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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 15. Dezember 2010; 02:42
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Debatten:

> PISA ist sexy

Von einaeugigen Koenigen, schlechten Schifahrern und der
Lesefaehigkeit von Meinungsmachern

Was sagt die PISA-Studie aus? Zu allererst einmal ist es eines dieser
in den letzten Jahren so beliebt gewordenen Rankings -- nicht die
Qualitaet ist gefragt, sondern wer der der Beste nach irgendwelchen
originellen Kriterien ist. Nun, der Einaeugige ist unter den Blinden
Koenig; oder anders formuliert: Ich mit meinen 6 Dioptrien sehe viel
besser als ein Blinder -- trotzdem bin ich schasaugert. Und nochmal
anders: Bei einem Weltcupschirennen ist irgendwer Erster und irgendwer
Letzter -- aber man kann wirklich nicht behaupten, dass der Letzte
schlecht schifahren kann. Sicher, auch hier handelt es sich um
Vergleiche mit einem durchschnittlichen Standard. Denn im Vergleich zu
mir ist schnell jemand ein guter Schifahrer. Aber genau hier liegt das
Problem: Da wir uns schwer tun, ein Ideal ohne Bezugspunkte zu
definieren, greifen wir zur einfachen Methode des Rankings; was
uebrigens wunderbar in die Vorstellung der Wettbewerbsgesellschaft,
sprich dem Kapitalismus, passt. Nur die absolute Aussagekraft ist halt
trotzdem eher mau.

Am meisten Trara gab es in Oesterreich um die Ergebnisse der
Lesetests. Das bildungsbuergerliche Ideal der Wissens- und
Erfahrungsaufnahme durch das Lesen... nein, ueberholt ist es nicht,
aber diese Wissensaufnahme erfolgt heute auch wieder staerker ueber
orale oder generell audielle und natuerlich auch rein bildliche
kommunikation.

Viele fruehere Hochkulturen wie etwa die Germanen hatten gar keine
Schrift -- ihre Kultur war lange Zeit rein oral und illiterarisch
bildhaft. Deswegen wissen wir auch wenig ueber sie, da sie keine
schriftlichen Selbstzeugnisse hinterliessen. Die Historiker aus
anderen, schriftgewandten Kulturen haben allerdings zwar oft
Abfaelliges ueber sie berichtet, jedoch kaum, dass sie kulturell nicht
hochstehend gewesen waeren.

Aber jetzt kommt die Pointe: Die moderne Jugend besteht hauptsaechlich
aus Menschen, die mit dem Internet gross geworden sind. Und neben den
Multimedia-Inhalten ist der Grossteil der Information im Netz immer
noch rein schriftlich. Sprich: Wer Netzkompetenz erreichen will, muss
zuallererst einmal lesen koennen -- egal wie "dumm" oder "klug" die
betrachteten Inhalte sein moegen, ohne Lesefaehigkeit und vor allem
verstaendige Lesefaehigkeit kommt man im Netz nicht weit. Dank Web 2.0
kommen die Jugendlichen noch dazu auch viel mehr selbst zum Schreiben.
Haben Jugendliche frueher soviel ausserhalb der Schule geschrieben?
Wer sich aber in die Welt schreibt und damit das Alphabet selbst aktiv
nutzt, der kann doch nicht so ein schlechter Leser sein, wissen wir
doch generell vom Spracherwerb, dass vor allem das Sprechen das
Verstehen foerdert -- sollte es beim Lesen und Schreiben anders sein?

Absolut gesehen muss also die Behauptung, Oesterreichs Jugendliche
koennten nicht lesen, Unfug sein -- verbreitet wird sie wohl nur so
gerne, weil man damit Auflage machen kann (die Zeitung Oesterreich
titelte: "PISA-Alarm") oder politische Veraenderung anstossen moechte
(SPOe: "Gesamtschule!", OeVP: "Differenzierung!").

Wieso gibt es aber diese gravierenden Unterschiede zwischen den
Laendern? Nun, dass mancherorts schlechtere Ergebnisse erzielt worden
sind als anderswo, kann zwei Gruende haben: Die Schueler in den
schlecht abgeschnitten habenden Laendern koennen weniger oder sie
wollen weniger. Angenommen wird immer, sie koennten es nicht besser.
Aber warum sollten sie wollen? Sie werden staendig dazu gedrillt,
irgendwelche Aufgaben zu erfuellen, denn wenn sie sie nicht erfuellen,
bekommen sie eine schlechte Note und koennen spaeter nicht
Generaldirektor, Universitaetsprofessor oder Bundespraesident werden,
sondern muessen zum Senkgrubenraeumer in die Lehre -- das war bei mir
zu Hause immer die Drohung, wenn mein schulischer Fortschritt wieder
einmal in den Bereich Gerade-noch-ein-Vierer abzurutschen drohte. Und
jetzt kommt da ein Test, fuer den es keine Note gibt. Die Einzigen,
die damit benotet werden, sind die Lehrer und das Bildungssystem --
ehrlich, waere ich als Fuenfzehnjaeriger vor so einer Arbeit gesessen,
ich haette mich nicht im Geringsten angestrengt oder sogar absichtlich
Bloedsinn hingeschrieben, wenn ich damit meinen Lehrern eines
auswischen haette koennen.

