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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 14. September 2011; 01:53
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Aegypten/Kommentar:
> Das Volk will noch immer den Sturz des Systems
Die aegyptische Protestbewegung will nun ihre unterbrochene Revolution
zu Ende fuehren.
Der Euphorie der ersten Wochen nach dem Sturz Mubaraks folgt in
Aegypten mittlerweile eine allgemeine Ernuechterung. Immer deutlicher
stellt sich heraus, dass das Militaer weiterhin die Faeden in der Hand
haelt und immer weniger Aegypter glauben, dass die kommenden Wahlen
tatsaechlich frei und demokratisch verlaufen werden. Mit der
Vergroesserung der Wahlkreise sinken auch die Chancen neuer liberaler
und linker Parteien, waehrend sich die Chancen von Vertretern des
alten Regimes und der Muslimbruderschaft, die beide mit
unterschiedlichen Kapitalfraktionen der kleinen aegyptischen
Oberschicht verbunden sind, erhoehen. Wer in Aegypten mit den
AktivistInnen der Revolution spricht, hoert immer wieder, dass das
Regime den Ramadan genutzt habe, um die eben erst eroberten Freiheiten
der NGOs, der Gewerkschaften und Intellektuellen wieder
einzuschraenken. Immer oefter wird davon gesprochen den Midan Tahrir,
den Tahrir-Platz, der noch immer 24 Stunden am Tag von massiven
Polizeikraeften abgesperrt wird, wieder befreit werden muesse. Die
Massendemonstrationen in Kairo und Alexandria vom vergangenen Freitag
stellen ein starkes Zeichen der fortschrittlichen Opposition dar.
Trotz des Boykotts der Demonstrationen durch die Muslimbruderschaft,
konnte der Midan Tahrir wieder gefuellt werden. Erstmals wurde dabei
Militaermachthaber Tantawi mit Mubarak gleichgestellt. Der von den
Demonstrationen im Jaenner und Februar bekannte Slogan, "Das Volk will
den Sturz des Systems!", wird nun gegen die Militaers gerufen.
Tatsaechlich ist Aegypten heute weit entfernt davon, eine Demokratie
zu sein. Bis jetzt gibt es noch keinen Wahltermin. Liberale und linke
Oppositionsparteien kritisieren das Wahlgesetz, das die Vertreter des
alten Regimes und der Muslimbruderschaft bevorzugt. Und das Regime hat
seit seiner Machtuebernahme vor 8 Monaten 12.000 BuergerInnen von
Militaergerichten zu Haftstrafen verurteilt. Die Gefaengnisse fuellen
sich wieder mit politischen Gefangenen. Nicht wenige davon sind
schweren Misshandlungen und Folter ausgesetzt.
Der Backlash des Regimes wurde allerdings auch von der Protestbewegung
selbst erleichtert. Zu wenige sahen die Gefahr, die von der
Machtuebernahme der Militaers ausging. Stattdessen wurde das Militaer
im nationalistischen Taumel als jene Kraft bejubelt, die letztlich
Mubarak zum Abdanken gezwungen hatte. In einem Land, in dem seit
Jahrzehnten auch noch die skurilsten Verschwoerungstheorien ueber
zionistische und amerikanische Bedrohungsszenarien fuer Aegypten
gepflegt werden, wurde die Armee als patriotischer Garant fuer die
Unabhaengigkeit und nicht als potentielles Repressionsinstrument
wahrgenommen. Als der Blogger Michael Nabil Sanad am 9. April wegen
"Beleidigung der militaerischen Institutionen" zu drei Jahren Haft
verurteilt wurde, fiel die Kritik der Revolutionaere vom Midan Tahrir
sehr verhalten aus. Da sich der liberale Blogger jedoch nicht nur mit
dem Militaer kritisch auseinandersetzte und offen als Atheist
bezeichnete, sondern auch noch proisraelisch orientiert war, wollte
niemand mit ihm etwas zu tun haben. Schliesslich sind in Aegypten auch
Liberale und Linke meist stark antiisraelisch orientiert und selbst
jene, die damit kein besonderes Problem haetten, wagten es nicht, sich
selbst der oeffentlichen Kritik auszusetzen und als "zionistische
Agenten" zu gelten. Sanad befindet sich seit dem 23. August im
Hungerstreik, erhaelt keine ausreichende medizinische Versorgung und
soll mittlerweile im Sterben liegen.
Dass sich Israel als Blitzableiter fuer die Wut der arabischen Strasse
immer noch eignet, zeigten die Ereignisse nach der grossen
Demonstration vom Freitag. DemonstrantInnen rissen eine eben erst
aufgestellte Mauer vor der israelischen Botschaft nieder und drangen
in das Gebaeude, in dem sich die Botschaft befindet ein. Die
zahlreichen anwesenden Sicherheitskraefte des Regimes griffen nicht
ein. Damit duerften die DemonstrantInnen dem Regime in die Falle
gegangen sein. In den internationalen Medien wird jetzt nur noch ueber
den Angriff auf die Botschaft berichtet. Waehrend zehntausende
DemonstrantInnen friedlich gegen das Militaerregime demonstrierten,
kann dieses nun die Protestbewegung zum Mob erklaeren gegen den es nur
ein Mittel gibt, naemlich eine entsprechend harte Hand, die nur durch
das Militaer garantiert ist.
*Thomas Schmidinger, derzeit in Kairo*
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