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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 11. Oktober 2011; 21:49
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Reportage:

> "Ist das fuer oder gegen die Kirche?"

Die "Lange Nacht des Missbrauchs" brachte auch viel Unterstuetzung
fuer das Kirchenprivilegien-Volksbegehren


In Wien haben am Donnerstag, den 6. Oktober, Nachmittag und Abend
hunderte Menschen an der "Langen Nacht des Missbrauchs" teilgenommen -
direkt vor dem Stephansdom, dem Herz des Katholizismus in Oesterreich.
Ein symbolischer Ort mit Tuecken. Die Veranstalter sprechen von einem
Erfolg.

Nur wenige Meter von der Buehne der "Langen Nacht des Missbrauch"
entfernt buhlen Taenzer um die Aufmerksamkeit des Publikums. Der
Stephansplatz ist der vermutlich belebteste oeffentliche Platz Wiens.
Tag fuer Tag verdienen hier Pantomimen, Musiker und Kuenstler ihr
Geld. Die nicht-kommerzielle Konkurrenz hat es am Anfang etwas schwer,
auch etwas von der Aufmerksamkeit zu bekommen. Erst nach und nach wird
den Passanten klar, worum es geht: Den Skandal um sexuelle,
koerperliche und psychische Gewalt an Kindern in kirchlichen
Einrichtungen anzuprangern. So nah am Herz des oesterreichischen
Katholizismus hat es noch nie eine derartige Aktion gegeben. Einen
symbolischeren Ort haetten sich die Veranstalter, die Plattform
Betroffene kirchlicher Gewalt und das Volksbegehren gegen
Kirchenprivilegien nicht aussuchen koennen. Zum Erstaunen der
Organisatoren machten die Behoerden keine Anstalten, die
Stand-Demonstration in ruhigere Gefilde wie den nahe gelegenen
Stock-im-Eisen-Platz abzudraengen. "Ich bedanke mich bei der
oesterreichischen Buerokratie und dem oesterreichischen Gesetzgeber,
die es uns mit der Versammlungsfreiheit ermoeglichen, gerade hier zu
stehen", reagiert Sepp Rothwangl fast ueberschwaenglich. Er ist Obmann
der Plattform Betroffene Kirchlicher Gewalt.

Schauspieler, Regisseur und Aktionist Hubsi Kramar spielt in seinem
ersten Auftritt mit dem Ambiente. Er betritt die Buehne in Soutane und
purpurner Kardinalskappe. "Hoert auf Laemmchen zu sein", ruft er das
Publikum dazu auf, das Volksbegehren zu unterschreiben. An dessen
Stand hat sich eine Schlange gebildet. Auch heute ist ein Notar da,
der kaum nachkommt, die Unterschriften zu beglaubigen. "Der
Papst-Besuch in Deutschland hat da sicher fuer Aufwind gesorgt", zeigt
sich Judith aus Wien ueberzeugt. Ein Vorarlberger Student ist gerade
aus den Sommerferien zurueckgekommen und unterschreibt ebenfalls. In
den vier Stunden, die der Notar da ist, wird er kaum fuenf Minuten
Pause haben.

Lang haelt man es nicht aus

Bei aller Symboltraechtigkeit hat der Platz seine Tuecken. Ginge es
bloss darum, eine Massenbewegung zu suggerieren, haette es geeignetere
Plaetze gegeben. Nach dem Vorbild der FPOe haette man einfach einen
engen Platz waehlen muessen. Das laesst selbst kleine
Menschenansammlungen gewaltig erscheinen. Auf diesem grossen Platz
verlaeuft es sich schnell. Die Zuhoerer stehen meist in Kleingruppen
zusammen. Die Menge wirkt ueberschaubar, zusammengewuerfelt. Die
Medien werden von 100 Zuhoerern berichten. Und vermutlich waren zu
keinem Zeitpunkt mehr Menschen auf einmal auf der Veranstaltung.
Dafuer ist der Durchlauf gewaltig. In Summe werden gut 1.000 Leute an
der "Langen Nacht" teilgenommen haben, schaetzen die Veranstalter.

Die Verweildauer blosser Zuhoerer ist gering. Kaum jemand haelt es
laenger als eine Stunde aus, wenn er oder sie kein Gewaltbetroffener
ist oder irgendwie zum Veranstalterkreis gehoert. Betroffene erzaehlen
auf der Buehne, was sie erlebt haben. "Ich habe die Clearing-Phase der
Klasnic-Kommission durchlaufen und bin alleine gelassen worden",
schildert eine heute 50-jaehrige Frau. "Da werden die Wunden wieder
aufgemacht und nachher kriegst du nicht sofort Therapie. Ich denke
staendig daran, mich umzubringen und meine Ehe steht auf dem Spiel".
Ein Lehrer hatte die Frau im Alter von 11 Jahren vergewaltigt und
geschwaengert. Er bekam eine bedingte Haftstrafe und durfte sie im
Alter von 14 Jahren sogar heiraten. Es dauerte Jahrzehnte, bis sie
sich von Mann und Trauma loesen konnte und neues Glueck fand. Es sind
viele derartige Geschichten, die heute erzaehlt werden. Manche
Betroffene stehe selbst auf der Buehne, manchmal lesen
Schauspielerinnen und Schauspieler die Texte. Zur ersten Kategorie
gehoert Herby Loitsch, Radio-Orange-Sendungsgestalter und Aktivist in
der Plattform Betroffener Kirchlicher Gewalt. Er erklaert, warum
gerade Betroffene das Volksbegehren unterstuetzen. Er hofft, dass es
eine staatliche Kommission erzwingt, die den Skandal untersucht. "Wir
duerfen nicht darauf warten, dass Opfer sich trauen oder die Kraft
haben, sich zu melden. Wir muessen Druck machen."

