**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 18.August 2011; 21:36
**********************************************************
EXTRAGLOSSE
**********************************************************
Glosse:
> Das Ende der Ideengeschichte?
Die Postmoderne erntet in Tottenham die Früchte ihres Erfolgs
Was ist der Unterschied zwischen den Riots in England oder auch in den
Banlieues von Paris vor ein paar Jahren einerseits und andererseits den
Aufständen in Tunesien und Ägypten? Nunja, in Arabien fand großteils von
Anfang an ein sich politisch artikulierender Protest statt, während die
Aufstände in Paris und London - zumindest nach dem, was wir berichtet
bekamen - ohne politische Zielgerichtetheit erschienen.
Doch warum ist das so? Nun, wir in der EU leben bekanntermaßen im besten der
politischen Systeme, da können solche Massenunruhen gar nicht politisch
zielgerichtet sein, sondern sie können per se einfach nur kriminell sein.
Diese Überzeugung beeinflußt zum einen sicher auch die Berichterstattung
darüber, zum anderen bestimmt sie aber auch die Art der Unruhen selbst.
Denn wahrscheinlich ist es sogar richtig, daß die Unruhen von ihren
Intentionen her in Tunis politischer waren als in London. Doch was sind die
Gemeinsamkeiten, was sind die Unterschiede? Auslöser waren sowohl in England
als auch in Tunesien Todesfälle. In Tunesien machte eine Selbstverbrennung
aus Protest gegen einen bürokratisch-korrupten Staat die Massen mobil, in
England war es eine Tötung durch einen Polizisten. Beide Todesfälle wirkten
aber als Fanal. In beiden Ländern wurde der Protest hauptsächlich von einer
hoffnungslosen Jugend getragen, nur war diese in Tunesien weitaus eher einer
Bildungsoberschicht zuzurechnen als in England. Diese tunesische Jugend
hatte aber auch die Möglichkeit einer Zielgerichtetheit, denn es gab das
westliche Modell dessen, was man hierzukontinents so Demokratie nennt, also
ein System, wo nicht immer derselbe Oberindianer oder dieselbe Partei an der
Regierung sind.
Doch ist es nicht müßig, zu fragen, wie politisch oder kriminell die Riots
in England waren? Fakt ist, eine Gesellschaft, der so etwas passiert, hat
ein Problem. Es ist ein klarer Indikator, daß irgendwas extrem schiefläuft,
wenn sich große Massen derartig gegen den gesellschftlichen Konsens und
Frieden stellen.
Hier von Kriminalität zu reden ist logisch und richtig, doch kriminell ist
das, was eine gesellschaftliche Hegemonie als kriminell definiert -- alle
Aufstände werden von den jeweiligen Machthabern als kriminell angesehen. Der
Unterschied zwischen kriminell und politisch entsteht durch ganz andere
Dinge, wie etwa den Ansichten der Bevölkerungsmehrheit, der
Berichterstattung im In- und Ausland oder ist retrospektiv daran orientiert,
ob der Aufstand an der Gesellschaftsordnung etwas geändert hat. Doch wenn
eine Gesellschaft mit einem Massenphänomen konfrontiert wird, daß sie in
ihrer Mehrheit oder ihre Regierung als kriminiell ansieht, hat diese
Gesellschaft an sich ein Problem, einen Systemfehler - völlig unabhängig
davon wie diese Gesellschaft ihr System selbst definiert oder von außen
gesehen wird - also egal, ob es sich dabei um das herrschende System in
Großbritannien oder Libyen handelt. Ob dieses Problem dann als Revolution,
Putschversuch, Aufstand, Riot, Pogrom oder Massenkriminalität angesehen
wird, ist sekundär, genauso, ob dabei eine Mehrheit oder eine Minderheit
besonders leidet oder wie die gesellschaftliche Stellung einer leidenden
oder einer aggressiven Minderheit ist. Wenn Widersprüche in einer
Gesellschaft, die immer weniger solidarisch ist und über immer weniger
Konsens verfügt, derart auseinanderklaffen, daß ohne oder ohne wesentlichen
Einfluß von außen es zu solchen Gewalttätigkeiten kommt, stimmt im System
etwas grundlegend nicht.
Thatcher und Fukuyama
Wir erinnern uns an Francis Fukuyama, der vor zwei Jahrzehnten vom "Ende der
Geschichte" sprach. Das war ein hübsches Schlagwort, mit dem auch im
Feuilleton recht hübsch herumgeschlagen wurde, doch bei näherem Hinsehen
entpuppen sich Fukuyamas Überlegungen eher als Vorstellung vom Ende der
Ideengeschichte denn der Herrschaftsgeschichte. Mit dem Untergang der
Sowjetunion betrachtete der Philosoph es als denkunmöglich, daß irgendeine
alternative Gesellschaftsform zum bürgerlich-kapitalistischen Staat
Attraktivität erlangen könne.
