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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 21. Juni 2011; 23:19
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Demokratie:

> Zu den Massenrevolten in Griechenland

Zu Hunderttausenden erklaeren die griechischen Empoerten ihren
neoliberalen Herren den Krieg (Stand: 15.Juni 2011)
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Zwei Wochen nach ihrem Beginn ueberflutete die Bewegung der
"Empoerten" die Plaetze der Staedte im Land mit gewaltigen
Menschenmengen, die ihre Wut hinausschreien, und laesst die Regierung
Papandreou und ihre lokalen und internationalen Unterstuetzer zittern.
Es ist nicht mehr nur ein einfacher Protest, noch eine breite
Mobilisierung gegen die Sparpolitik. Von nun an ist es eine wirkliche
Massenrevolte, die durch Griechenland fegt! Eine Revolte, die ihre
Weigerung, "ihre Krise" und "ihre Schulden" zu bezahlen, laut
hinausschreit und dabei das neoliberale Zwei-Parteien-System, wenn
nicht gar das gesamte politische Personal in aeusserste Bedraengnis
bringt.

Wieviele waren es am Sonntag, den 5.Juni 2011 auf dem Syntagmaplatz im
Zentrum von Athen, direkt gegenueber dem Parlament? Schwer zu sagen,
denn eine der Besonderheiten dieser Massenversammlungen ist, dass es
mangels zentraler Ansprachen oder eines Konzerts ein staendiges Kommen
und Gehen von Demonstranten gibt. Aber nach der Schaetzung der
Verantwortlichen der Athener U-Bahn, die wissen, wie sie die Anzahl
ihrer Fahrgaeste berechnen, stroemten an diesem denkwuerdigen Abend
mindestens 250.000 Menschen auf den Syntagmaplatz! Insgesamt waren es
mehrere Hunderttausende, wenn man die Massenansammlungen
"historischen" Ausmasses auf den zentralen Plaetzen Dutzender anderer
griechischer Staedte hinzuzaehlt.

In diesem Moment stellt sich jedoch eine Frage: Wie ist es moeglich,
dass eine solche Massenbewegung, die zudem dabei ist, eine griechische
Regierung zu erschuettern, die im Zentrum des europaeischen Interesses
steht, von allen westlichen Medien mit einem ohrenbetaeubenden
Schweigen bedacht wird? Waehrend der ersten zwoelf Tage praktisch kein
Wort, kein Bild von dieser beispiellosen Menge, die ihre Wut gegen den
IWF, die Europaeische Kommission, die Troika und auch Frau Merkel und
die ganze internationale neoliberale Crème herausschreit. Absolut
nichts. Nur bisweilen einige Zeilen ueber "Hunderte Demonstranten" auf
den Strassen Athens, die dem Aufruf der Gewerkschaften folgen. Eine
seltsame Vorliebe fuer die duerren Kundgebungen der voellig
diskreditierten Gewerkschaftsbuerokraten, waehrend einige hundert
Meter weiter seit zwei Wochen gewaltige Massen bis spaet nach
Mitternacht demonstrieren...

Das ist einfach Zensur, von bislang unbekanntem Ausmass. Eine sehr
organisierte und systematische Zensur, die um jeden Preis das
Uebergreifen der griechischen Bewegung auf Europa blockieren und
verhindern will! Angesichts dieser neuen Waffe der modernen Heiligen
Allianz wird es erforderlich sein, dass wir alle gemeinsam reagieren,
um diesen Skandal anzuprangern und die Mittel zu finden, dieses Verbot
der Information der Oeffentlichkeit zu umgehen: durch die Entwicklung
der Kommunikation zwischen den sozialen Bewegungen ganz Europas und
die Schaffung unserer eigenen alternativen Medien... [Forts. Seite 2]

Zu den "Empoerten" (griechisch "Aganaktismeni") muss man bemerken,
dass es sich um eine zunehmend plebejische Bewegung handelt, ein
Abbild der griechischen Gesellschaft, wie sie in 25 Jahren absoluter
Herrschaft der neoliberalen Ideologie geformt wurde - die auf ihre
zynische, rassistische, chauvinistische und individualistische Weise
alles in Waren verwandelt hat. Deshalb ist das Bild, das daraus
entsteht, oft widerspruechlich, zum Beispiel wenn dieselbe Person
ostentativ einen rassistischen, griechischen Patriotismus zur Schau
stellt und dabei eine tunesische (oder spanische, aegyptische,
portugiesische, irische, argentinische) Flagge schwenkt, um seine...
internationalistische Solidaritaet mit den kaempfenden Bevoelkerungen
dieser Laender auszudruecken.

Muessen wir also die Schlussfolgerung ziehen, dass es sich um eine
Masse aus schizophrenen Demonstranten handelt? Absolut nicht. So wie
es keine Wunder oder politisch "reine" soziale Revolten gibt, so
radikalisiert sich die Bewegung der empoerten Griechen zusehends und
ist dabei von 25 Jahren sozialen und moralischen Desasters gepraegt.
Aber, Vorsicht: All diese "Maengel" sind einem zentralen gemeinsamen
Nenner untergeordnet: radikale Ablehnung der Troika, ihres
Memorandums*, der Staatsverschuldung, der Regierung, der Sparpolitik,
der Korruption, dieser fiktiven parlamentarischen Demokratie, der
Europaeischen Kommission, des ganzen Systems!