So gesehen, sagt das sehr wohl etwas ueber unser Bildungssystem: In
Finnland geht es -- so wird berichtet -- darum, auch die Schwaecheren
zu foerdern und nicht wie bei uns zu selektieren. Und die Schueler
haetten nach dieser Lesart die Lehrer belohnt, weil diese es
vielleicht eben nicht als ihre Aufgabe ansehen, ihre Kids
fertigzumachen, sondern sie zur Wissensaufnahme zu animieren.

Andersrum: Warum ist Suedkorea so gut in diesem Ranking? Meine Lesart:
weil in Suedkorea ein derartiger Dauerdruck auf den Schuelern besteht
und weil sie dazu gedrillt werden, jede Aufgabe, egal ob es eine Note
dafuer gibt oder nicht, mit Bravour zu meistern.

Ich habe keine Ahnung, ob meine Lesart die richtige ist, aber es ist
eine moegliche, die kommt aber in der offiziellen Lesart nicht vor.
Denn anstatt von den Finnen zu lernen, dass Kinder und Jugendliche zu
foerdern sind, versucht man hoechstens, ohne jegliches Verstaendnis,
das finnische Schulmodelle als kopierenswert zu betrachten -- und
ansonsten haelt man sich (uneingestandermassen) eher an das
suedkoreanische Modell: Mehr Druck! Schliesslich haben wir es ja unter
anderem frueheren PISA-Studien zu verdanken, dass es jetzt ein
verpflichtendes Vorschuljahr gibt und allgemein davon geredet wird,
dass der Unterricht bereits im Kindergarten passieren muss.

Kinder werden aber nicht nur von der Schule gepraegt, sondern auch von
ihrem sonstigen sozialen Umfeld -- aber die PISA-Ergebnisse finden
meist nur Anwendung auf die Schuldebatte.

Auch die Frage der Wissens- und Lernaffinitaet des gesamten Umfelds
sowie die sozialen Grundlagen, sich ueberhaupt Wissen aneignen zu
koennen, waere da schon noch zu stellen. Wenns gut geht, werden diese
Faktoren als Bereiche abgetan, auf die man keinen Einfluss habe,
ansonsten aber als voellig irrelevant ausgeblendet.

Was natuerlich bei PISA auch noch fehlt, ist die
Einschaetzungsmoeglichkeit des sozialen Verhaltens der Kids. Auch
dieses wird durch die Schule beeinflusst. Damit ist diese Studie aber
auch im kapitalistischen System voellig unbrauchbar, denn gerade diese
sonst so hochgelobten Soft-Skills sind in der Wettbewerbsfaehigkeit
(genauso wie in der Hoffnung auf eine bessere Welt, die der Nachwuchs
ja schaffen soll) relevant. Schule soll doch aus Kindern angeblich
nicht nur gebildete, sondern auch starke, einfuehlsame, weltkluge
Menschen machen. Nur: Sowas kann man nicht abpruefen.

Die PISA-Studie sagt also genau gar nichts aus ueber unser primaeres
Bildungssystem. Doch ist sie natuerlich nicht voellig unnuetz, denn
sie scheint den Schulpolitiker als ihre neue Bibel nuetze zu sein. Mit
der Bibel ist es ja genauso: Man kann mit dem richtigen Zitat und der
richtigen Interpretation alles beweisen, auch das jeweilige Gegenteil.
Auch ich habe diese Studienergebnisse so gelesen, um zu belegen, was
ich sowieso vorher schon fuer richtig gehalten habe.

Vielleicht ist die PISA-Studie ja in Wirklichkeit gar kein
Testergebnis, sondern dient lediglich als Test selbst, die kritische
Studien-Lesefaehigkeit der Meinungsmacher zu ueberpruefen. Denn
speziell Rankings, aber Studien generell sind einfach so sexy. Man
kann damit alles behaupten und so tun, als koennte man die Richtigkeit
seiner Postulate dann wissenschaftlich beweisen. PISA ist genauso
serioes wie Waehlerstromanalysen oder Studien ueber die
Passivrauchertoten es sind -- die Zahlen halten selten einer
kritischen Pruefung stand, aber die Magie der Zahl, noch dazu der
genauen Zahl mit ganz viel Nachkommastellen, ueberstrahlt jede Kritik.

Vielleicht sollten die Entscheidungstraeger weniger Studien
hinterherennen. Speziell im Schulbereich sind wir doch alle Experten,
wir muessen uns nur an unsere eigene Schulzeit erinnern und vor allem
mehr philosophieren -- am besten mit den jetzigen Schulunterworfenen
selber, den Kids naemlich. Ja, dann koennten diese
Entscheidungstraeger ihre Ueberlegungen natuerlich nicht mehr
"wissenschaftlich untermauern". Aber vielleicht waeren sie dann ein
wenig schlauer...
*Bernhard Redl*


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