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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 9. Februar 2011; 02:33
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Debatten/Repression:
> Sie sind unter uns
Ueber Spitzel in der Linken
*Stefan Horvath* von der RSO macht sich Gedanken ueber die aktuelle
Politik polizeilicher Infiltrierungen
Fans der buergerlichen Demokratie witzeln gerne darueber, wenn Linke
von geheimen Operationen des Staatsapparates sprechen. Doch die
juengsten Enthuellungen von verdeckten ErmittlerInnen in Deutschland,
Oesterreich und Grossbritannien zeigen, dass die Realitaet haeufig
skurriler ist als jede Verschwoerungstheorie.
"Jetzt ist schon wieder was passiert". Mit diesem Satz beginnt jeder
der grossartigen "Simon Brenner"-Krimis des oesterreichischen Autors
Wolf Haas. Der kauzige Ex-Polizist Simon Brenner, der da in
einigermassen kuriosen Mordfaellen ermittelt, zeichnet sich weniger
durch hohe investigative Dynamik als durch Starrsinn und
Hartnaeckigkeit aus. Keine schnellen Schluesse ziehen, das ist sein
Motto.
Der "echte" Simon Brenner
Schnelle Ergebnisse, die musste auch der gleichnamige Simon Brenner in
Heidelberg nicht liefern. Sein Einsatz als verdeckter Ermittler in der
linken StudentInnenszene der suedwestdeutschen Universitaetsstadt war
auf mehrere Jahre angelegt. Dumm nur, dass ihm am 11. Dezember 2010
eine Urlaubsbekanntschaft einen Strich durch die Rechnung machte. "Du
bist doch der Simon von der Polizei!?" Und schon war es um den gross
angelegten Spitzelversuch des Landeskriminalamts (LKA)
Baden-Wuerttemberg geschehen. Dadurch, dass er tags darauf von seinen
ehemaligen "FreundInnen" zu Rede gestellte wurde und dabei offenbar
auch recht redselig war, wissen wir nun interessante Details ueber
verdeckte Ermittlungen innerhalb der Linken. (Mehr dazu auf Indymedia, 1)
Interessant am Fall "Simon Brenner" ist jedenfalls, dass seine falsche
Identitaet wesentliche Aehnlichkeiten mit seinem wirklichen Leben
aufweist. Etwa der Name (Simon Bromma), seine Heimatregion oder sein
Hobby des Fahrradfahrens. Das ist kein Wunder, denn so versucht die
Polizei ein unabsichtliches Verplappern des Spitzels oder zufaellig
auftretender Bekannter zu verhindern.
Danielle Durand und die oesterreichische Tierrechtsszene
Aehnlich wird es wohl auch im Fall von "Danielle Durand" gewesen sein,
jener verdeckten Ermittlerin, die ueber 16 Monate die oesterreichische
Tierrechtsszene bespitzelt hatte. Bei ueber 200 Veranstaltungen und
Aktionen von Infotischen in Einkaufsstrassen ueber
Rechtshilfeworkshops bis hin zu Jagdsabotagen war die fleissige
Polizistin mit von der Partie. Zwar konnte "Durand" den nun
angeklagten 13 TierrechtsaktivistInnen keinerlei Straftaten nachweisen
(im Gegenteil, ihre Bericht entlasteten die Angeklagten sogar), regte
interessanterweise gegenueber AktivistInnen aber an, Codeworte oder
e-Mail-Verschluesselung zu verwenden - also Massnahmen, die den
Angeklagten jetzt zur Last gelegt werden.
Obwohl das Verschluesseln von e-Mails weder illegal noch unueblich
ist, verweist dieses Beispiel auf eine weitere Funktion von
Polizeispitzeln. Oftmals sollen sie linke Organisation nicht nur
aushorchen, sondern auch als sogenannte Agent Provocateurs zu
Straftaten anregen, um AktivistInnen damit in die Falle zu locken.
