor an der Universitaet Buenos Aires
und Mitinitiator verschiedener Initiativen gegen den Freihandel und
die Aussenschulden.



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