Die Glocken des Stephansdom laeuten und machen es den Menschen auf der
Buehne kurzfristig schwer, sich verstaendlich zu machen. Kein
Stoermanoever. Sie laeuten immer 15 Minuten vor der vollen Stunde.

Kakanische Irrwitzigkeiten

Gerhard Engelmayr vom Freidenkerbund zeigt sich sichtlich betroffen,
von dem, was er heute gehoert hat. Er prangert an, dass trotz allem
kaum jemand die Privilegien von Religionsgemeinschaften im allgemeinen
und der katholischen Kirche im besonderen anprangert: "In unserem
Kakanien haben wir es dank der Religionen zu vielen Irrwitzigkeiten
gebracht. Im ORF wurden die Hauptabteilung Wissenschaft und die
Hauptabteilung Religion einem gemeinsamen Leiter unterstellt. Jetzt
raten Sie mal, wer wem unterstellt ist. Richtig. Die Wissenschaft ist
der Religion untergeordnet." Dagegen muesse man aufstehen. Aehnlich
Niko Alm, Mitinitiator des Volksbegehrens und Vorsitzender des
Zentralrats der Konfessionsfreien: "Die Privilegien von Religionen
sind durch nichts zu rechtfertigen. Und je mehr an Gewalttaten gegen
Kinder bekannt wird, desto lauter muesste eigentlich der Aufschrei
sein. Aber selbst mit zwei Millionen konfessionsfreien
Oesterreicherinnen und Oesterreichern traut sich die Politik nicht,
das Konkordat zu thematisieren, das im Austrofaschismus abgeschlossen
wurde und traut sich nicht, ueber die finanziellen Zuwendungen und
Steuerbefreiungen zu reden, die den Religionsgemeinschaften mindestens
eine Milliarde Euro jaehrlich bringen. Wir vermuten, dass es in
Wahrheit doppelt so viel ist."

"Ist das fuer oder gegen die Kirche", fragt die etwa 80-jaehrige Frau
mit rot-kariertem Baeurinnenkopftuch. "Weder noch. Hier geht's darum,
dass Kirche und Staat getrennt werden sollen." "Also doch gegen die
Kirche. Und sowas vor dem Stephansdom. Die Kirche ist das einzige, was
uns vor den Grauslichkeiten dieser Welt schuetzt. Ihr seid's so
bloed." "Sie koennen ja auch wieder gehen". "Gern, oder glaubt's ihr,
ich schau mir gern so schiache Leit an wie Euch?" Die Stoeraktionen
einzelner aelterer Katholiken wirken eher erratisch. Kleriker oder gar
offizielle Vertreter der Erzdioezese Wien tauchen heute Nacht nicht
auf. Trotz Einladung durch die Veranstalter. Am besten ignorieren und
hoffen, dass es vorbeigeht, scheint die Devise zu sein. Die Polizei
verhaelt sich sehr kooperativ. Es gibt nur eine Anzeige wegen eines
Autos, das angeblich nicht genehmigt gewesen sei.

Prominente Unterstuetzer

Dagegen arbeiten Kuenstler wie Gerhard Haderer, der wegen eines
Karikaturenbuchs in Griechenland zu einer Haftstrafe verurteilt worden
war - wegen Herabwuerdigung religioeser Lehren, derer ihn auch die
katholische Kirche in Oesterreich geziehen hatte. Dass er in zweiter
Instanz freigesprochen wurde, ist ein Gluecksfall. Seine Distanz zu
den Privilegien organisierter Religion mindert das nicht. "Meine Frau
und ich haben unsere Kinder - eines schoener als das andere, die sind
ganz nach ihr geraten - von der Religion ferngehalten. In Oesterreich
ist das eine Leistung", sagt der Oberoesterreicher, der sich in seiner
Ansprache auf die Tradition der Aufklaerung beruft. Jetzt gelte es,
die demokratische Idee voranzutreiben. "Dieses Volksbegehren hat noch
Platz fuer Ihre Unterschrift. Unterschreiben Sie fuer die
Weiterentwicklung der Demokratie". Der bekannte Schauspieler und
Kabarettist Erwin Steinhauer unterstuetzt die Bewegung mit einem Text
von Erich Fried, den er vorliest. Und Kabarettist Leo Lukas erzaehlt
von seinen Kindheitserfahrungen mit der katholischen Kirche. Das
Lachen bleibt im Halse stecken.

