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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 26. Jaenner 2011; 00:54
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Tunesien:

> "Der Diktator ist gestuerzt - die Diktatur aber noch nicht"

*Hamma Hammami* ist Vorsitzender der Kommunistischen Arbeiterpartei
Tunesiens (Parti Communiste Des Ouvriers Tunisiens, PCOT). Er wurde
waehrend der 23jaehrigen Amtszeit des tunesischen Praesidenten Zine Al
Abidine Ben Ali und dessen Partei RCD (Konstitutionelle Demokratische
Versammlung) insgesamt zehn Jahre als politischer Gefangener
inhaftiert. Weitere zehn Jahre musste er im Untergrund verbringen.
*Gitta Dueperthal* fuehrte ein Gespraech mit ihm fuer die deutsche
Tageszeitung "junge welt"

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Frage: Am 17. Dezember 2010 hat sich der 26 Jahre alte
Universitaetsabsolvent Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid selbst
verbrannt, nachdem die Polizei seinen Obst- und Gemuesekarren
konfisziert hatte, mit dem er seinen Lebensunterhalt verdiente. Nach
seinem Tod explodierte die Lage - die Menschen gingen auf die Strasse
und forderten Arbeitsplaetze, bessere Lebensbedingungen und ein Ende
der Korruption. Wie ist die Situation im Moment? Gibt es noch
Strassenkaempfe - geht die Revolte weiter?

Hammami: Zur Zeit findet eine machtvolle und populaere Revolution in
Tunesien statt. Das tunesische Volk hat den Diktator Ben Ali verjagt -
und ist nun dabei, sich energisch Gehoer zu verschaffen, damit es
kuenftig eine demokratische Regierung geben wird.

Aber es gibt auch Rueckschlage: Die Machthaber des alten Systems und
die Anhaenger Ben Alis versuchen jetzt mit aller Gewalt, die Macht
wieder zu erlangen und das alte System wieder zu stabilisieren. Mit
diesem Ziel haben sie eine Uebergangsregierung eingerichtet, die die
alten Kraefte beruecksichtigt. Die Oppositionsparteien und die
fortschrittlichen Kraefte in der Bevoelkerung will man erneut
ignorieren und zur Seite schieben. Aber die tunesischen Buerger haben
(...) nicht nachgelassen und erneut mit Kundgebungen und
Demonstrationen in vielen Staedten Tunesiens manifestiert, dass sie
keine Wiederherstellung der Diktatur und keinen Polizeistaat - mit
welchen Mitteln auch immer! - dulden werden

Frage: Es hat nach offiziellen Zahlen bisher bereits 78 Tote gegeben -
oder waren es mehr?

Hammami: Das wissen wir auch nicht genau. Wir sehen jedoch, dass das
Regime diesen Aufstand jetzt immer noch mit brutalen Polizeieinsaetzen
niederzuschlagen versucht. Die Polizei hat Demonstranten getoetet, die
fuer die Menschenrechte eingestanden sind, sie versucht, diese
Revolution zu verhindern. Noch ist gar nichts entschieden - alles ist
offen. Jetzt ist der Diktator weg - die Diktatur aber ist noch nicht
gestuerzt.

Frage: Am 17. Dezember hat die Revolte begonnen. Was motiviert die
Leute, seit mehr als vier Wochen immer wieder auf die Strasse zu
gehen?

Hammami: Das dringlichste Anliegen ist, sicherzustellen, dass diese
von alten Kraeften durchsetzte Uebergangsregierung nicht
zustandekommt. Es scheint auch, dass das gelingen koennte. Zur Zeit
haben bereits zwei Oppositionsparteien ihre Minister wieder
zurueckgezogen und somit die Zusammenarbeit mit dem alten
Unterdrueckungsregime verweigert.

Frage: Hat die PCOT sich an dieser Uebergangsregierung nicht
beteiligen wollen? Oder durfte sie nicht?

Hammami: Wir als kommunistische Arbeiterpartei haben es von Anfang an
abgelehnt, uns ueberhaupt an einer Uebergangsregierung zu beteiligen,
in der Vertreter des alten diktatorischen Regimes sitzen - zudem auch
noch in Schluesselpositionen.

