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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 21. Dezember 2010; 21:45
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Geschichte:
> Wer war Karl Motesiczky?
Im 2. Heft der von Wilhelm Reich (unter dem Pseudonym Ernst Parell) in 
Kopenhagen herausgegebenen Zeitschrift fuer Politische Psychologie und 
Sexualoekonomie (ZPPS) erschien ein Mitte April 1934 geschriebener 
"Diskussions-Artikel eines jungen Genossen" mit dem Titel "Zur Kritik 
der kommunistischen Politik in Deutschland (mit besonderer 
Beruecksichtigung des 13ten Ekkiplenums)". Aufgabe dieses Plenums der 
Kommunistischen Internationale war es, die KPD-Politik, deren Resultat 
der Sieg Hitlers und das Verbot der Partei waren, als "vollstaendig 
richtig" zu sanktionieren.
Der knapp dreissigjaehrige Genosse aus der Sexpol-Bewegung schloss 
sich im wesentlichen der Kritik Trotzkis an der Resolution der 
Komintern-Exekutive an, die Anfang Februar 1934 in der Wochenzeitung 
der deutschen Trotzkisten (IKD), Unser Wort, veroeffentlicht worden 
war, und ergaenzte sie - im Anschluss an Wilhelm Reich - durch eine 
sozialpsychologische Deutung der Mentalitaet der Mitglieder von SPD 
und KPD einerseits, der NS-Gefolgschaft andererseits. "Wir sind", 
schrieb Teschitz, "mit einer grossen Zahl kritischer Marxisten einig 
darin, dass die KPD und die KI in den letzten Jahren schwere Fehler 
begangen hat [...]." Warum aber, fragte er weiter, jagten "die 
kommunistischen Arbeiter" den buerokratischen Parteiapparat "nicht - 
von Trotzki eines Besseren belehrt - zum Teufel?" Seine Antwort: Die 
kapitalistische Unterdrueckung "erzeugt nicht nur Empoerung, sondern 
auch Angst und Verzweiflung." Viele Mitglieder hielten deshalb ihre 
Organisation fuer eine grosse Familie, entwickelten eine "dumpfe 
'Heimatbindung' an die Partei" und sahen in der innerparteilichen 
Kritik "eine Art Verrat".
Der Verfasser dieser Kritik war - wie wir aufgrund der Recherchen 
seiner Biographin, Christiane Rothlaender, wissen1 - Karl Motesiczky, 
der 1918 seinen Grafentitel abgelegt hatte und 1933 Wilhelm Reich in 
die Emigration nach Skandinavien gefolgt war, in dessen Zeitschrift er 
unter verschiedenen Pseudonymen, zumeist unter "Teschitz", schrieb. 
Die 1934 bis 1938 in Kopenhagen und Oslo veroeffentlichte ZPPS stellte 
sich die Aufgabe, "die Forschungsmethode des dialektischen 
Materialismus (Marxismus) auf den Gebieten der politischen Psychologie 
und der Sexualpolitik auf Grund der Theorie der Sexualoekonomie von 
Wilhelm Reich konsequent anzuwenden." Teschitz' besonderes Interesse 
galt der Religionspsychologie. 1935 veroeffentlichte er im 
Sexpol-Verlag eine Broschuere zum Thema Religion, Kirche und 
Religionsstreit in Deutschland - eine "erste Gesamtdarstellung der 
religioesen Umwaelzung in Deutschland vom marxistischen Standpunkt." 
Die Bindung der Frommen an ihre Kirche(n) resultiere aus deren 
permanentem Schuldgefuehl wegen ihrer sexuellen Begierden und aus der 
Hoffnung auf eine (himmlische) Erloesung. Der Nationalsozialismus sei 
fuer seine Anhaenger hingegen wegen seiner Frontstellung gegen Ehe, 
Familie und Kirche attraktiv, weil diese Politik eine Lockerung der 
herrschenden repressiven Sexualmoral verspreche.
Im Folgeheft der Zeitschrift schrieb "Teschitz" in einem "Nachtrag" zu 
seiner Kritik, er sehe sich durch die neue Einheitsfront-Politik der 
KPD bestaetigt und setze - im Unterschied zu den Trotzkisten - auf 
eine gruendliche Reform der KPD (und anderer kommunistischer Parteien) 
durch "Selbstkritik" und innerparteiliche Demokratie. Wieder zwei 
Jahre spaeter jedoch war dann auch er davon ueberzeugt, dass fuer die 
Sexpol kein Platz mehr innerhalb der (inzwischen auf die 
"Volksfront"-Politik umgeschwenkten) Kominternorganisationen sei. In 
seinem Artikel "Aus der internationalen Sexpol-Diskussion" hiess es: 
"Die sozialdemokratische Presse - mit Ausnahme der Freidenker - 
schweigt uns tot, die Kominternpresse hat uns ein fuer allemal unter 
die Konterrevolutionaere eingereiht." Eigentlich zeigten nur die 
Anarchisten Sympathie fuer das von der Reich-Gruppe formulierte 
Programm. Teschitz' Ortsbestimmung der "Sexpol" - und sein Schlusswort 
als politischer Autor - lautete: Die Sexpol "traegt wesentlichen 
anarchistischen Forderungen Rechnung, ohne die durch Erfahrung 
erprobten marxistischen Auffassungen ueber Wirtschaftsstruktur oder 
die Rolle der Partei aufzugeben. Damit ist sie [...] die Einheit von 
Marxismus und Anarchismus auf marxistischer Grundlage."
