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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 26. Oktober 2010; 23:22
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Nachruf:

> Argwoehnischer Pionier

Die Frage nach der Energieversorgung war dem Vater der
Einspeiseverguetung immer zuallererst eine machtpolitische. Zum Tod
von Hermann Scheer (1944-2010)


Sein letzter oeffentlicher Auftritt war eine Rede vor 50.000
DemonstrantInnen gegen «Stuttgart 21». Er war zeitlebens ein Kritiker
der Maechtigen - doch vor zweieinhalb Jahren waere er beinahe in die
Position gelangt, seine Vorstellungen aus einem Regierungsamt heraus
umzusetzen. Andrea Ypsilanti, Siegerin fuer die SPD bei den
Landtagswahlen in Hessen, wollte Hermann Scheer zu ihrem Wirtschafts-
und Umweltminister machen. Doch Ypsilantis Regierungsbildung wurde aus
der Bundeszentrale ihrer Partei hintertrieben, und Hessen wird bis
heute von der CDU regiert. Als Grund fuer den Widerstand galt das
beabsichtigte Koalieren mit der Linkspartei -- aber die Angst vor
einem Wirtschaftsminister Scheer duerfte mitgespielt haben.

Hermann Scheer, Mitglied des Bundestags seit 1980, war der vielleicht
wichtigste Vorkaempfer fuer erneuerbare Energien. Er gruendete 1988
den Verband Eurosolar, war zusammen mit den Gruenen Michaele Hustedt
und Hans-Josef Fell Vater des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG), das
2000 in Kraft trat, erhielt 1999 den Alternativen Nobelpreis und regte
die Gruendung der Weltagentur fuer erneuerbare Energien (Irena) an,
die 2009 erfolgt ist. Vor allem fuer das EEG, das mittlerweile von 47
Staaten kopiert wurde, kaempfte er bis zuletzt. Es garantiert den
Produzenten von Strom aus erneuerbaren Quellen einen festen
Abnahmepreis (Einspeiseverguetung) und ist den Apologetinnen des
freien Marktes ein Dorn im Auge. Wegen der Popularitaet der
erneuerbaren Energien traut sich auch die schwarz-gelbe Regierung
nicht, es abzuschaffen.

Diese Popularitaet betrachtete Scheer mit Argwohn: Neuerdings, spottet
er in seinem eben erschienenen letzten Buch «Der energethische
Imperativ», genoessen die erneuerbaren Energien Sympathien «wie gutes
Wetter». Doch was er anstrebte, war nicht gutes Wetter, sondern
«Energieautonomie»: «Eine selbst- statt fremdbestimmte Verfuegbarkeit
ueber Energie muss das Ziel sein -- frei und unabhaengig von aeusseren
Zwaengen, Erpressungs- und Interventionsmoeglichkeiten, nach eigenen
Entscheidungskriterien», schrieb er 2005. Da geht es «um nichts
weniger als um den tiefgreifendsten und weitreichendsten
wirtschaftlichen Strukturwandel seit Beginn der industriellen
Revolution. Nur Naive glauben, dieser sei reibungsfrei und im Konsens
mit den Traegern der ueberkommenen Energieversorgung realisierbar, gar
auf der Grundlage gemeinsamer Werte.» Logisch, stiess das auch in der
SPD nicht auf Gegenliebe. Kanzler Gerhard Schroeder wollte ihn einst
gar aus der Partei werfen

Etwas weiter gedacht

Zentralistisch gedachte Megaprojekte hat Scheer bekaempft, selbst wenn
sie aufs Er neuerbare setzten -- etwa das Projekt «Desertec», das in
der Sahara riesige Solarkraftwerke vorsieht, um den Strom mit
Hochleistungsleitungen nach Europa zu bringen. Wer die Energiedebatte
nur entlang den technischen Bruchlinien erneuerbar versus nicht
erneuerbar und nicht auch entlang politischer Bruchlinien wahrzunehmen
vermochte, konnte diese Position Scheers nicht verstehen.

Die unerhoerte Entwicklung der erneuerbaren Energien in Deutschland,
hauptsaechlich eine Frucht des EEG, hat Scheer selbst ueberrascht --
und in seiner Euphorie dann auch etwas unkritisch gemacht. Wenn er von
den dreissigprozentigen jaehrlichen Zuwachsraten etwa der Windenergie
schwaermte und suggerierte, dieses Wachstum koenne so weitergehen,
uebernahm er mitunter schon einmal die Logik der Fuersprecherinnen
ewigen Wirtschaftswachstums.
(Marcel Haenggi in WoZ 21.10.2010 / gek.)


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