Doch diese Alternativenlosigkeit bedeutet eben -- anders als Fukuyama und
vor allem seine Adepten nahelegten -- nicht den Sieg und das Gedeihen des
real existierenden Kapitalismus. Denn Gesellschaften müssen sich wandeln
können und sie müssen neue Ordnungssysteme finden, um ökonomisch und sozial
stabil bleiben zu können. Eine Gesellschaft, die sich selbst als nicht mehr
wandlungsfähig ansieht, ist als solche dem Untergang geweiht. Sie ist,
mangels denkbarer Alternativen, nicht mehr in der Lage, sich an die
ökonomischen und technologischen Entwicklungen in ihrem Inneren auch
philosophisch und legistisch anzupassen. Wenn eine intellektuelle
Auseinandersetzung auf breiter Basis, wie mit stärker werdenden
Widersprüchen umzugehen ist, nicht mehr stattfindet, ist nicht einmal ein
echtes Reformdenken mehr möglich, geschweige denn eine tiefergehende
Gesellschaftsumgestaltung.
Schon Maggie Thatcher prägte in den 80ern das "TINA-Prinzip" ("There is no
alternative") und beendete gerade in der britischen Gesellschaft schon lange
vor dem Fall der Sowjetunion und damit noch auch als Teil des späten Kalten
Krieges jegliche breiter angelegte grundsätzliche Gesellschaftsdebatte.
Dieses Einbetonieren des Gesellschaftsmodells änderte sich auch unter "New
Labour" nicht, sondern wurde durch Tony Blair noch tiefer auch in
sozialdemokratische Wählerschichten getragen. Doch genau das jetzige
Geschehen ist die Rechnung, die nun präsentiert wird: nicht linke oder
basisdemokratisch inspirierte Proteste finden statt, sondern nicht politisch
gerichtete Gewaltausbrüche. Doch deswegen sind diese Riots nicht weniger als
politisch relevant anzusehen. In Deutschland, wo dieser Protest bislang
weitaus ziviler ablief, macht das Wort vom "Wutbürger" die Runde. In der
ganzen EU sind die Menschen angefressen, sei es wegen obrigkeitlicher
Willkür, sozialer Deklassierung oder wegen ökonomischer Verunsicherung.
Diese haben aber keine Ideologie, die sie verfolgen könnten und die ihnen
etwas gäbe, was man eine Weltanschauung nennen könnte, denn Ideologie ist
etwas, so lehrte uns die Postmoderne, das prinzipiell verabscheuenswürdig
ist: Ideologie -- egal welche, solange es nicht die von Adam Smith war --
wurde als jenes Gift der Gesellschaft angesehen, das zu ihrer Zerstörung
führe. Doch diese Ideologielosigkeit ändert nichts am Unmut der Menschen.
Jetzt muß man erkennen, daß nicht die Ideologie Menschen aggressiv macht,
sondern daß es eben die materiellen Widersprüche sind. Im Gegenteil, die
Orientierungslosigkeit der Empörten macht sie nur noch wütender. Die
idealistische Interpretation der Welt durch die Postmoderne, die versucht
hatte, den Materialismus wegzudiskutieren, ist damit wohl als gescheitert
anzusehen.
Hilfloser Kapitalismus ...
Doch was ist die Antwort auf solche Aufstände? Die Regierung Cameron
regierte auf die Riots ähnlich wie Ben Ali in Tunesien -- mit Repression.
Nur sind die bürgerlichen Systeme eben weitaus stabiler als die arabischen
Pseudorepubliken in Ägypten und Tunesien es waren. Dazu kommt ein
weitgehender Rückhalt in Großbritannien für die Regierung durch die Mehrheit
der Bevölkerung -- nicht aus Überzeugung, das gesellschaftlich alles in
Ordnung wäre, sondern wegen der akuten Angst vor der Gewalttätigkeit, aber
auch eben dieser behaupteten Alternativlosigkeit des politischen Systems.
Nur: Damit hat sich dieses System langfristig nicht gerettet -- im
Gegenteil, mit dem Entzug von Sozialleistungen für jene Beteiligten an den
Riots, die man erwischt hat, sowie auch ihrer Familien, denen
Sozialwohnungen gekündigt wurden, streut man auch noch Salz in die Wunden
der Gesellschaft. Zwar liegt es natürlich im Sinne des Kapitalsmus, daß es
eine verarmte Unterschicht gibt, die als Reservearbeitsarmee und als
mahnendes Bild für die absturzgefährdete Mittelschicht fungiert, aber ein
völliges Auseinderdriften der Gesellschaft und damit die Hoffnungslosigkeit
breiter Schichten ist für das herrschende Wirtschaftssystem gefährlich. Das
führt diese Schichten nämlich letztendlich zur Mißachtung des Eigentums
anderer und das ist etwas, was man ja im Kapitalismus dann doch nicht haben
möchte.