Es ist also kein Zufall, dass diese Hunderttausende von Empoerten sich
seit Anfang Juni die Lunge aus dem Leib schreien und dabei vielsagende
Worte wiederholen wie: "Wir muessen nichts, wir verkaufen nichts, wir
zahlen nichts", "Wir verkaufen nicht und wir lassen uns nicht
verkaufen", "Sie sollen alle abhauen, Memorandum, Troika, Regierung
und Schulden" oder "Wir bleiben, bis sie abhauen". Losungen dieser Art
einen alle Demonstranten, wie uebrigens alles, was sich auf die
Weigerung bezieht, die Schulden anzuerkennen oder zu bezahlen. Deshalb
hat die Initiative fuer die Offenlegung der Schulden fast im ganzen
Land einen Bombenerfolg, ihr Stand auf dem Syntagmaplatz wird staendig
von einer Menge belagert, die den Aufruf unterschreiben will oder
Unterstuetzerdienste anbietet...

Zunaechst waren sie fast voellig unorganisiert, doch nach und nach
haben sich die Empoerten des Syntagmaplatzes eine Struktur gegeben,
deren Hoehepunkt die Volksversammlung ist, die jeden Abend um 21 Uhr
mehrere hundert Teilnehmer vor einer Kulisse von einigen tausend sehr
aufmerksamen Zuhoerern anzieht. Die Debatten sind oft von hoher
Qualitaet (z.B. die ueber die Staatsverschuldung) und uebertreffen bei
weitem das Beste, was die grossen Fernsehkanaele bieten. Und all dies
trotz des Laerms (im ueberfuellten Zentrum einer 4-Millionen-Stadt),
des Kommens und Gehens zehntausender Menschen und vor allem trotz der
bunten Zusammensetzung dieser gewaltigen Auditorien mitten in einem
staendigen Camp auf dem Platz, das mitunter an einen wahrhaften Turm
zu Babel erinnert.

All diese Tugenden der "direkten Demokratie", die Tag fuer Tag auf dem
Syntagmaplatz erprobt wird, duerfen nicht ueber ihre Schwaechen,
Zweideutigkeiten oder Maengel hinwegtaeuschen: zum Beispiel ihre
anfaengliche Allergie gegen alles, was sich auf Parteien,
Gewerkschaften oder jede Art von organisiertem Kollektiv bezieht.
Wenngleich diese Aversion gegen die "Parteien" bei der Masse der
"Empoerten" unbestreitbar dominiert und sie die Tendenz haben, die
gesamte politische Sphaere unterschiedslos abzulehnen, ist doch auch
eine spektakulaere Entwicklung in den Volksversammlungen
festzustellen - in Athen wie in Saloniki: Von der Ablehnung der
Gewerkschaften sind sie naemlich dazu uebergegangen, diese einzuladen,
ihre Demonstrationen auf dem Syntagmaplatz enden zu lassen, damit sich
die Arbeiter den Empoerten anschliessen koennen...

Offensichtlich hat es mit der Zeit eine Klaerung der politischen
Landschaft auf dem Syntagmaplatz gegeben: Die radikale und
anarchisierende Linke besetzt den Platz und kontrolliert die
Volksversammlung und das staendige Camp, die Rechte und extreme Rechte
versammelt sich auf dem Platz oberhalb, direkt vor dem Parlament.
Obwohl die radikale Linke den Ton angibt und allen Aktivitaeten und
Demonstrationen auf dem Syntagmaplatz ihren Stempel aufdrueckt und in
ein tiefes Rot faerbt, laesst sich daraus zweifellos nicht
schlussfolgern, dass die diversen Schattierungen der populistischen,
chauvinistischen, rassistischen oder sogar offen neonazistischen
Rechten ihre Versuche einstellen, diese gewaltige Volksbewegung zu
beeinflussen. Sie werden weitermachen, und alles haengt letzten Endes
von der Faehigkeit der Avantgarde der Bewegung ab, in den
Wohnvierteln, an den Arbeitsstaetten und den Schulen Fuss zu fassen
und sie fuer Ziele zu gewinnen, die eine Bruecke bilden zwischen den
unmittelbaren Erfordernissen und dem rachsuechtigen Zorn der Menge auf
das System.

Ziemlich verschieden von seinem spanischen Gegenstueck in Ausmass,
sozialer Zusammensetzung, Radikalitaet und politischer Heterogenitaet,
teilt der Syntagmaplatz mit dem Tahrirplatz in Kairo oder der Puerta
del Sol in Madrid denselben Hass auf die politische und
wirtschaftliche Elite, die die buergerlich-parlamentarische Demokratie
ihres Inhalts entleert. Gleichzeitig drueckt sich darin den Wunsch
nach Teilhabe, Gewaltfreiheit und Demokratie aus, der jede
Volksrevolte zu Beginn dieses 21.Jahrhunderts kennzeichnet. Unsere
Schlussfolgerung kann nur sehr provisorisch sein: Unabhaengig von den
stuermischen Ereignissen, die noch kommen, stellt die Bewegung der
Empoerten eine Wende in der Geschichte des Landes dar. Von nun an ist
alles moeglich und nichts wird mehr sein wie zuvor...
(Yorgos Mitralias / Ue: Labournet.de)

Quelle: http://www.labournet.de/internationales/gr/mitralias1.html

* Im Fruehjahr 2010 schrieben IWF, EU-Kommission und Europaeische
Zentralbank ihre Bedingungen fuer einen 110-Milliarden-Euro-Kredit in
einem Memorandum an die griechische Regierung nieder. (d.Uebers.)



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