**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 19. Oktober 2011; 00:31
**********************************************************

Urbanes/Debatte:

> Gentrifuckation ist nur die halbe Miete

Gentrifikationskritik am Beispiel Berlin

Der Verdraengungsprozess von MieterInnen mit geringem Einkommen ist
innerhalb des Berliner S-Bahn-Ringes mittlerweile offenkundig. Ganze
Nachbarschaften aendern ihr Gesicht, die Viertel werden weisser und
besserverdienender. Kreuzkoelln (Anm.: Teil des Berliner Bezirks
Neukoelln) koennte bald aussehen wie Bielefeld... Auch wenn die
Verdraengung a) scheisse und b) nicht zu leugnen ist, so ist das, was
wohnungspolitisch gerade in Berlin (oder Hamburg, London, New York)
passiert, keineswegs ausreichend mit "Verdraengung" beschrieben.
Diejenigen AktivistInnen aber, deren Kritik sich gegen Gentrification
richtet, hoeren meist genau da auf und entsprechend sieht ihr
Widerstand aus: Es waeren die zuziehenden Reichen (wahlweise auch
Neu-Berliner, Schwaben oder andere Touristen), die die Mieten in die
Hoehe treiben.

Wir halten diese Erklaerung fuer mehr als zu kurz. Wir wollen im
Folgenden darstellen, warum das Interesse an steigenden Mieten von der
Seite der EigentuemerInnen immer vorhanden ist. Ob dieses Interesse
sich durchsetzt, haengt nur wenig vom Zuzug reicher Menschen ab,
sondern davon, ob sich die kapitalistische Wirtschaft vor Ort
insgesamt positiv entwickelt.

Wohnst Du schon oder mietest Du noch?

Die Probleme beim Mieten fangen beim Mieten selbst an:
WohneigentuemerInnen koennen von denjenigen, die keine eigenen Wohnung
haben, Miete verlangen. Die MieterInnen wollen so wenig Miete wie
noetig bezahlen. Wie bei jedem Ding, das jemand als Privateigentum
exklusiv besitzt und andere aber brauchen, ist das der Auftakt fuer
eine alles andere als freundschaftliche Beziehung. Der Eigentuemer
wiederum will gerne so viel wie moeglich fuer die Ueberlassung seiner
Wohnung. Dieses soviel wie moeglich hat eine Schranke an den Angeboten
der anderen EigentuemerInnen.

Guenstige Lagen, fuer die eine hoehere Miete verlangt werden kann,
ergeben sich aus den Interessen der Geschaeftswelt. Je mehr Geschaeft
geht, desto hoeher ist die Miete. Deswegen ist Pritzwalk (eine
Kleinstadt nordwestlich von Berlin, Anm. d. Red.) nicht Berlin, obwohl
vielleicht die Einkommensstruktur der Pritzwalker MieterInnen der
Berliner Einkommensstruktur ganz aehnlich ist. Die EigentuemerInnen
koennen die jeweils ortsueblichen Mieten verlangen, ohne gross was
dafuer tun zu muessen. Das blosse Verfuegungsrecht ueber ihr Eigentum
ist bereits ihre Geldquelle. Floriert das kapitalistische
Geschaeftsleben vor Ort, wollen mehr Menschen da wohnen (weil sie da
arbeiten o.ae.) und entsprechend koennen die EigentuemerInnen die
Mieten anheben. Deswegen finden wir die Frage nach "Wem gehoert die
Stadt" komisch. Besser waere zu fragen: Was ist der Zweck der Stadt?
Dann kann man sich auch erklaeren, warum manche Leute zunehmend in der
Stadt nichts zu suchen haben und andere schon.

Standortpolitik der Stadt

Haeufig ist in den Debatten um Stadtentwicklung zu hoeren, dass die
Kommune sich aus der Wohnungspolitik verabschiedet habe. Die Kuerzung
der Berliner Foerdermittel fuer den sozialen Wohnungsbau auf Null und
der Verkauf oeffentlicher Wohnungen an Privatinvestoren gelten vielen
als Beispiele dafuer, dass sich die Stadt in den letzten Jahren aus
den sozialen Aufgaben verabschiedet habe. Dabei werden oft soziale
Massnahmen mit guten Massnahmen verwechselt. Waehrend dem Senat
vorgeworfen wird, er kuemmere sich einseitig um das Kapital oder
plumper um die Reichen, entdeckt man im sozialen Wohnungsbau
Gerechtigkeit: Frueher habe die Stadt noch durch sozialen Wohnungsbau,
Mietobergrenzen etc. ausgleichend gewirkt. Irgendwie sei Berlin
naemlich doch fuer alle da. Heute dagegen wuerden die armen Menschen
vernachlaessigt und dem Kapital Tuer und Tor geoeffnet. Dabei wird
aber uebersehen, dass der Stadt und ihrem Wirtschaftswachstum nicht
gedient sein kann, wenn die LohnarbeiterInnen und Angestellte, die es
fuer ein solches Wachstum braucht, sich die Arbeit nicht mehr leisten
koennen, weil die Wohnungen zu teuer sind. Das heisst aber umgekehrt
nicht, dass die Stadt nicht doch immer wieder ausprobiert, wie gut es
auch ohne sozialen Wohnungsbau geht. Die klassischen Kritiken an der
aktuellen Wohnungs- und Stadtpolitik scheinen uns vor allem auf drei
Ebenen schief zu liegen. Von diesen drei Ebenen
(Wirtschaftsfoerderung, Regulation und Eigentum frei setzen) soll hier
nur die Wirtschaftsfoerderung abgehandelt werden.