Unsere Regierungen sind getriebene -- ad hoc können sie sowieso nicht anders
auf solche Riots regieren als mit Repression, doch auch mittelfristig würden
sie ihrem eigenen gesellschaftlichen Diktat widersprechen, wenn sie zugäben,
daß irgendwas völlig verkehrt läuft. Man kann über kleine Verbesserungen
reden, aber das Große und Ganze muß einfach richtig sein, sonst würde man ja
das mühsam aufgebaute Gesellschaftsgebäude für bankrott erklären.
Ganz ähnlich sind hier auch die Rufe nach einer EU-Wirtschaftsregierung zu
verstehen: Der Fehler wird nicht im System selbst gesucht, sondern darin,
daß das System nicht konsequent genug durchgesetzt worden wäre -- nicht nur
die Gesellschaft als solche, sondern auch die Regierungen sind Gefangene
dieses TINA-Prinzips.
In einer solchen Situation fallen Politikern nur Repression und moralische
Appelle ein -- so auch Cameron, der weniger über eine verfehlte
Sozialpolitik, sondern vor allem über einen Werteverfall räsonierte.
Jedoch weder Repression noch moralische Appelle können den Zerfall der
"westlichen" Gesellschaftssysteme (oder der Systeme der "internationalen
Gemeinschaft" oder wie auch immer man das im Neusprech nennen mag) auf Dauer
retten. Die Widersprüche werden immer größer werden und irgendwann mit den
Mitteln des bürgerlichen Rechtsstaates nicht mehr überbrückbar sein. Genau
deswegen entfernen sich diese staatlichen Systeme auch immer mehr von ihren
angeblichen Idealen. Jedes Anti-Terror-Paket bringt uns näher zum
totalitären Staat.
... und hilflose Linke
Aber auch die alten Staatstheorien der Linken müssen modifiziert werden. Wir
orientieren uns immer noch an klassischen linken, vielleicht sogar
proletarischen Bewegungen, die dem Kapitalismus entgegenstehen und gegen die
dieser faschistische Bewegungen in Stellung bringt. Doch jetzt sieht die
Sache anders aus: Neben dem Erstarken rechtsradikaler Parteien werden die
bürgerlichen inclusive der Sozialdemokraten selbst autoritär. Diese sehen
sich aber keineswegs einem organisierten Protest mehr gegenüber, sondern dem
völlig unberechenbaren Wutbürger.
Für die Linke jedoch gibt es da zur Zeit gar nichts zu gewinnen, denn wir
haben nichts anzubieten. Man bedenke, daß zwischen dem Kommunistischen
Manifest und einer schlagkräftigen Arbeiterbewegung, die die Machtfrage
stellen konnte, gut ein halbes Jahrhundert vergehen mußte. Wir sind heute
aber wieder ungefähr dort, wo Marx und Engels vor 1848 standen. Eine wie
auch immer geartete Linke hat derzeit kein brauchbares Narrativ und keine
Utopie anzubieten, das die intellektuelle Hegemonie des TINA-Prinzips
herausfordern könnte. Der Unterschied zur ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts
besteht lediglich darin, daß es auch keine bürgerliche Utopie einer
Gesellschaft gibt, die dem heutigen Neofeudalismus, der im bürgerlichen
Gewand auftritt, etwas entgegenzusetzen hätte.
In der Postmoderne erscheinen die großen Gesellschaftsentwürfe nicht mehr
machbar -- obwohl sie gerade jetzt notwendig wären. Die Linke hat
stattdessen nur noch Abwehrkämpfe anzubieten, aber keine großen Hoffnungen.
Da kann man noch soviel davon reden, daß "eine andere Welt möglich" sei,
ohne konkrete Vorstellungen von dieser Welt und ebensolchen Wegen dorthin
wird man breiten Massen kein Vertrauen auf Alternativen abringen können.
Sozialimus oder Barbarei, das ist wieder mal die Frage. Die Proteste in
dieser unseren "demokratischen" Welt werden wohl immer mehr werden und sie
werden immer häufiger so aussehen wie die blinde Wut dieser Tage in
England -- und die Regierungen werden auch wieder genauso reagieren.
Es schaut also eher nach Barbarei aus -- es sei denn die globale oder
wenigstens die europäische Linke findet ohne kindische
Che-Guevara-Revolutionsromantik schleunigst ein brauchbares Narrativ, das
den Empörten wieder Hoffnung geben kann.
*Bernhard Redl*
*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
akin.buero{AT}gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976-00, Zweck: akin