Ein weiteres Beispiel dafuer ist Mark Kennedy, der sieben Jahre lang
in 22 (!) verschiedenen Laendern aktiv war und unter anderen 113
AktivistInnen mit Infos und bestmoegliche Zugaenge zum englischen
Kohlekraftwerks Ratcliffe-On-Soar zwecks Blockadeaktion versorgt
hatte.
20 Jahre Infiltration
Eine weitere sehr wesentliche Infiltration flog bereits vor 2001 auf:
"Manfred Schlickenrieder" und die "Gruppe 2" in Muenchen. Unter dem
Deckmantel eines linken Dokumentationsprojekts bewegte sich
"Schieckenrieder" in der westeuropaeischen radikalen Linken und suchte
vor allem den Kontakt zu bewaffnet kaempfenden Organisationen wie den
Resten der RAF, den Roten Brigaden, der Action Directe oder der
tuerkischen Devrimci Sol.
"Schieckenrieder" schrieb rund 20 Jahre lang Berichte und politische
Einschaetzungen, legte Namenslisten und Fotokarteien an. Anfaenglich
stellte die Gruppe 2, die offenbar nur aus Schieckenrieder bestand,
Kassetten mit Liedern der italienischen Arbeiterbewegung her und
vertrieb politische Filme und Buecher aus Italien. Spaeter gab sie die
Zeitschrift "texte" heraus. Zugleich trat die "gruppe 2" als
Dokumentationsstelle auf, die ein kleines Archiv betrieb, das (gegen
Hinterlegung der Personalien) von Einzelpersonen genutzt werden konnte
und wo Videogeraete ausgeliehen werden konnten. Und natuerlich filmte
sie.
Als der "Revolutionaere Aufbau Schweiz" Schieckenrieder schliesslich
aufdecken konnte, ging eine rund 20jaehrige intensive Bespitzelung
eines Spektrums der radikalen Linken zu Ende (2).
Pack schlaegt sich ...
Dass Polizeiprovokateure regelmaessig bei groesseren linken Demos
eingesetzt werden, ist fuer die organisierte Linke ein alter Hut.
Bloss die buergerliche Presse muss das immer wieder aufs Neue
"herausfinden" und verkaufswirksam ein wenig skandalisieren. In einem
Interview mit dem Hamburger Abendblatt (3) spricht ein Polizist ganz
offen ueber diese Praxis: "Ich weiss, dass wir bei brisanten
Grossdemos verdeckt agierende Beamte, die als taktische Provokateure,
als vermummte Steinewerfer fungieren, unter die Demonstranten
schleusen. Sie werfen auf Befehl Steine oder Flaschen in Richtung der
Polizei, damit die dann mit der Raeumung beginnen kann.".
Was viele Faelle von Bespitzelung linker Organisationen eint, ist,
dass die Einsaetze oftmals hart an der Grenze des buergerlichen Rechts
schrammen, nicht selten sind sie schlicht illegal. So hat
Polizeispitzel Simon Bromma die linke Szene Heidelbergs ohne konkreten
Tatverdacht infiltriert, was gegen deutsches Recht verstoesst. Und
auch der Einsatz von Frau "Durand" war spaetestens seit Anfang 2008
rechtlich nicht mehr gedeckt.
... Pack vertraegt sich
Diese unrechtmaessigen Umstaende zu thematisieren, etwa gegenueber der
linksliberalen buergerlichen Presse, ist fuer linke AktivistInnen
sicher sinnvoll. Doch fuer uns selbst muss klar sein, dass sich der
Staatsapparat in seinem Kampf gegen die Linke und die
ArbeiterInnenbewegung niemals an Gesetze halten wird, wenn er es fuer
noetig erachtet. Vielmehr koennen wir davon ausgehen, dass die
radikale Linke (oder das, was der Staat eben dafuer haelt) ganz
routinemaessig auch mit dem Einsatz illegaler Mittel ueberwacht wird.
Dafuer wurden in der Geschichte sogar auch immer wieder gaenzlich
informelle Geheimdienste gegruendet, wie beispielsweise das
Gladio-Netzwerk ("Strategie der Spannung", 4). Auf die abstrakte
buergerliche "Demokratie" brauchen wir da wirklich nicht vertrauen.
