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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 2. Maerz 2011; 02:06
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Ungarn/Interview:

> Nicht nur das Mediengesetz

G.M. Tamás ueber die neuen ungarischen Verhaeltnisse

*Gáspár Miklós Tamás*, gebuertig 1948 aus Siebenbuergen, ist Philosoph.
Er hatte in den 80er Jahren Berufsverbot aus politischen Gruenden, war
von 1989 bis 1994 Abgeordneter im ungarischen Parlament und ist
Vorsitzender der Gruenen Linken Ungarns. Nach dem Wahlsieg der FIDESZ
hat er seine Stelle am Philosophischen Institut in Budapest verloren.
Mit ihm sprach -- noch vor dem schwammigen Kompromiss zwischen Ungarn
und der EU -- *Karlen Vesper* (Neues Deutschland).

Frage - Europa ist stark beunruhigt ueber das neue Mediengesetz in
Ungarn. Wie schlimm ist es?

Tamás: Es ist schlimm, ganz schlimm. Es sind nicht nur subversive oder
oppositionelle Diskurse verboten, man schreibt auch Inhalte vor. Alle
Zeitungen haben die Pflicht, Angelegenheiten von «nationaler
Bedeutung» zu veroeffentlichen. Und eine Zentralbehoerde fabriziert
die Nachrichten.

- Wie im Realsozialismus? Das neue Mediengesetz scheint aber nur die
Spitze des Eisbergs zu sein. Einen ganzen Katalog undemokratischer
Massnahmen hat die neue Regierung in Budapest unter Viktor Orbán
erlassen.

T: 157 neue Gesetze und 9 Vefassungsaenderungen sind seit Fruehjahr
vorigen Jahres, seit die neue Regierung im Amt ist, verabschiedet
worden. Das ist furchtbar. Die Fidesz-Partei hat im Parlament eine
Zweidrittelmehrheit. Und unsere Verfassung erlaubt es, mit einer
solchen Mehrheit alles, auch die Verfassung zu aendern. Es gibt in der
ungarischen Verfassung keine Ewigkeitsklauseln wie im deutschen
Grundgesetz.

- Und deshalb schreitet auch das Verfassungsgericht nicht ein?

T: Das Verfassungsgericht ist kastriert, hat keine wirklichen
Befugnisse. Zum Beispiel kann es nicht mehr Budgetfragen beurteilen.
Und was ist nicht alles damit verknuepft! Praktisch alles. Schon sind
Theatern und der Filmindustrie die Gelder entzogen.
Das Problem sind aber nicht nur die neuen Gesetze. Tausende Menschen
sind aus den oeffentlich-rechtlichen Medien und dem oeffentlichen
Dienst entlassen und ersetzt worden durch engagierte Parteileute der
Rechten, teilweise der extremen Rechten. Es gibt ein neues
Beamtengesetz, das die Entlassung oeffentlich Bediensteter ohne
jegliche Begruendung gestattet. An Lehr- und Forschungseinrichtungen
finden politische Saeuberungen statt. Das 1956er Institut ist dicht.
Und und und.

- Erstaunlich, dass der europaweite Aufschrei nicht schon frueher
erfolgte, sondern erst mit dem neuen Mediengesetz.

T: Natuerlich. Die Weltpresse ist sehr provinziell geworden. Erst wenn
das Interesse der Journalistenprofession bedroht ist, ist das Geschrei
gross.

- Die Einschraenkung des Streikrechts in Ungarn hat beispielsweise
nicht diesen Protest gefunden.

T: Europaeische Gewerkschaften haben zwar protestiert, aber das finde
ich in keiner einzigen von 7000 Zeitungen, die es in Europa gibt. In
keiner einzigen. Naja. [...]

- Wie hat es zu diesem starken Rechtsruck kommen koennen?

T: Durch das Versagen und den Zusammenbruch der sozialistischen
Partei. Wir haben nicht wahr haben wollen, was eine buergerliche
Partei sich zu leisten wagt. Ich bin Herrn Orbán dankbar, dass er den
ehrlichen, aufrechten Demokraten jetzt gezeigt hat, dass die
buergerliche Demokratie kein Garant fuer die Freiheit ist. Die
antidemokratische Wende in Ungarn vollzog sich im Rahmen der
Verfassung.

- Ist Ungarn kein demokratischer Staat mehr?