Frage: Was sind die Hintergruende fuer diesen Massenaufstand - was hat
die Tunesier nach der 23jaehrigen Herrschaft des Diktators derart
erbittert?

Hammami: Unter den Bedingungen der Weltwirtschaftskrise ist der
Zerfall des Landes durch die Diktatur immer offensichtlicher geworden.
Die Macht wurde immer repressiver ausgeuebt. Der brutale Charakter der
staatlichen Polizei trat zunehmend deutlicher zutage. Viele Betriebe
mussten schliessen, die Arbeitslosigkeit stieg an. Die Preise schossen
rasant in die Hoehe. Die oeffentlichen Dienstleistungen verschlechtern
sich immer mehr. Fuer normal Arbeitende und selbst die kleinen Beamten
und Kleinbauern ist es immer schwieriger geworden, ein halbwegs
normales Leben zu fuehren. Immer haeufiger sind sie gezwungen, sich
einen zweiten Job zu suchen. Armut und Verelendung sind immer
unuebersehbarer geworden. Zugleich musste die tunesische Bevoelkerung
mit anschauen, wie der Clan Ben Alis und seine Gefolgschaft im Luxus
schwelgten und immer reicher wurden. Jetzt richten sich die Proteste
vor allem gegen den maechtigen Parteiapparat.

Frage: Was sind die dringlichsten Forderungen der PCOT, um einen
Demokratisierungsprozess einzuleiten?

Hammami: Wir brauchen eine Uebergangsregierung, die Willens und in der
Lage ist, demokratische Wahlen einzuleiten und eine neue Verfassung zu
erarbeiten. Daran muessen alle massgeblichen gesellschaftlichen
Gruppierungen der tunesischen Bevoelkerung beteiligt werden: Die
Arbeiter, die Jugendlichen, die Frauen - Repraesentanten aller
unterschiedlichen Bevoelkerungsschichten sollten beteiligt sein, vor
allem auch die Mittelschicht. Die Bevoelkerung muss sich organisieren
und den Kampf gegen die noch nicht beseitigte Diktatur bis zum Schluss
tragen.

Frage: Was ist von den Komitees der Buerger auf den Strassen zu
halten, die sich jetzt gegruendet haben, um fuer Sicherheit zu sorgen?
Es gibt Berichte ueber Strassensperren aus Betonkloetzen,
Plastikstuehlen, Holzmoebeln, Blumentoepfen und Abfalleimern - von
Anwohnern errichtet.

Hammami: Das sind Demokraten, die einen Rueckfall in die Diktatur
verhindern wollen. Sie agieren in verschiedenen Regionen teils
spontan, teils organisiert - weil sie sich von Ben Alis Milizen
bedroht sehen. Die Gewerkschaft hat jedenfalls dazu aufgerufen, sich
kollektiv gegen mutwillige Zerstoerungen und Pluenderungen zu
schuetzen.

Frage: Wie ist es der Kommunistischen Partei gelungen, sich unter den
diktatorischen Verhaeltnissen zu behaupten - wie viele Mitglieder gibt
es eigentlich?

Hammami: Wir koennen nicht sagen, wie viele Mitglieder wir exakt
haben, weil wir sie aus Sicherheitsgruenden nicht registriert haben.
Denn unsere PCOT war ja eine verbotene Partei. Aber sie ist in der
Oeffentlichkeit sehr bekannt, weil wir immer gegen diese Diktatur
Stellung genommen haben. Wir sind sehr bekannt in der
Gewerkschaftsbewegung, in der Jugend- und der Frauenbewegung sowie bei
den Intellektuellen.

Frage: Sie wurden am 12. Januar in Ihrer Wohnung von mehreren Beamten
des Sicherheitsdienstes des tunesischen Praesidenten Ben Ali
festgenommen. Gab es Repressionen?

Hammami: Ja, es war eine sehr gewalttaetige Aktion, sie haben unsere
Tuer eingetreten. Andere Leute, die bei mir zu Besuch waren, wurden
terrorisiert - sogar meine halbwuechsige Tochter. Mit mir zusammen
wurde eine Genossin festgenommen. Sie haben mich mit Handschellen
abgefuehrt und so im Gefaengnis festgehalten. Der Grund war wohl, dass
unsere Partei kurz zuvor als einzige sehr deutlich den Ruecktritt des
Diktators gefordert hat. Am 14. Januar wurde ich freigelassen, nachdem
Praesident Ben Ali sich in sein Flugzeug gesetzt hatte und nach
Saudi-Arabien geflohen war. Vermutlich habe ich das aber auch dem
Druck der oeffentlichen Proteste zu verdanken.