Wirtschaftsfoerderung

Am Fall Mediaspree (Projekt, einen Teil des Spreeufers in Berlin fuer
aufstrebende Medien- und Kommunikationsunternehmen attraktiv zu
gestalten) ist das Interesse der Stadt sehr offensichtlich: Mithilfe
einer Raumplanung, der finanziellen Unterstuetzung eines
Interessensverbandes von Unternehmen und dem Verkauf von Grundstuecken
wird ein Stueck Stadtraum explizit fuer den Zweck Wirtschaftswachstum
aufbereitet. Richtig ist es an dieser Stelle fest zu halten, dass die
Stadt von Geld (in Form von Steuern) abhaengig ist, das sie nicht
selbst verdient, sondern das Andere verdienen sollen. Arme Menschen
oder LebenskuenstlerInnen sind jetzt aber nicht als die weltbesten
SteuerzahlerInnen bekannt. Daraus ergibt sich der politische Wunsch
nach einer bestimmten und bitteschoen liquiden staedtischen
Bevoelkerung.

Schlecht waere an dieser Stelle zu sagen: Wirtschaftswachstum, das ist
ja o.k., aber wenn dabei die Mieten ansteigen und der oeffentliche
Raum privatisiert wird, dann bitte doch lieber nicht. Die materielle
Ausgrenzung vieler Menschen faengt nicht erst beim Wohnungsmarkt an.
Wirtschaftswachstum zaehlt die geschaeftlichen Erfolge aller
BuergerInnen zusammen. Wirtschaftswachstum gibt es, wenn die Summe
gestiegen ist. Allerdings werden da Posten zusammengerechnet, die in
Geld bemessen sind (nicht Zufriedenheit, materielle Versorgung oder
aehnliches) und vor allem: Diese Geldsummen sind in einer Wirtschaft
erwirtschaftet worden, die auf dem Prinzip Konkurrenz beruht. Da wo
eine gewinnt, verliert auch immer einer. Das betrifft Unternehmen
untereinander und es betrifft vor allem diejenigen, die sich als
LohnarbeiterInnen fuer die Unternehmen krumm machen muessen oder gar
nicht gebraucht werden.

Das Projekt kapitalistische Wirtschaftsfoerderung richtet sich
notwendig gegen arme Menschen und manchmal auch gegen
SkateboardfahrerInnen. Wer wirtschaftsfoerdernde Projekte wie
Mediaspree nicht mag, weil da fuer die armen Menschen als arme
Menschen dann kein Platz mehr ist, dessen Interesse oder Mitleid hat
eine komische Form angenommen. Statt Wirtschaftswachstum zu
kritisieren, weil es Armut hervorbringt, wird kritisiert, dass die
Armen verdraengt werden.

Die Rolle des kreativen Milieus

Kleine Ich-AGs, Kneipen und sonstige Geschaefte werden vom
Quartiersmanagement unterstuetzt, damit in manchen Stadtteilen
ueberhaupt mal was in Gang kommt, Gebaeude durch Nicht-Benutzung nicht
verfallen, zahlungsfaehigere MieterInnen angelockt werden etc. Dass
die Unterstuetzung nur gewaehrt wird, damit ein selbststaendiges
Geschaeftsleben in Gang kommt, sagen die Kommunen explizit. Dass diese
kleinen Unternehmer dann spaeter, wenn die Strasse oder der Kiez
wirklich brummt, weichen muessen, ist kein Geheimnis. Als Mosaikstein
innerhalb der Stadtentwicklungspolitik leistet das kreative Milieu
seinen kleinen Beitrag. Hier den Grund fuer die aktuelle
Mietentwicklung zu suchen, ist aber ein wenig hoch gegriffen, als
Selbstkritik ueberschaetzt man sich selbst. Die creative class, die
gerade Berlin bevoelkert, ist haeufig selbst bereits verdraengt
worden. Deswegen sind sie ja jetzt hier.

Weder die Reichen und Touris noch die Fixies oder Rollkoffer lassen
die Mieten steigen. Sie nerven vielleicht, aber Kapitalismus und seine
Regeln nerven noch viel mehr.
(Gruppe "Jimmy Boyle", Berlin)
*

Mehr zum Thema: http://www.junge-linke.org/de/gentrification


***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der
nichtkommerziellen Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd
muessen aber nicht wortidentisch mit den in der Papierausgabe
veroeffentlichten sein. Nachdruck von Eigenbeitraegen mit
Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete Beitraege stehen in der
Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von Texten mit anderem
Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine anderweitige
Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als Abonnement
verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann den
akin-pd per formlosen Mail an akin.buero{AT}gmx.at abbestellen.

*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
akin.redaktion{AT}gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976-00, Zweck: akin