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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 30. November 2010; 22:40
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Brasilien:

> Die Maer vom Kampf gut gegen boese

Rio de Janeiro im Ausnahmezustand

In Rio de Janeiro herrscht Ausnahmezustand. Nachdem mutmassliche
Mitglieder von Drogenbanden zu Wochenbeginn Busse und Autos im
gesamten Stadtgebiet anzuendeten, reagierte die Polizei mit einer
Grossoffensive. Am 25. November stuermte sie mit Hilfe von Panzern die
Favela Vila Cruzeiro.

Die Favela ist eine angeblich uneinnehmbare Festung der
Drogenhaendler. Fernsehbilder zeigten, wie ueber Hundert mit Gewehren
bewaffnete Maenner ueber einen unbewohnten Huegel in das benachbarte
Favelagebiet Complexo do Alemao fluechteten. Das gesamte Gebiet, in
dem mehrere Hunderttausend Menschen wohnen, ist umstellt, eine weitere
Eskalation steht unmittelbar bevor.

Viele Menschen folgen der Bitte der Behoerden und gehen kaum noch aus
dem Haus. Abends sind sonst ueberfuellte Bars und Restaurants
insbesondere in dem nahegelegenen Mittelschichtsviertel im Norden der
Stadt wie ausgestorben. Praesident Inácio Lula da Silva bewilligte die
Entsendung von 800 Soldaten und schwerem Geraet, um die der Gouverneur
von Rio de Janeiro, Sergio Cabral gebeten hatte. Er kuendigte an, "das
Territorium des Drogenhandels" werde der organisierten Kriminalitaet
entrissen. "Wir werden die Armenviertel befrieden," so Cabral.

Der Kampf gut gegen boese findet auch in den Medien statt. Seit Wochen
schueren sie ein Klima der Angst in der Stadt, mit ausfuehrlichen
Berichten ueber Anschlaege und Ueberfaelle, deren Urheberschaft
zumeist ungeklaert blieb. Jetzt ist die Rede von applaudierenden
Menschen am Strassenrand, stellvertretend fordern einige Interviewte,
die Polizei solle "draufschlagen" und der Sache endlich ein Ende
bereiten. Befragte Soziologen duerfen die Situation in Rio de Janeiro
mit Irak und Afghanistan vergleichen, fuer die groesste Tageszeitung
"O Globo" handelt es sich um "unseren D-Day", um die "entscheidende
Schlacht" gegen die Drogenhaendler. Wessen Geistes Kind diese Hetze
ist, zeigte am Freitag das Titelblatt der Zeitung "Meia Hora": Die
Menschen aus den Armenvierteln auf der Flucht vor der Polizei wurden
als Kakerlaken dargestellt. Auch im Rest der Ausgabe wimmelte es von
Kakerlaken.

Fraglos sind die Drogenbanden, die seit Jahren einen grossen Teil der
Favelas von Rio de Janeiro kontrollieren und mit Gewalt, Willkuer und
Lynchjustiz vorgehen, ein gravierendes Problem. In Fraktionen
gespalten, liefern sie sich immer wieder regelrechte Kriege um das
jeweilige Territorium und machen ein gutes Geschaeft mit dem Verkauf
von harten und weichen Drogen. Auch wenn sie teilweise in eigene
soziale Projekte investieren und von einigen gern als Gegenpol der
armen und ausgeschlossenen Bevoelkerung gegen rassistische
Polizeigewalt gesehen werden, handelt es sich doch um machistische,
gewalttaetige Gruppen, die das Fehlen staatlicher Praesenz -- sowohl
in Form von Ordnungskraeften wie in Form sozialer oder urbaner
Infrastruktur -- nutzen, um in der jeweiligen Region ein eigenes
Regime zu etablieren und jegliche Form sozialer Organisierung zu
unterbinden.

Die liebe Polizei

Doch genau die Polizei, die jetzt so oeffentlichkeitswirksam das
Verbrechen bekaempft, und teilweise auch der Staatsapparat ebenso wie
korrupte PolitikerInnen sind alles andere als unschuldig an der
Situation. Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele Einheiten
insbesondere der im Stadtgebiet omnipraesenten Militaerpolizei mit dem
Drogenhandel unter einer Decke stecken. Sie erlauben den Drogenverkauf
und streichen den Hauptteil der Einnahmen ein. Wenn dann mal wieder
eine Favela gestuermt und mehrere "Banditen" oder als solche
bezeichnete Zivilisten "in Notwehr" erschossen wurden, ist die Ursache
oft der Versuch, einer anderen, zahlungswilligeren Fraktion das Feld
zu ueberlassen. Die Polizei ist es auch, die oftmals fuer den
Waffenhandel verantwortlich ist, durch den der Konflikt derart
eskalieren konnte. Zumal - je bewaffneter der Feind, desto wichtiger
ist es, dass weitere Gelder in die Polizei investiert werden.

Woher kommen die Waffen?

"Waffen werden nicht in Favelas hergestellt, sie kommen irgendwo her.
Wann ist die Polizei mal gegen den Waffenhandel vorgegangen, wann gab
es mal eine Razzia im Hafen," fragte der Landtagsabgeordnete Marcelo
Freixo in einem Interview. Freixo wurde bekannt als Initiator einer
Untersuchungskommission zu Milizen, die den Drogenbanden die Macht in
den Favelas streiten machen und ihrerseits mafiaaehnliche Regime
einfuehren. Seitdem sind viele PolitikerInnen und Polizeibeamte
angeklagt oder verurteilt worden, er selbst kann wegen Todesdrohungen
nicht mehr ohne Leibwaechter auf die Strasse gehen. "In den Favelas
machen bewaffnete Menschen nicht ein Prozent der Bevoelkerung aus. Ich
wuenschte, im Parlament haetten weniger als ein Prozent Verbindung mit
Verbrechen," erklaerte der Menschenrechtsaktivist Marcelo Freixo.