Silentium!
Trotzdem sollten AktivistInnen der Linken und der
ArbeiterInnenbewegung nicht paranoid werden. Sicher, es ist
beaengstigend, wenn die Polizei so massiv in das Leben von Menschen
eingreift. Wenn sich ploetzlich herausstellt, dass eine Person, der du
vertraut hast, mit der du vielleicht gut befreundet warst oder ein
sexuelles Verhaeltnis gepflegt hast, in Wirklichkeit jemand anderer
ist. Dass diese Person Akten ueber dich angelegt hat und diese an den
Staatsapparat weitergegeben hat. Der psychische Schaden, den so etwa
ausloest, ist sicher nicht zu unterschaetzen.
Politisch gesehen hingegen koennen Polizeispitzel der Linken zwar
erheblich schaden, gaenzlich aufhalten koennen sie progressive und
revolutionaere Bewegungen aber nicht. Die Bolschewiki etwa hatten ab
1912 mit Roman Malinowski sogar einen Polizeispitzel im
Zentralkomitee - und das im aeusserst repressiven zaristischen
Russland. Und schliesslich gab es keinen einzigen bolschewistischen
Parteitag im Ausland, wo nicht mindestens ein Spitzel der zaristischen
Geheimpolizei Ochrana anwesend war. Immer wieder wurden Mitglieder
verhaftet und Gruppen ausgehoben, nichtsdestotrotz wuchs die Partei an
und konnte im Oktober 1917 sogar die Revolution anleiten.
Sicherheitskultur
Das bolschewistische Beispiel und viele weitere aus der Geschichte
zeigen: Vorsichtig mit internen Informationen umzugehen, kann der
Linken nie schaden. Eine revolutionaere Organisation wird niemals
darauf verzichten koennen, Zugriffe von aussen so weit wie moeglich zu
erschweren und besonderes Gewicht auf eine "Sicherheitskultur" zu
legen. Auf die repressiven Praktiken des Staates mit Paranoia und
einem Rueckzug in selbstgewaehlte Isolation zu reagieren, so wie es
weite Teile des autonomen Spektrums vor allem im deutschsprachigen
Raum betreiben, ist aber die falsche Strategie. Dadurch schneidet sich
die politische Organisation nur von den Menschen ab, die sie
eigentlich ueberzeugen und gewinnen will und macht sich auf der
anderen Seite erst recht interessant fuer "Big Brother" Staat. Die
optimale Balance von Sicherheit und Offenheit wird wohl immer wieder
neu zu definieren sein. Denn Sicherheitsmassnahmen haben zwei Seiten:
Einerseits sind sie unabdingbar, gewaehrleisten sie doch das noetige
Ausmass an Sicherheit, schotten die Organisation nach aussen ab und
behindern staatliche Repression und unerwuenschte Infiltration von
aussen. Andererseits aber koennen Sicherheitsmassnahmen auch dazu
tendieren, sich von politisch Interessierten abzuschneiden und sich in
der selbstgewaehlten Isolation wohlig einzurichten. Denn die beste
Versicherung gegen staatliche Repression ist noch immer eine breite
Verankerung und Popularitaet in der ArbeiterInnenklasse.
(gek. u. bearb.)
Quelle: http://www.sozialismus.net//content/view/1585/44/
Fussnoten
1) http://linksunten.indymedia.org/de/node/31404
http://linksunten.indymedia.org/de/node/33404
(Die Antifaschistische Initiative Heidelberg bemerkt in einer
Aussendung, dass sie zwei weitere Spitzel ausgemacht haben will, hat
bislang aber keine Namen genannt und fordert die Behoerden auf, ihre
Agenten sofort zurueckzuziehen.)
2) http://www.salonrouge.de/gruppe_2.htm
3) http://www.abendblatt.de/hamburg/article1665966/Wir-werden-von-der-Politik-verheizt-Polizisten-erzaehlen.html
4) http://www.sozialismus.net/content/view/626/223/
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