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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 9. Februar 2011; 02:29
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Buecher:

> Oecalans Gefaengnishefte

Abdullah Oecalan:
Jenseits von Staat, Macht und Gewalt. Verteidigungsschriften
Neuss 2010, Mezopotamien Verlag
ISBN: 978-3-941012-20-2
Preis: € 15,-


Es ist eine Herausforderung, Schriften eines in Isolationshaft
befindlichen Gefangenen herauszugeben. Die Internationale Initiative
"Freiheit fuer Abdullah Oecalan - Frieden in Kurdistan" hat dies nun
mit einer Verteidigungsschrift, die als Eingabe im Prozess des 1999
von tuerkischen Agenten in Kenia entfuehrten PKK-Fuehrers verfasst
wurde, gewagt und damit ein Buch publiziert, das nicht nur fuer
PKK-Anhaenger interessant sein duerfte.
Vielmehr dokumentiert der ueber 500 Seiten starke Band auch fuer aus
verschiedensten Gruenden an der Entwicklung der PKK Interessierte eine
bemerkenswerte Weiterentwicklung des Gefangenen auf der Insel İmralı.

Selbstverstaendlich ist dabei zu beachten, unter welchen Bedingungen
diese Schriften entstanden sind. Oecalan verfuegt auf İmralı ueber
keine wissenschaftlichen Bibliotheken, kann also nur aus dem
Gedaechtnis zitieren. Nachfragen der Verleger und Uebersetzer an den
Autor waren nicht moeglich.

Trotzdem ergibt sich ein Bild des gegenwaertigen Denkens Oecalans, der
sich dabei als Pragmatiker zeigt, der auch faehig ist aus Niederlagen
zu lernen. Der Gegensatz zum Vorwort von Cemil Bayık, einem der
hoechsten in Freiheit befindlichen Funktionaere der PKK, aber auch zu
frueheren Schriften Oecalans, ist bereits in der Sprache augenfaellig.
Oecalans Reflexionen in Gefangenschaft sind weit entfernt von der
marxistisch-leninistischen Kampfrhetorik der 1980er-Jahre, sondern
reflektieren durchaus auch selbstkritisch die eigenen Kaempfe, Erfolge
und Niederlagen.

Eine der bemerkenswertesten Veraenderungen in Oecalans Denken wird im
Begriff des ‚Volkes' sichtbar. In der PKK waren in der Vergangenheit
immer wieder stark nationalistische Toene zu hoeren, die auch
durchaus - zumindest fallweise - einen voelkischen Nationsbegriff
inkludierten. Fuer den gegenwaertigen Oecalan besitzt der Begriff des
"Volkes" zwar immer noch eine sehr zentrale Bedeutung, allerdings
stellt er nun unmissverstaendlich klar, dass er diesen aehnlich wie
grosse Teile der lateinamerikanischen Linken den Begriff ‚pueblo'
verwendet: "Wir koennen die Gruppen, die sich um den Staat herum
anordnen und von ihm materiell und ideell, naemlich durch Oekonomie
und Wissen profitieren, als offizielle Gesellschaft, Oligarchie oder
ganz einfach als ‚staatstragend' bezeichnen. Die Gruppen, die als
dialektischer Gegenpol im Gegensatz zu ihnen stehen, die
unterdrueckten Klassen, ethnischen, kulturellen, religioesen und
geschlechtsspezifischen Gruppen koennen wir ‚Volk' nennen." (S. 173)
Dieser Begriff hat mehr mit Negri und Hardts ‚Multitude' gemeinsam,
denn mit dem, was im deutschen Sprachraum meist als Volk bezeichnet
wird.

Dementsprechend verzichtet Oecalan auch weitgehend auf
Verschwoerungstheorien oder die alte antiimperialistische Rhetorik und
versucht die Politik der USA im Nahen Osten systemisch zu erklaeren.
Die USA wuerden sich vielmehr darum bemuehen, die Krise des
Kapitalismus zu managen und waeren sich ihrer diesbezueglichen
Verantwortung bewusst. Die Einschaetzung sie haetten vor ihr Imperium
auszudehnen, betrachtet er als "unangemessen". Hingegen wuerden sich
deutliche Vorzeichen fuer den Verfall dieses Imperiums zeigen: "Seit
dem Zerfall der Sowjetunion 1990 erfolgt die Ausbreitung nahezu von
selbst. Das liegt jedoch nicht daran, dass sie staerker geworden
waeren, sondern daran, dass das System ein Vakuum nicht toleriert. Man
muss betonen, dass das Imperium keine Erfindung der USA ist, sondern
so alt wie das System selbst und nur seine juengste Auspraegung im
Kapitalismus in den USA findet." (S. 169)

Demokratie und eine oekologisch-soziale Oekonomie stehen heute im
Mittelpunkt Oecalans Denken. Aus der Oktoberrevolution zieht er die
Lehre, dass es nur dauerhafte antikapitalistische Loesungen geben
koenne, "indem die demokratische Haltung der Voelker in umfassende
demokratische Systeme transformiert wird." (S. 175f) Die Linke - auch
die PKK - muesse sich vom Etatismus befreien. Hier knuepft die seit
2005 durch die PKK propagierte Idee eines ‚demokratischen
Konfoederalismus' von unten an. Die umfassende und keineswegs nur
oberflaechliche Kritik der bisherigen Staats- und Revolutionskonzepte
der PKK sind ein eindrucksvolles Beispiel an Selbstkritik, die
allerdings noch davor zurueckschreckt auch die eigene Person und Rolle
als autoritaere und idealisierte Fuehrergestalt kritisch unter die
Lupe zu nehmen.

Neben diesen Innovationen und Weiterentwicklungen finden sich jedoch
auch Konstanten im Denken Oecalans. So bleibt die wichtige Rolle, die
er der Patriarchatskritik einraeumt auch in diesen Schriften sichtbar.
Oecalan, der sich immer wieder auch innerhalb der PKK auf die Seite
der weiblichen Kaempferinnen gestellt hatte und dessen frueherer
Ehefrau Kesire Yıldırım nachgesagt wird, dessen feministisches Denken
massgeblich beeinflusst zu haben, setzt sich auch in dieser
Schriftensammlung ausfuehrlich mit dem Patriarchat auseinander.
Historisch haelt er die Unterdrueckung der Frau durch das Patriarchat
fuer die "erste folgenreiche Konterrevolution" (S. 21) und haelt fest,
dass die Freiheit und Gleichberechtigung der Frau eine Bedingung fuer
die Freiheit und Gleichheit einer Gesellschaft darstellt. Oecalan ist
sich dabei auch in diesem Zusammenhang der Unzulaenglichkeiten
maennlicher Revolutionaere bewusst und fordert erneut einen "Mann zu
finden oder zu schaffen", der seine patriarchalen Praegungen
ueberwindet. (S. 23)

Oecalans in Gefangenschaft verfassten Schriften stehen damit durchaus
in der Tradition der Ideologie der PKK als linke nationale
Befreiungsbewegung, die auch den Anspruch der Veraenderung der eigenen
Gesellschaft beinhaltet. Oecalan gehoert jedoch offenbar auch zu
jenen, deren politisches Denken durch die erzwungene Abstinenz von der
Tagespolitik geschaerft wurde und denen es gelingt in der
Gefangenschaft ihr politisches Denken weiterzuentwickeln.
*Thomas Schmidinger*



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