Christiane Rothlaender hat fuer ihre 2004 abgeschlossene Dissertation, 
deren ueberarbeitete Version jetzt als Buch vorliegt, alle 
erreichbaren Informationen ueber Karl Motesiczky gesammelt, um die 
verschiedenen Etappen seines kurzen Lebens zu rekonstruieren und 
diesem verborgenen Gerechten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ihre 
ueberaus sorgfaeltig recherchierte Biographie liefert zugleich einen 
wichtigen Beitrag zu der noch ungeschriebenen Geschichte der 
Sexpol-Bewegung.
Motesiczky wuchs im Milieu der Wiener Finanz-, Kunst- und 
Wissenschaftsaristokratie auf. Ererbte Riesenvermoegen gaben den 
Angehoerigen dieser Oberschicht ein Gefuehl von Sicherheit und 
Freiheit, wie es die grosse Mehrheit ihrer Zeitgenossen niemals 
kennenlernte. Nicht wenige von ihnen waren nicht nur Freigeister, dem 
guten Leben und den schoenen Kuensten zugetan, sondern auf der Suche 
nach einem Engagement, sei es einem philanthropischen, sei es einem 
politischen. So wurde aus dem vertraeumten Cellisten Motesiczky ein 
Anarchokommunist, Widerstaendler und Menschenretter. Sein dauerhaftes 
Interesse galt der Musik, dem Sozialismus und der Psychoanalyse. Schon 
sein Vater, der 1909 frueh verstorbene ungarisch-tschechische Graf 
Edmund von Motesiczky, war ein ausgezeichneter Cellist, der mit Brahms 
musizierte, und auch der Sohn widmete sich hingebungsvoll dem 
Cellospiel. Wie die Musik, war ihm auch die Psychoanalyse in die Wiege 
gelegt. Seine Grossmutter, Anna von Lieben, geborene von Todesco, 
gilt - neben Joseph Breuers Patientin Berta von Pappenheim ("Frl. Anna 
O...") - als die eigentliche "Erfinderin" der Psychoanalyse.
Nach rat- und rastlosen Studentenjahren an deutschen Universitaeten 
traf Motesiczky 1931 in Berlin auf Wilhelm Reich, beteiligte sich an 
dessen sexualpolitischer Arbeit in der KPD-Jugend, begann eine Analyse 
bei ihm und folgte ihm 1933 auf seiner Flucht ueber Wien nach 
Skandinavien. Als Reich sich (1937) enttaeuscht von der 
"verbuergerlichten" Psychoanalyse und von der (kommunistischen) 
Politik abwandte, um sich der Erforschung der (von ihm entdeckten) 
biologischen "Orgon"-Energie zu widmen, ging Motesiczky zurueck nach 
Oesterreich, das kurze Zeit spaeter von den Nazis eingemeindet wurde. 
Gemaess den faschistischen Rassengesetzen galt er als "Halbjude" (oder 
"Mischling I. Grades"). Es gelang ihm zunaechst, den Familienlandsitz 
in der Hinterbruehl vor der Arisierung zu retten. Dann nahm er sein 
Medizinstudium wieder auf und setzte seine Lehranalyse bei dem 
Freudianer August Aichhorn fort. Seinem Motto "Wer wird Widerstand 
leisten, wenn alle gehen..." getreu, stellte er sein Gut Verfolgten, 
Untergetauchten und Oppositionellen als ein Refugium zur Verfuegung. 
Mit einem Kreis guter Freunde bildete er eine Widerstandsgruppe, die 
versuchte, von Deportation und Vernichtung bedrohte Juden aus 
Oesterreich und Polen nach Ungarn und in die Schweiz zu schleusen. 
Nach einer Denunziation wurden mehrere Angehoerige der Gruppe im 
Herbst 1942 verhaftet, zunaechst im Wiener Gestapo-Hauptquartier am 
Morzin-Platz gefangengehalten und dann im Februar 1943 wegen 
"Judenbeguenstigung" nach Auschwitz deportiert. Motesiczky starb dort 
am 25. 6. 1943 in einem Haeftlingskrankenbau an Flecktyphus; seine 
("arische") Leidensgefaehrtin Ella Lingens ueberlebte als 
Lageraerztin.
Jahrzehnte spaeter wurden Motesiczky und Lingens als "Gerechte unter 
den Voelkern" anerkannt. Auf dem Gelaende des Landguts der Familien 
Todesco und Motesiczky wurde zehn Jahre nach dem Krieg ein 
SOS-Kinderdorf fuer Kriegswaisen errichtet. Ein kleiner Gedenkstein, 
den seine Mutter und seine Schwester 1961 fuer Karl Motesiczky 
errichten liessen, traegt die Inschrift: "Fuer die selbstlose Hilfe, 
die er schuldlos Verfolgten gewaehrte, erlitt er den Tod." Bald zeigte 
sich, dass selbst diese vorsichtige Umschreibung den Erben der Nazis 
in der Hinterbruehl (wo es in den letzten Kriegsjahren auch ein 
Aussenlager des Konzentrationslagers Mauthausen gab) unertraeglich 
war. Im Jahr 2000 wurde die Gedenktafel demoliert und beschmiert. Sie 
wurde inzwischen wiederhergestellt, doch harrt die duestere 
Vergangenheit der idyllischen Hinterbruehl noch der "Aufarbeitung" und 
Dokumentation. Christiane Rothlaender hat mit ihrer 
Motesiczky-Biographie einen Anfang dazu gemacht.
*Helmut Dahmer*
(1) Rothlaender, Christiane (2010): Karl Motesiczky, 1904-1943. Eine 
biographische Rekonstruktion. Wien (Turia + Kant). 380 Seiten, 32,- 
Euro.
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