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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 24. Mai 2011; 23:16
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Spanien/Glosse:
> Die Moderne kehrt zurueck
Spaniens Himmel breitet seine Sterne heute ueber der Puerta del Sol aus.
Rund ums Mittelmeer spielt es sich momentan ab. Vielleicht ist es
Zufall, das gerade in den Laendern des Maghreb, des Maschrek und
Suedeuropas Proteste gegen die Regierungen enorme Ausmasse annehmen --
bis hin zu Revolutionen. Aber verbindet diese Proteste etwas anderes
noch als der mediterrane Raum?
Auf den ersten Blick haben die Platzbesetzungen in Spanien und die
Streiks in Griechenland einerseits mit der aegyptischen Revolution und
den syrischen Erhebungen kaum etwas zu tun. Zu sehr praegt uns da das
Bild vom Unterschied zwischen den europaeischen Demokratien und den
arabischen Diktaturen. Jedoch waren in Tunesien arbeitslose Akademiker
und andere Gutausgebildete die treibende Kraft der Proteste -- ist das
in Spanien soviel anders? Ja, sicher, in Tunesien und Aegypten gab es
nur formal gewaehlte Praesidenten, die vorgehabt hatten, bis an ihr
Lebensende zu regieren, waehrend wir im freien Europa ja wirklich
waehlen duerfen. Aber ist das der Unterschied? Speziell in Spanien und
Griechenland gibt es jeweils nur zwei relevante Parteien, je eine
sozialdemokratische und eine konservative. Und die machen im Prinzip
immer die gleiche Politik, der beruehmten Sachzwaenge wegen. Diese
beiden Parteien wechseln sich hie und da an der Regierung ab, weil die
Waehlermasse keinen anderen Weg sieht, der Regierung weh zu tun, indem
sie bei den so seltenen Wahlen die jeweilige Oppositionspartei
waehlt -- wie das jetzt in Spanien bei den Kommunalwahlen auch prompt
wieder passiert ist.
Doch die Platzbesetzer von Spanien haben ganz bewusst die selbe Taktik
und Symbolik gewaehlt wie die aegyptischen Revolutionaere und machten
die Puerta del Sol zu ihrem Tahrirplatz. Sie druecken damit nicht nur
aus, dass ihnen die derzeitige Politik oder die derzeitigen
Ministerkoepfe nicht taugen, sondern dass am System selbst etwas faul
ist -- der Unterschied zu frueheren Massenprotesten in Europa ist
fundamental.
Natuerlich kam in den erste Tagen des Proteste auch die Unterstellung,
dahinter wuerde die Partei der Vereinigten Linken stecken. Klar,
Parteidemokraten koennen nur in solchen Kategorien denken, es ist
ihnen unvorstellbar, dass Protest auch abseits eingefahrener
Parteischemata funktionieren koennte.
Die Vereinigte Linke scheint da aber ein wenig ueberfordert -- denn
trotz ihrer Kleinheit ist auch sie Teil des etablierten
Parteienspektrums und kann mit so einem chaotischen Haufen, den sie
auch ideologisch nicht so recht einordnen kann, nicht viel anfangen.
Generell hat die gesamte traditionelle europaeische Linke ein Problem
mit solchen Bewegungen -- sie schwankt zwischen Begeisterung und
Vereinnahmung einerseits und Kritik wegen zu geringer Marx-Belesenheit
der Protestierenden andererseits. Beides ist ueberheblich und
politischer Murks.
Was also wollen die Protestierenden? Wie kann man sie verstehen? Kann
man sie ueberhaupt verstehen? Explizit Linke sind sie in der Mehrzahl
wohl nicht -- aber eher Linke als Rechte. Sie betonen selbst, aus
verschiedenen politischen Richtungen zu kommen, doch ihr Konsens
richtet sich gegen das politische System an sich und die ungerechte
Verteilung der materiellen Ressourcen.
Indignados
Es geht zum einen wohl einfach nur ums "gute Leben", zum anderen um
die Empoerung, dass das gute Leben zumindest im reichen Europa
eigentlich kein Problem darstellen sollte, wenn man die Megaprofite
umverteilt, anstatt nur die Verluste zu vergesellschaften. Und
drittens dreht es sich ganz wunderbar naiv um Demokratie -- die Leute
haben es einfach satt, dass man sie verarscht. Das mag man
praepolitisch nennen, ist es aber wohl nicht. Man koennte es
vielleicht "prae-links" nennen. In der ZiB wurde kuenstliche eine
Demonstrantin zitiert mit den Worten: "Es geht nicht um die
Sozialisten oder die Partido Popular, sondern um die Werte".
Moeglicherweise waere daher "wertsozialistisch" ein gutes Wort. Es ist
auch kein Zufall, dass die spanische Presse die Protestierenden
bisweilen "Indignados" ("Empoerte") nennt -- das erinnert an Stéphane
Hessels "Indignez-vous!"
Ja, alle Generationen sind in diesem Protest vertreten. Aber die
treibende Kraft sind natuerlich die Jungen. Das ist eine Generation,
die durch das Internet gepraegt ist. Die jetzt medial so gehypten
Plattformen facebook und twitter sind nur die aktuellen
Kommunikationsmittel, aber sie bestimmen nicht das Denken und
weitgehend auch nicht die Organisationsform. Doch das Internet an sich
bedeutet auch eine Wiederkehr der Moderne -- den Glauben an die
Machbarkeit der Veraenderung, eben auch der Veraenderung von unten. In
einer Welt, in der man selbst an einem Lexikon mitschreiben kann, das
mittlerweile die Lexika alten obrigkeitlichen Stils in ihrer schieren
Menge und zumeist auch in der Qualitaet der Informationen in den
Schatten stellt, wird ploetzlich klar, dass Macht auch kooperativ
ausgeuebt werden kann, ja, dass das herkoemliche Konzept der Macht an
sich ueberholt ist.