Vor gut einem Jahr begann die Regierung Cabral damit, einige Favelas
in den besseren Vierteln zu besetzen und sogenannte Befriedende
Polizeieinheiten (UPP - Unidade de Polícia Pacificadora )
einzurichten. Nicht der erste Versuch dieser Art, doch bislang recht
erfolgreich. Trotz Klagen, dass die Polizisten nach wie vor respektlos
oder gewaltsam mit den BewohnerInnen umgehen und dass der Staat nur
mittels Ordnungskraeften, nicht aber mit sozialen Einrichtungen
Praesenz zeigt, ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der
Bevoelkerung das Ende der Bandenregime eindeutig begruesst. Die Frage,
warum ploetzlich Stadtteile erobert werden konnten, die jahrzehntelang
den bewaffneten Banden nicht zu entreissen waren, laesst sich nur mit
der neuen Konjunktur erklaeren: Vorher war es ein gutes Geschaeft, den
schlecht bezahlten Polizisten das Kungeln mit dem organisierten
Verbrechen zu gestatten. Doch jetzt steht die Fussball-WM 2014 und die
Olympiade 2016 ins Haus.

Wo ein politischer Wille ist, wird ploetzlich deutlich, dass die
Drogenhaendler doch nicht so allmaechtig sind, wie die Medien gerne
suggerieren. Marcelo Freixo interpretiert die Initiative der
Befriedung in diesem Kontext: "Die UPPs sind ein Projekt zur
militaerischen Rueckeroberung einiger Gebiete, die fuer die Stadt von
zentralen Bedeutung sind." Es gehe nicht darum, den Drogenhandel zu
beenden, "es geht um die militaerische Kontrolle von Vierteln, die
wichtig fuer die Olympische Stadt sind," so der Abgeordnete Freixo.

Mafioese Milizen statt Drogenbanden

Es ist auch anzuzweifeln, dass der Sturm auf die Favelas Vila Cruzeiro
und Complexo do Alemao zur Einfuehrung rechtsstaatlicher Zustaende
fuehren wird. Offenbar ist es einfacher und effektiver, die Kontrolle
dieser Gebiete den Milizen zu ueberlassen. Sie entstanden in Rio de
Janeiro vor einigen Jahren im Vorfeld der Panamerikanischen Spiele,
Menschenrechtlern zufolge auf Initiative des damaligen Buergermeisters
Cesar Maia. Diese paramilitaerischen Gruppen, die zumeist aus
ehemaligen und aktiven Polizisten und Feuerwehrleuten bestehen,
erobern einen von Drogenbanden kontrollierten Stadtteil und fuehren
ein Mafiasystem ein, dass seine Einnahmen vor allem aus dem
oeffentlichen Transport, Kabelfernsehen, Gasverkauf und
Schutzgelderpressung gewinnt. "Die Zahl der von Milizen kontrollierten
Territorien ist heute bereits groesser als die der von Drogenhaendlern
dominierten," erklaerte der Abgeordnete Freixo und kritisiert, dass
die Regierung Cabral viel Brimborium um die Drogenbanden macht, sich
aber nicht dem Milizproblem zuwendet: "Mich wundert das Schweigen
dieser Regierung in Bezug auf die Milizen, obwohl behauptet wird, dass
Rio befriedet wird."

Jenseits der Frage, was genau mit dieser Grossoffensive bezweckt wird,
und dem Missstand, dass die Polizei als integraler Bestandteil des
hiesigen Drogenproblems mal wieder als Loesung dargestellt wird, steht
die Sorge der Bevoelkerung in den umkaempften Gebieten im Vordergrund.
Es wurde von 45 Toten berichtet -- fast allesamt durch Polizeikugeln,.
Es gab bereits sehr viele Tote (45, darunter eine 14-jaehrige
Schuelerin), Verletzte und Festnahmen, und die Erfahrung zeigt, dass
es sich dabei oft um Unbeteiligte handelt. Die
Menschenrechtsorganisation "Netzwerk gegen Gewalt" berichtete am
Samstag zudem von Uebergriffen und Pluenderungen seitens der Beamten
in der eroberten Favela Vila Cruzeiro.

Amnesty International forderte Regierung und Einsatzleitung in einer
offiziellen Erklaerung am Freitag auf, massvoll und rechtsstaatlich
bei der Verbrechensbekaempfung vorzugehen. Die
Menschenrechtsorganisation erinnerte daran, dass die Polizei von Rio
de Janeiro im Verlauf dieses Jahres bereits "ueber 500 Menschen in
sogenannten Notwehrsituationen erschossen" hat. Auch die Uno hatte der
Polizei von Rio vergangenen Jahr bescheinigt, sie handle eher wie ein
Kriegspartei und verletze bei ihrem Vorgehen in den Armenvierteln die
Menschenrechte systematisch.
(Andreas Behn fuer npl/poonal)

Quelle:
http://www.npla.de/de/poonal/3106-rio-de-janeiro-im-ausnahmezustand



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