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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 2. November 2010; 22:41
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Kultur:
> Polyphone Entehrung des Nationalfeiertags
Robert Sommer hat fuer ein Konzert des Chores "Gegenstimmen" am 
26.Oktober eine Rede geschrieben. Wir geben sie hier gekuerzt wieder:
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Der Veranstalter des heutigen kulturellen Grossereignisses, die 
Seilschaft der funktionierenden Magistratsabteilungen der 
Augartenstadt, legt Wert auf zwei Feststellungen:
Erstens: Der Begriff Polyphonie hat auch eine politische Bedeutung. 
Gemeint ist der Anspruch der Selbstverwaltung der Augartenstadt, fuer 
jene Form von Mehrstimmigkeit zu stehen, bei der jede Stimme den 
Stellenwert einer Hauptstimme hat, also eigenstaendig ist. Eine so 
verstandene Polyphonie, musikalisch adaequat umgesetzt durch den Chor 
"Gegenstimmen", hat obersten Verfassungsrang.
Zweitens. Sie hoeren KEIN Konzert der "Gegenstimmen" ZUM 
Nationalfeiertag. Sie hoeren das Gegenteil: ein Konzert zur Feier der 
Abschaffung des Nationalfeiertags.
In allen raeumlichen und zeitlichen Erstreckungen der freien Republik 
Augartenstadt ist, per Dekret des Stadtrates fuer intergalaktische 
Angelegenheiten, der 26. Oktober zu einem gewoehnlichen Werktag 
erklaert worden. Die offiziellen Feiertage der Augartenstadt sind der 
Internationale Frauentag am 8. Maerz, der Bloomsday am 16. Juni, jeder 
Freitag der Dreizehnte, der Geburtstag von Jura Soyfer am 8. Dezember 
und schliesslich eine noch zu terminisierende Lange Nacht der offenen 
Vergangenheit, in der Maennern, bis vier Uhr frueh, die Rueckkehr zu 
patriarchalen Manieren und Verhaltensmustern erlaubt wird.
Die Regierung der Augartenstadt wendet sich an alle 
Territorialverwaltungen, die ein "nationales" Selbstverstaendnis 
haben, mit der dringenden Aufforderung: Schafft eure Nationalfeiertage 
ab, schafft vor allem eure Hymnen ab, mit denen ihr euch ueberheblich 
von den Nachbargesellschaften abhebt. Diese Aufforderung richtet die 
Regierung der Augartenstadt aus naheliegenden Gruenden insbesondere an 
die Bundesrepublik Oesterreich und an die Bundesrepublik Deutschland.
Was Oesterreich betrifft, wurde das vage Bewusstsein, eine Nation zu 
sein, durch fuer den Schulunterricht obligatorische Maerchen wie jenes 
von der Entstehung der rotweissroten Fahne, durch das Aufblasen des 
Imperativs "Kauft oesterreichische Waren!" zur Gewissenspflicht, und 
durch die strategische Mythisierung des Sieges gegen die deutsche 
Nationalmannschaft in Cordoba und durch die einseitige massenmediale 
Empathie fuer moegliche oesterreichische Opfer beliebiger 
internationaler Natur- und Kriegskatastrophen aufrecht erhalten. Ohne 
diese immerwaehrenden Anstrengungen von "nationbildenden" 
Institutionen wie Schule oder ORF gaebe es kein oesterreichisches 
Nationalbewusstsein. Woher sollte es denn kommen?
Wahr ist, dass Joerg Haiders vielzitiertes Diktum von der 
"oesterreichischen Nation als Missgeburt" viele Linke dazu verleitete, 
diese Nation als reale Tatsache zu verteidigen statt Haiders Sager zu 
ignorieren. So richtig der Hinweis war, Haider zaehle die 
Oesterreicherinnen und Oesterreicher, wie es vor ihm der 
Nationalsozialist Hitler und der Sozialist Renner taten, zur deutschen 
Nation - so bedenklich war die - gut gemeinte, weil gegen Haider 
gemuenzte - Behauptung einer oesterreichischen Nation.
Nach Ernest Renan lebt eine Nation von dem Gedanken, "in der 
Vergangenheit grosse Dinge gemeinsam getan zu haben und andere in der 
Zukunft miteinander tun zu wollen". Nach dieser Formel ist Oesterreich 
eindeutig keine Nation.