Frage: Wie sieht es denn mit der politischen Haltung der tunesischen
Bevoelkerung aus? Ist zu erwarten, dass sie moeglicherweise auch fuer
eine islamische Regierung votieren koennte, oder ist sie eher offen
fuer die linken Parteien?

Hammami: Diese Revolution hat meiner Auffassung nach einen
demokratischen Charakter und ueberhaupt keine religioesen Tendenzen.

Frage: Halten Sie jetzt, nach Ihrer Freilassung aus der Haft, Reden
bei Kundgebungen?

Hammami: Ja, wir nehmen auf der Strasse bei Demonstrationen den
Kontakt zur Bevoelkerung auf, aber auch ueber das Radio und das
Fernsehen - all das ist jetzt ploetzlich wieder moeglich. In den
Zeiten der Diktatur gab es keine Pressefreiheit, und keine
Oppositionspartei wurde im Fernsehen geduldet. Man kann sagen: Die
Meinungsfreiheit wurde systematisch missachtet. Die Massenmedien
wurden stark kontrolliert, Journalisten durch Androhung von
Berufsverboten zum Schweigen gebracht. Oder sie wurden
eingeschuechtert und verfolgt.

Frage: Gibt es in Tunesien keinen Antikommunismus?

Hammami: Doch, es gibt schon Antikommunismus in Tunesien - aber nicht
in dem grotesken Ausmass wie bei Ihnen in Deutschland. Unsere Partei,
die Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens, kommt zudem bei der
Bevoelkerung gut an, weil bekannt ist, dass wir viel fuer die
Befreiung von der Diktatur und fuer die Demokratie getan haben.

Frage: Wie haben sich eigentlich die Regierungen der anderen Laender
in der Vergangenheit gegenueber der tunesischen Diktatur verhalten? In
Presseberichten wird immer wieder moniert, dass sie beide Augen
zugedrueckt haben ...

Hammami: Ben Ali hatte waehrend der ganzen Zeit seiner Herrschaft die
Unterstuetzung der USA und Europas - vor allem aber Italiens und
Frankreichs. Wir haben nicht vergessen, dass Ben Ali und seine Bande
in all den Jahren seiner Regierungszeit den Schutz und die
Unterstuetzung westlicher Regierungen geniessen konnte. Die
auslaendischen Unternehmen haben tunesischen Arbeitskraeften die
Wahrnehmung aller Grundrechte versagt. Sie verlangten ein
diktatorisches Regime, damit sie aufgrund dieser Ordnung die voellige
Ausbeutung der tunesischen Arbeitskraefte aufrechterhalten konnten.
Der franzoesische Praesident Nicolas Sarkozy hat all dies mit Ben Ali
gemeinsam als »Demokratie« gefeiert.

Berlusconi hat Ben Ali als seinen Freund willkommen geheissen.
Frankreichs Aussenministerin Michèle Alliot-Marie hatte noch vor
wenigen Tagen Ben Ali ihre Unterstuetzung angeboten. Sie wollte
franzoesische Spezialeinheiten schicken, um »diese Art von
Sicherheitslage zu regeln«. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits
Dutzende Todesopfer unter den Demonstranten.

Frage: Gab es internationale Solidaritaet?

Hammami: Vor allem in den anderen arabischen Laendern - Algerien,
Marokko, Aegypten, Palaestina - haben uns die kommunistischen Kraefte
geholfen. Wir hoeren jetzt, dass dort die Regierungen sehr aufmerksam
auf Tunesien schauen. Sie fuerchten nichts mehr, als dass ihre
Bevoelkerungen sich genauso verhalten koennten wie das tunesische
Volk. Wenn wir mit unserer Revolution Erfolg haben, wird das mit
Sicherheit auf andere Staaten Einfluss haben, die diktatorisch
gefuehrt sind.
(junge welt, 22.1.2011/gek.)

Quelle: http://www.jungewelt.de/2011/01-22/001.php



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