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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 31. August 2011; 00:36
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Glosse:

> Reflexion zu einem Vorwort

ERINNERN an die Extremformen der Barbarei und an deren alltaegliche
barbarische Voraussetzungen

Anlaesslich einer Exkursion zu den italienischen faschistischen
Konzentrationslagern Gonars und Visco hat der Verein Erinnern eine
Informationsbroschuere herausgegeben. Im Folgenden wollen wir dies zum
Anlass nehmen, um zur Frage des "Erinnerns" zu reflektieren.

Geschichte heute als "Erinnern" zu betreiben ist wichtig, denn es
zeigt, dass Geschichte nicht einfach etwas ist, das da ist. Geschichte
als Erinnern ist vielmehr ein aktiver Prozess, der die Personen, die
sie betreiben, in den Mittelpunkt rueckt. Warum erinnere ich mich? Was
draengt mich zum Erinnern? Wodurch wird mein Erinnern gepraegt? Welche
Fragestellungen drueckt mir wer oder was auf? ...

Dies sei am Beispiel des Vorwortes der hier vorgestellten Broschuere
demonstriert:

"Es gibt kaum eine Region in Europa, in der nahezu alle Kriege und
gewalttaetigen Konflikte des 20. Jahrhunderts so direkte und
unmittelbare Folgen hatten, wie im Alpen-Adria-Raum. Dies gilt fuer
den Ersten Weltkrieg, wo die Region Frontlinie war, dies gilt fuer den
antifaschistischen Widerstand, der hier begonnen hat, noch bevor in
Deutschland die Nationalsozialisten die Macht ergriffen, dies gilt
fuer den Zweiten Weltkrieg, in dem es hier nicht nur zu regulaeren
Kaempfen kam, sondern starke Partisaneneinheiten aktiv waren, dies
gilt fuer den Kalten Krieg, als die Ost-West-Grenze direkt durch die
Alpen-Adria-Region verlief und die Stadt Goerz, wie Berlin, in zwei
Teile spaltete. Die Elementarereignisse des 20. Jahrhunderts, Erster
Weltkrieg, Faschismus, Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg,
antifaschistischer Widerstand, Vernichtung des Judentums, Kommunismus
und post-kommunistischer Buergerkrieg, fuer all dies war diese Region
der Schauplatz."

So wird aufgeklaerte Geschichte heute geschrieben. Die Sache hat
allerdings einen Haken: Es fehlt in der Auflistung DAS zentrale
"Elementarereignis", naemlich der Kapitalismus bzw. seine Durchsetzung
im ausgehenden 19. und seine Vertiefung im Laufe des 20. Jahrhundert.
Wenn dieses "Elementarereignis" aber nicht benannt wird, dann sind wir
blind gegenueber den Verhaeltnissen an der Basis unseres
Zusammenlebens, sie erscheinen uns nur mehr als naturwuechsig und
damit als nicht mehr erwaehnenswert. So wie man ja auch die
Schwerkraft nicht bewusst wahrnimmt, die ist ja einfach da. So ist
Erinnern vielleicht weniger ein bewusster Prozess, sondern Erinnern
passiert uns. Das Subjekt, das sich da erinnert, ist das System, es
"erinnert uns", wir "werden erinnert".

Erinnern, das seine eigenen Grundlagen ausblendet, kommt dann nur
allzuleicht zu Schlussfolgerungen, die in etwa auf Folgendes
hinauslaufen: Von Rechts und Links habe es den Terror gegeben, aber
heute bestuende Aussicht auf ein friedliches Miteinander in einem
geeinten Europa. Und weil wir unsere Lehren gezogen haetten, wuerden
wir die Freiheit und die Demokratie gegen alles Totalitaere
verteidigen, von Libyen bis Afghanistan, von Mali bis zu den Chaoten
in Griechenland.

Demgegenueber ist die Herausforderung eine riesige: Bei all dem ins
Bewusstsein Zurueckholen von vergangenen Verbrechen sind immer die uns
zur zweiten Natur gewordenen Formprinzipien unserer Gesellschaft
mitzudenken (den Tausch, die Konkurrenz...). Diese Art von
Erinnerungsarbeit stoesst jedoch des oefteren gerade bei Menschen, die
im Nationalsozialismus Angehoerige verloren haben, auf Unverstaendnis.

Aber erst wenn der Kapitalismus nicht mehr selbstverstaendlich und
naturwuechsig ist, kann man erklaeren, warum es zum Ersten Weltkrieg
kam (Stichwort Imperialismus...), zu Nationen, Staat und
Nationalismus, Faschismus (als Extremform des Nationalismus, als
sozialdarwinistische Aeusserung und als Reaktion auf
Emanzipationsbewegung), zum Ost-Westgegensatz (als Auseinandersetzung
zweier Staat gewordener Systeme der Entfremdung ...), zum
postkommunistischen Buergerkrieg (moeglicherweise als beginnende
Zerfallsform von - nachholender - Entwicklung) ...

Das allerdings ist ein Erinnern, das sehr anstrengend ist, weil es die
eigene tagtaegliche Praxis und das eigene Weltbild erschuettert. Das
kann einen vom Mainstream ziemlich isolieren. Leichter aber ist
Erinnern nicht zu haben.
*Walther Schuetz, Hans Haider (kaernoel.at)*

Quelle: http://tinyurl.com/43l73l6



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