Deutliche Ansagen aus der Spitzenpolitik

Auch der "Club Schrei" sorgt nicht fuer Heiterkeit. Der Name ist
angelehnt an das ORF-Diskussionsformat "Club Zwei". Unter der Leitung
von Radiojournalistin Teresa Arrieta diskutieren Sepp Rothwangl, Niko
Alm, die Betroffenen-Anwaeltin Vera Weld und die
Nationalratsabgeordneten Daniela Musiol (Die Gruenen) und Hannes
Jarolim (SPOe). Im Zentrum steht die Frage, warum es bis heute keine
unabhaengige Kommission gibt, die den Missbrauchsskandal untersucht.
Jarolim, der sich als einer von wenigen Sozialdemokraten klar fuer
eine Kommission ausgesprochen hatte, erklaert das mit der Tatsache,
dass es eine Koalitionsregierung gibt. "Ich habe noch viel
Ueberzeugungsarbeit zu leisten. Eine solche Kommission ist notwendig -
man kann von einem Opfer nicht erwarten, dass er zu einer
kircheneigenen Kommission geht. Also just zu der Einrichtung, die sein
Leiden ausgeloest hat" Musiol sieht es aehnlich und verweist auf einen
Antrag, den die Gruenen im Nationalrat eingebracht haben. "Wir haben
einen Hilfefonds fuer Opfer in der Hoehe von 100 Millionen Euro
vorgeschlagen. Auf Basis der damals bekannten Zahlen gingen wir von
mindestens 40.000 Euro pro Opfer aus. Heute waere diese Zahl noch
hoeher." Allerdings, zeigen sich die Teilnehmer einig, die heute
bekannte Opferzahl duerfte nur ein Bruchteil der wirklich Betroffenen
sein.

Rotgruener Wagemut

Fuer oesterreichische Verhaeltnisse ungewoehnlich deutlich zeigen sich
beide Abgeordnete in der Frage, ob die Republik Oesterreich das
Konkordat mit dem Heiligen Stuhl beibehalten sollte. "Ich brauche das
nicht", sagt Jarolim -- und vertritt damit eine klare
Minderheitenposition in der eigenen Partei, wie er einraeumt. Auch
Musiol ist sich nicht sicher, ob alle Gruenen bei ihr seien, wenn sie
die Abschaffung des Konkordats fordert: "Wir sind eine sehr heterogene
Partei und ich kann nicht ausschliessen, dass es vor allem bei den
Landesparteien Gruene gibt, die das anders sehen." In beiden Parteien
ist diese Frage bislang eher ausgeklammert worden.

Mittlerweile haben sich die Zuhoerer auf einen harten Kern reduziert.
Es ist Mitternacht und die sommerliche Waerme dieses Oktobertags ist
der Kuehle einer typischen Herbstnacht gewichen. Wenig spaeter wird es
zu regnen beginnen. Die Betroffenen-Initiativen klappen ihre Staende
zusammen. Am Stand des Volksbegehrens macht die Anspannung des Tages
einer Erschoepfung Platz. Muedigkeit ueberwiegt. Nur Sepp Rothwangl
ist aufgekratzt. "Das ist super gelaufen heute, das war grossartig."
Der Notar ist schon lange zuhause. Er hat heute 180 Unterschriften
bekommen. Mehr als bei irgendeiner anderen Aktion des Volksbegehrens
bislang. "Mehr Unterschriften gingen in der Zeit einfach nicht. Mit
einem zweiten Notar waeren es noch mehr gewesen", sagt ein Aktivist.
"Nur den konnten wir uns leider nicht leisten."
*Christoph Baumgarten*

*

Kasten:

> Konkordat als Strafvereitlung

Das Konkordat enthaelt eine ganze Reihe von fuer einen Rechtsstaat
seltsamen Bestimmungen. Was aber SP-Justizsprecher Jarolim daran
besonders stoesst, sind die Sonderregelungen fuer die Strafverfolgung
von Kirchenpersonal. Im 1933 unterzeichneten und 1934 ratifizierten
Vertrag zwischen Oesterreich und dem Vatikan heisst es im Artikel XX:
"Im Falle der strafgerichtlichen Belangung eines Geistlichen oder
einer Ordensperson hat das staatliche Gericht sofort den fuer den
Belangten zustaendigen Dioezesanordinarius zu verstaendigen und
demselben raschestens die Ergebnisse der Voruntersuchung und
gegebenenfalls das Endurteil des Gerichtes sowohl in der ersten als in
der Berufungsinstanz zu uebermitteln. Im Falle der Verhaftung und
Anhaltung in Haft soll der Geistliche (Ordensperson) mit der seinem
Stande und seinem hierarchischen Grade gebuehrenden Ruecksicht
behandelt werden."

Damit wird jede Strafverfolgung fast schon ein diplomatischer Affront
gegen den Vatikanstaat. Normale Menschen geniessen keinen solchen
Schutz gegenueber den Gerichten.
(akin)





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