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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 30. Maerz 2011; 02:16
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Krise/Protest:

> Eine stille neoliberale Revolution

Ein ganzes Buendel von Vorschlaegen fuer eine verstaerkte
wirtschaftspolitische Koordinierung in der EU ("Economic Governance")
kursiert derzeit in Bruessel und Europas Hauptstaedten. Was auf den
ersten Blick positiv klingt, koennte die entscheidende Weichenstellung
fuer ein europaeisches Wettbewerbsmodell niedrigster Loehne und
Sozialstandards sein, befuerchtet ATTAC.

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Die Krise wird dazu benutzt, einen hoechst fragwuerdigen, neoliberalen
und makrooekonomisch kontraproduktiven wirtschaftspolitischen Kurs,
der Europa mit in die Krise gestuerzt hat, zu verstaerken und zu
verschaerfen. Die sich jetzt abzeichnende Einigung ist der direkte Weg
ins wirtschafts- und demokratiepolitische Desaster.

Die Krisenursachen werden ignoriert

Der Kern der neuen Regelungen umfasst eine Verschaerfung des
Stabilitaets- und Wachstumspaktes (SWP), ohne jedoch dessen
grundlegende Konstruktionsfehler zu beheben, und die
"makrooekonomische Ueberwachung". Beide Instrumente werden fuer die
Eurozone mit Sanktionen bis hin zu saftigen Strafzahlungen
durchgesetzt. Mit dem verschaerften SWP werden strengere
Ausgabendisziplin und noch rascherer Abbau der Staatsschulden oberste
Leitnorm der Wirtschaftspolitik. Dabei scheint es nicht um einen
sinnvollen Abbau der hohen Schuldenbelastung - die im Uebrigen nicht
durch "unverantwortliche Mitgliedsstaaten", sondern durch die Folgen
der Krise und Bankenrettungspakete in die Hoehe geschnellt ist - zu
gehen, sondern de facto um einen radikalen Abbau des Staates an sich.
In der jetzigen Situation so radikal und einseitig auf einen
akkordierten Sparkurs zu setzen wird die europaeische Wirtschaft auf
Jahre (wenn nicht Jahrzehnte) schwaechen und Arbeitsmarkt- sowie
soziale Probleme verschaerfen - was uebrigens auch der IMF
befuerchtet. Durch die damit verbundene dauerhafte Schwaechung der
Einnahmenseite wird es auch zu keiner nachhaltigen Verbesserung der
Schuldensituation kommen.

Mit der makrooekonomischen Ueberwachung sollen wirtschaftliche
Ungleichgewichte ermittelt und diesen gegengesteuert werden.
Grundsaetzlich gut und wichtig, aber: Der gewaehlte Ansatz an sich ist
extrem ungleichgewichtig. Der Kern des neuen Instruments, eine Reihe
von Indikatoren anhand derer makrooekonomische Ungleichgewichte
festgestellt werden sollen (Scoreboard), ist einseitig angelegt und
wird den Mitgliedsstaaten eine neoliberale wirtschaftspolitische
Zwangsjacke anlegen. Wiewohl die Indikatoren definitiv erst nach
Beschluss der Rechtsakte unter Ausschluss der Mitwirkung des
Europaeischen Parlaments festgelegt werden sollen, zeichnet sich ab,
dass wesentliche Ungleichgewichtsfaktoren wie Entwicklung von Lohn-
und Gewinnquoten, Arbeitslosigkeit, Entwicklung der Steuereinnahmen
und der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage keinerlei Rolle spielen
werden.

Demokratiepolitischer Suendenfall

Buerokratische Mechanismen sollen also - anstelle des demokratischen
Souveraens - ueber heikle wirtschaftspolitische Prioritaetensetzungen
entscheiden. Der Europaeischen Kommission wird nun mit den neuen
Instrumenten eine noch zentralere Machtposition ueber die
Mitgliedstaaten eingeraeumt. Fuer die Nichteinhaltung der
wirtschaftspolitischen Empfehlungen und Vorgaben sind Strafzahlungen
in hohem Ausmass (jaehrlich 0,1% bzw. 0,2% des BIP) vorgesehen. Diese
sollen mittels "reverse majority voting" - einem hoechstwahrscheinlich
EU-rechtswidrigem Verfahren - durchgesetzt werden. Stellt die
Kommission fest, dass sie mit den wirtschafts- und budgetpolitischen
Massnahmen der Staaten nicht zufrieden ist, empfiehlt sie
Strafzahlungen, die Rechtskraft erlangen, wenn der Rat sich nicht
innerhalb von 10 (!) Tagen mit qualifizierter Mehrheit dagegen
ausspricht. Somit erlangen die Einschaetzungen von demokratisch nicht
legitimierten Buerokraten ueber wirtschaftspolitische Fragen quasi
automatisch rechtliche Wirkung und die Kommission de facto legislative
Kompetenz in heiklen Fragen wirtschaftspolitischer Prioritaeten.

Vor dem Hintergrund der ideologischen Ausrichtung der Kommission und
der maechtigen Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen ist das fatal.
Denn dort sitzen vor allem Personen, die jenen wirtschaftspolitischen
Kurs vertreten, der uns in die Krise gefuehrt hat. Naemlich: Weniger
Staat und mehr Markt ist gut, hohe Staatsausgaben sind die Folge eines
ueberbordenden Sozialstaates, und Sparpakete (und somit der Abbau des
Sozialstaates bzw. des Staates insgesamt) sind die Loesung fuer das
Problem. Die wirtschaftspolitischen Rezepte, die uns in die Krise
gefuehrt haben, sollen jetzt mit noch groesserer Vehemenz angewendet
werden.

Die neue Architektur wird gravierende Auswirkungen auf die Menschen in
der EU haben und deren demokratische Handlungsspielraeume und
wirtschaftspolitische Optionen drastisch einschraenken. Die
Notwendigkeit verstaerkter wirtschaftspolitischer Koordinierung ist -
im Falle eines Binnenmarktes und einer Einheitswaehrung -
unbestritten.

Der eingeschlagene Weg der Koordinierung wird aber die europaeische
Integration nicht staerken, Konstruktionsfehler der Wirtschafts- und
Waehrungsunion werden nicht behoben. Dieser Weg riskiert die
wirtschaftliche und politische Desintegration Europas. Die Vorschlaege
stellen ein einseitiges wirtschaftspolitisches Korsett dar, das die
wirtschaftlichen Unterschiede in Europa vertiefen wird. Wesentliche
Bausteine einer noetigen Reform, wie die effektive Regulierung der
Finanzmaerkte und Banken, Finanztransaktionssteuer, die Beschraenkung
der Groesse von Banken, die Moeglichkeit von
Kapitalverkehrskontrollen, die Schliessung von Steueroasen und die
Verhinderung des Steuerwettlaufs nach unten durch die Einfuehrung von
Mindeststeuersaetzen bei der Unternehmensbesteuerung sowie ein
realwirtschaftlicher Stabilitaets- und Investitionspakt und regionaler
Ausgleich werden weiter verhindert oder auf die lange Bank geschoben.
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Quelle: http://www.attac.at/9411.html



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