Natuerlich ist vieles davon Chimaere. Auch im Internet gelten
mittlerweile staatliche Regulationen, kapitalistische Prinzipien und
die Gesetze der Aufmerksamkeitsoekonomie -- aber erstens nicht so
total wie in der analogen Welt und zweitens ist das Gefuehl ein
anderes! Im Netz herrscht trotz aller Einschraenkungen derzeit eine
weitaus groessere Freiheit als im Alltag. Die Diskrepanz zu den realen
Herrschaftsverhaeltnissen wird dadurch deutlich.
So ist auch die Absage an die real existierende Demokratie
verstaendlich. Politische Parteien sind nicht nur deswegen
uninteressant geworden, weil sie allesamt trotz unterschiedlicher
Parteiprogramme alle die gleiche Politik machen, sondern auch weil
Demokratie ueber Volksvertreter und Tribunen nun als vollkommen
veraltetes Konzept dastehen. Und das trifft sogar die Piratenparteien,
die zwar Kinder des Netzes sind, aber ebenso nach dem alten Muster der
Parteifoermigkeit funktionieren.
Diese Ablehnung des Parteienstaats drueckte sich auch beim spanischen
Urnengang aus, denn die gestiegene Wahlbeteiligung sollte man wohl
nicht zuletzt darauf zurueckfuehren, dass sich die Zahl der
Weisswaehlenden verdoppelt hat.
"Eine Regierung ist bestenfalls ein nuetzliches Instrument; aber die
meisten Regierungen sind immer -- und alle sind manchmal -- unnuetz.
... Diese Regierung aber, die nichts weiter als die Form ist, welche
das Volk zur Ausfuehrung seines Willens gewaehlt hat, kann leicht
missbraucht und verdorben werden, bevor das Volk Einfluss darauf
nehmen kann. ... Der Fortschritt von einer absoluten zu einer
beschraenkten Monarchie, von einer beschraenkten Monarchie zur
Demokratie, ist ein Fortschritt in Richtung auf wahre Achtung vor dem
Individuum. ... Ist die Demokratie, wie wir sie kennen wirklich die
letztmoegliche Verbesserung im Regieren? Ist es nicht moeglich, noch
einen Schritt weiter zu gehen bei der Anerkennung und Kodifizierung
der Menschenrechte? Nie wird es einen wirklich freien und
aufgeklaerten Staat geben, solange der Staat sich nicht bequemt, das
Individuum als groessere und unabhaengige Macht anzuerkennen, von
welcher all seine Macht und Gewalt sich ableiten, und solange er den
Einzelmenschen nicht entsprechend behandelt."
Der das schrieb, kannte das Internet noch nicht. Der US-Amerikaner
Henri David Thoreau verfasste seine Schrift "Ueber die Pflicht zum
Ungehorsam gegen den Staat" -- deren meiste Aussagen heute so modern
klingen als haette sie gerade gestern irgendein Blogger in die
Tastatur gehackt -- im Jahre 1849, ein Jahr also nach Erscheinen des
"Kommunistischen Manifests" von Marx und Engels, in einer Zeit also,
als das Weltbild der Moderne seine erste Hochbluete hatte.
Demokratisierung als eigener Wert
Ich zitiere auch deswegen hier gerade Thoreau, weil ihm -- im
Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Marx -- noch weitgehend die
materialistische Analyse abging. Aehnlich ist es mit den spanischen
Protestierenden: Sie beschaeftigen sich nicht mit Geldtheorie oder dem
Eigentum an Produktionsmitteln. Damit ist auch unklar, wie eine Welt
nach ihren Vorstellungen auszusehen habe -- es muss auch unklar
bleiben, denn zum einen sind sie einfach nur empoert ueber das
materielle Unrecht, zum anderen fordern sie eben Demokratisierung. Da
es hier aber keinen homogenen Volkswillen gibt, sondern nur einen
vagen Grundkonsens, und ihnen wohl auch bewusst sein muss, dass das
Volk auch diejenigen sind, die nicht hinter ihrem Protest stehen,
scheint Demokratisierung noch keinen materiellen Inhalt zu bedeuten.
Und doch ist Demokratisierung durchaus ein politischer Wert an sich,
da eine demokratische Gesellschaft eine weniger entfremdete ist als
eine undemokratische -- und (zumindest im nationalen und europaeischen
Rahmen) langfristig nicht mehr die Ausbeutung einer grossen Mehrheit
durch eine kleine Minderheit bedeuten kann. Das loest noch nicht die
Ausbeutung des Trikonts, aber es waere ein Anfang.
Unser demokratisches System gewaehrt uns (solange es sich nicht
ernsthaft gefaehrdet sieht) eine gewisse Meinungsfreiheit. Und wir
duerfen alle paar Jahre mal ein Kreuzerl machen. Damit sollen wir uns
zufriedengeben. Nochmals Thoreau: "Wie kann sich jemand nur damit
zufriedengeben, dass er eine Meinung hat! Was fuer eine Genugtuung
liegt darin, wenn es seine Meinung ist, dass er bedrueckt sei?" Allein
damit sind eben auch die Menschen an der Puerta del Sol nicht mehr
zufrieden. Natuerlich, das Establishment wird fuers Erste den Protest
wohl einfach aussitzen. Viel wird sich sofort wahrscheinlich nicht
aendern. Doch die Widersprueche werden deswegen nicht verschwinden.
Auf lange Sicht ist das vielleicht der Beginn einer echten Revolution
in Europa. Spaniens Himmel breitet sein Sterne wieder aus -- und sie
scheinen fast zum Greifen nah.
*Bernhard Redl*
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