In der Vergangenheit haben "wir" - wer ist eigentlich dieses "wir"? - 
so gut wie nichts gemeinsam getan. Selbst dass "wir" in der Schlacht 
bei Aspern, 1809, Napoleon besiegt haben, ist eine Luege. Zum 
oesterreichischen "Sieg" ueber Napoleon kann man dieses Gemetzel nur 
mithilfe des Tricks umdeuten, die grosse Auseinandersetzung in der 
Lobau und rund um sie auf "zwei Schlachten" aufzudroeseln, naemlich 
auf die bei Aspern und die bei Wagram. In Wirklichkeit gab es nur EINE 
grosse Auseinandersetzung vor den Toren Wiens, sie dauerte von Mai bis 
Juli 1809. Napoleon gewann sie natuerlich, 100.000 Soldaten verloren 
dabei ihr Leben. Unsere Freunde damals, in Wien, freuten sich 
klammheimlich ueber den Sieg des modernen Franzosen gegen die 
katholischen Finsterlinge in der Hofburg - also nicht einmal "unsere 
Niederlage" war etwas Gemeinsames. Nicht einmal zu unserem gemeinsamen 
Gott wollten wir gemeinsam beten. Wir spalteten uns in Papsttreue und 
in Luthertreue, und weil die Ersteren maechtiger waren, wurden 
letztere zu Fluechtlingen und zu Vertriebenen. "Wir". "Wir"? Ein 
Beispiel: "Wir bauten gemeinsam Kaprun." "Wir" machten Kaprun, das 
Kraftwerk Kaprun, zum Logo des Eintritts Oesterreichs in die Moderne. 
Nein! Kaprun wurde nur fertig gebaut. Angefangen haben den Bau die 
Zwangsarbeiter in der Nazizeit, deren Leichen gleich im fluessigen 
Beton der Staumauern entsorgt wurden. Ein schoenes Logo der 
"oesterreichischen Nation".
Wie koennte ich z.B. je gemeinsam mit Benny Raich eine Nation bilden? 
Als Bergbauernbub war er fuer mich eine Figur vom Oasch der Welt. Als 
zum Millionaer Gewordener geht er mir am Oasch. Seine 
pseudotirolerische vierstoeckige Traumvilla muesste als 
Landschaftsverschandelung von jedem ernstzunehmenden Buergermeister 
umgehend geschliffen werden. Jedes Minarett passt besser in die 
Landschaft als dieser Parvenue-Schandfleck. Mein Freund Mehmet stammt 
aus einem kurdischen Bergdorf. Ich moechte lieber mit ihm eine 
"Nation" bilden als mit Benny Raich, denn Mehmet steht mir in jeder 
Beziehung naeher. Von Mehmet lasse ich mir gerne sagen, dass wir 
unsere Alpen auf keinen Fall verschandeln lassen sollten: weder durch 
den Brutal-Kitsch reich gewordener Schitalente noch durch Minarette.
Nach Ernest Renans Formel kann Oesterreich auch deshalb keine Nation 
sein, weil es ebenso ausgeschlossen ist, dass wir "in der Zukunft 
grosse Dinge gemeinsam tun". Das ist sogar absolut und total und 
komplett und strukturell und prinzipiell ausgeschlossen.
Das groesste Zukunftsding, das wir gemeinsam erledigen muessen, ist 
fuer uns die Selbstorganisation der oekologisch verantwortungsvoll 
agierenden Menschheit, in entsprechend kleine Einheiten aufgeteilt, wo 
die Selbstorganisation handlungsfaehig ist. Das groesste Zukunftsding, 
das z.B. Leute wie der Raiffeisengeneral Konrad gemeinsam erledigen, 
ist die nachhaltige Verhinderung unserer Selbstorganisation. Was gaebe 
es, was vom grossen Waidmann Konrad und von uns an einem 26. Oktober 
gemeinsam gefeiert werden koennte? Vielleicht ein Treffer aus weiter 
Entfernung mitten ins furchtlos schlagende Herz? Ich denke, einen 
Treffer ins Herz des Koenigs der Hirschen koennte unsereins nicht 
feiern. Konrad aber schon. Wir hingegen wuerden einen Volltreffer ins 
Herz der Macht feiern. Wie koennten wir mit dem Raiffeisen-General 
EINE Nation bilden?
Die Aufforderung zur Abschaffung des Nationalfeiertags richten wir von 
der Augartenstadt -- wie gesagt -- speziell auch an die Bundesrepublik 
Deutschland. Der Tag der deutschen Einheit ist der Tag der deutschen 
Luege. Wie sonst waere zu verstehen, dass einem DDR-General heute 
untersagt wird, sich "General a. D." zu nennen, waehrend sich ein 
ehemaliger national-sozialistischer Wehrmachts-General sehr wohl als 
"General a. D." bezeichnen darf? Die angebliche Einheit der beiden 
angeblich vereinigten deutschen Staaten kann soziologisch nicht einmal 
als Kolonisierung bezeichnet werden. Denn Kolonialmaechte sind dadurch 
gekennzeichnet, dass sie die einheimischen Eliten unter ihrer 
Oberhoheit weiter arbeiten lassen. Zitat aus einer Studie: In 
zentralen Bereichen staatlicher, wirtschaftlicher und medialer Macht 
der Bundesrepublik ist auch nach 20 Jahren Vereinigungsprozess eine 
weitgehende Exklusion Ostdeutscher zu konstatieren.
Wer behauptet es existiere so etwas wie ein nationales 
Zusammengehoerigkeitsgefuehl der Oesterreicherinnen und Oesterreicher, 
hat nur Recht, wenn er es definiert wie der tschechische 
Politikwissenschaftler Karl Deutsch:
"Eine Nation ist eine Gruppe von Menschen, die durch einen gemeinsamen 
Irrtum hinsichtlich ihrer Abstammung und eine gemeinsame Abneigung 
gegen ihre Nachbarn geeint sind."