T: Wir haben eine halbe Diktatur. Und die Sozialisten, die eine
neoliberale Politik betrieben haben, sind daran mitschuldig. Das ist
ein Grund. Ein anderer ist die Eskalation der Konflikte innerhalb der
Gesellschaft, die man in ganz Europa registrieren kann und die dort
ebenso eines Tages umzuschlagen drohen. Da ist dieser neue
wirtschaftliche Rassismus: kein Geld fuer Minderheiten und Fremde. Bei
uns kann nur noch soziale Unterstuetzung erhalten, wer in «geordneten
Verhaeltnissen» lebt; das bietet weiten Interpretationsraum.
Das kann man auch in Italien und Frankreich beobachten. Sozialhilfe
und Sozialversicherungen werden denunziert als unverdiente Geschenke
an Farbige, Einwanderer, Faulenzer, Schmarotzer - blablabla. Man sagt
das manchmal verbluemt, manchmal auch ganz unverbluemt. Bei uns, in
Italien, in Frankreich.
[...] Der Sozialstaat wird als eine ungerechte Institution
dargestellt, die nur unpopulaeren Minderheiten zu Gute komme. Dass
diese Ansicht sich ausgebreitet hat, ist einer der Riesenerfolge der
Rechten in den letzten Jahren. Nicht nur in Ungarn, nicht nur in
Europa. Warum ist die Bevoelkerung der Vereinigten Staaten gegen ein
Sozialhilfesystem? Weil die Sozialhilfeempfaenger mehrheitlich
Schwarze sind. Es werden Stimmungen geschuert wie in den 50er und 60er
Jahren. [...] Es ist der Rechten in den USA gelungen, die unteren
Schichten der Gesellschaft fuer Sozialkaempfe zu demotivieren. Das
waere Erstens.
Zweitens gibt es den Generationskonflikt. Es wird Stimmung gegen die
Rentner gemacht, ueberall. Und das ist furchtbar. Man spricht ueber
sie, als waeren sie Parasiten. Warum sterben sie nicht endlich? Das
fragt man bei uns ganz offen. Und drittens waere der erstarkte
Nationalismus zu nennen. Die Orbán-Regierung behauptet, der
Kapitalismus sei unserem Land fremd. Man polemisiert gegen die
Globalisierung und gegen multinationale Konzerne, die uns ihre
Fremdherrschaft aufzwingen wollten. [...] Und all die Menschen, die
gegen diesen aggressiven Nationalismus und militanten Rassismus
protestieren, werden in der rechten konservativen Presse in Ungarn mit
dem Etikett «fremdherzig» belegt. Ich bin auch ein fremdherziger
Buerger.

- Das erinnert an das Vokabular der Nazis: die «Fremdkoerper», die der
«gesunden Volksgemeinschaft» schaden und «auszumerzen» sind. Erst zu
Beginn des Jahres 2010 wurde in Ungarn ein Paragraf gegen die Leugnung
des Holocaust verabschiedet...

T: Und ist schon wieder aufgehoben. Es gibt auch keine Verbrechen
ungarischer Faschisten, nur des deutschen Nationalsozialismus - und
des Kommunismus. Es ist eine Straftat, wenn man sagt, dass es in den
60er Jahren eine groessere Gerechtigkeit in der Gesellschaft gab als
heute. Wer die moerderische Hatz gegen Sinti und Roma kritisiert oder
den Antisemitismus verurteilt, gilt in Ungarn als Agent des Auslandes,
ob wissentlich oder unwissentlich. Marxisten, Liberale,
Sozialdemokraten, Gruene - alle sind fremdherzige und sippenfremde
Agenten.
Die Leute stoehnen und schimpfen gegen die Multis. Und sie glauben,
unsere Regierung schuetzt sie, verhindert, dass Ungarn unter das Joch
fremder multinationaler Unternehmen faellt, denn sie hat ja
Spezialsteuern gegen auslaendische Banken, Versicherungsgesellschaften
und Geschaeftsketten erhoben. Die Regierung operiert mit
antikapitalistischen Floskeln, ungeachtet der Tatsache, dass ihre
Sponsoren die reichen Kapitalisten sind. Nationalismus, Rassismus und
Pseudo-Antikapitalismus ergeben eine sehr gefaehrliche Mischung.
(Gekuerzt)

Quelle: Neues Deutschland, 14.1.2011, nach (Volltext):
http://www.sozonline.de/2011/02/noch-nie-war-es-so-schlimm


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