Im folgenden eine -- wenn auch fiktive -- Anekdote. Es ist ein 
Ausschnitt aus einem vermutlich nie veroeffentlichten Roman. Der 
Hauptprotagonist, Kurt genannt, will im Schatten des Containers einer 
Baufirma seine Notdurft verrichten, aber da steht schon ein 
betrunkener Fremder, im Begriff, dasselbe zu tun.
"Kennst du den wichtigsten Satz des Schweizer Dichters Peter Bichsel", 
fragte der Betrunkene. "Er lautet: 'Der Betrunkener hebt seinen Kopf, 
schaut mich an, sagt, ich erzaehle dir alles, und schweigt'".
"Bist du Schweizer?", fragte Kurt.
"Schweiz, Oesterreich, schetzkojedno. Oesterreich und die Schweiz 
existieren nicht. Das heisst, sie existieren einfach nur, weil sie vom 
uebrigen Europa zugelassen wurden", sagte der Betrunkene, stand 
muehsam auf und tat das, was eigentlich Kurt vorhatte. Er brunzte an 
die Containerwand, das Roehrl hin und her schwenkend, sodass Kurt 
einen Fluchtschritt zur Seite unternehmen musste. Die "Neger 
raus"-Parole auf der Containerwand war einen Meter lang. Darum das 
Schwenken. "Mit einer Pisse, die aetzend genug waere, um solche 
Slogans auszuloeschen, haette mein Strahl eine demokratische 
Bedeutung.
Oesterreich und die Schweiz sind widerliche Gebilde, weil die 
Verbrecher, die bei den Staatsgruendungen eine Rolle spielten, vom 
Volk wie Kumpel behandelt werden", sagte der Betrunkene.
"Oesterreich und die Schweiz sind Gesellschaften mit gekippten 
Bevoelkerungen. Also mit Bevoelkerungen, die ihre Erniedriger 
anhimmeln. Weisst du, dass Menschen kippen koennen wie das Gewaesser 
der Alten Donau? Wenn man sich die Nase zuhaelt, riecht man nicht, 
dass die Alte Donau gekippt ist. Sie bleibt optisch weiter reizvoll. 
Wenn man sich die Ohren zuhaelt, merkt man nicht, dass die 
Gesellschaft gekippt ist. Die Menschen bleiben weiter reizvoll," sagte 
der Betrunkene. "Ich meinerseits kann nicht mehr kippen. Zuviel 
Alkohol."
Am Ende unserer Anekdote steht also ein Irrtum unseres Clochards. Denn 
leider kann auch der groesste Alkoholiker kippen - und "Heil Strache!" 
schreien. Wer tatsaechlich nicht kippen kann, sind die Utopisten. 
Deshalb versuchen die Meinungsmacher, "Utopist" zum Schimpfwort zu 
machen. Selbst Utopisten begehen gelegentlich den Fehler, die 
Traumhaftigkeit ihrer Utopie ueberzubetonen. Es gibt jedoch 
geschichtliche Situationen, in denen nur noch die Utopien realistisch 
sind. Wir leben in einer solchen Zeit. Schreibt Oskar Negt in seinem 
Buch "Der politische Mensch".
Ich fasse also die in dieser Rede genannten Utopien zusammen: die 
Polyphonie als politisches Gestaltungspinzip;die Anarchie als 
gesellschaftliches work-in-progress mit dem Ziel, egalitaere Zustaende 
herzustellen; der gesellschaftliche Konsens, dass die Resig-Nation 
auch dann die beste aller Nationen ist, wenn das von ihr befallene 
Subjekt darunter leidet; und die Saekularisierung aller 
Nationalhymnen, bei gleichzeitiger Sakralisierung zweier Hymnen nicht 
existenter Staaten: der Augartenstadthymne und der Roma-Hymne.
Damit die Voelker sich die Hymnen leichter abgewoehnen koennen, wird 
in einer zu bestimmenden Uebergangsperiode vor den Laendermatches in 
den Stadien von den Fussballern beider Teams verlangt, gemeinsam 
folgende von Heino Fischer vertonte Passage aus Rudolf Burgers Text 
"Patriotismus und Nation" (Neues Forum Okt. 1993) mit gebotener 
Leidenschaft vorzutragen:
Jede Nation ist die mit
selektiv historisierenden Mitteln betriebene
interessierte Pathetisierung
und emotive Aufladung
einer existierenden oder angestrebten
souveraenen politischen Grossorganisation,
eine mythisierende Pathosformel
fuer den Staat selber;
und jede empirische Feststellung
eines "Nationalbewusstseins"
testet nur die Wirkung einer Propaganda:
Jede Nation ist Indoktrination -
das gilt fuer die franzoesische
wie fuer die ukrainische,
fuer die oesterreichische
wie fuer die deutsche,
fuer die italienische
wie fuer die abchasische.
Am schoensten laesst sich das zeigen,
wenn man das Problem
ein wenig exotisiert und
die Frage stellt: Sind die Sahauris
eine Nation? Nun, das kommt
darauf an, wer den Krieg gewinnt... ###
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