**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 23. Maerz 2010; 22:12
**********************************************************
Buecher
> Der "Cambio" in Bolivien
Robert Lessmann
Das neue Bolivien
Evo Morales und seine demokratische Revolution
Rotpunktverlag Zuerich 2010. 252 Seiten. 21,50 Euro
Robert Lessmanns neues Buch gibt einen guten Einblick in die 
Geschichte des Landes und seine aktuelle Situation nach den 
Wahlerfolgen von Evo Morales und der MAS (Movimiento Al Socialismo, 
die Bewegung fuer den Sozialismus).
Bolivien hat eine urspannende Geschichte. Bereits vor den Inkas gab es 
das Tiwanaku-Reich (S. 25 ff) -- mit vielfaeltigen Formen des 
Gemeinbesitzes und entsprechenden sozialen und politischen 
Bewusstseinstrukturen. Im Inkareich blieben viele dieser Strukturen 
erhalten. Conquista und Zwangschristianisierung fuehrten zu 
Massenunterdrueckung und Verelendung. Die Unabahaengigkeit 1825 -- 
 die Herrschaft der Kreolen -- aenderte nichts an der Inferioritaet fuer 
die der Mehrheit der ( indiginen) Bevoelkerung. Bolivien erlebte im 
19. Jahrhundert historische Traumas wie den Salpeterkrieg mit Chile --  
die Haelfte der urspruenglichen Staatsflaeche ging verloren, auch der 
Zugang zum Meer! Rohstoffkonjunkturen brachten im 20. Jahrhundert zwar 
in den Haenden einiger Weniger riesige Vermoegen (etwa die legendaeren 
"Zinnbarone") -- ein genereller Aufschwung ("take-off") des Landes 
blieb jedoch aus.
Die Revolution von 1952/53 versandete bald (S. 87 ff) -- in der 
Landfrage etwa gab es kein Anknuepfen an der indigenen Tradition des 
Kollektivbesitzes. Es folgten 1964-1982 die blutigen Jahre der 
Militaer-Diktatur (S.91 ff) und nach deren Ende die neoliberalen 
Reformen (S. 97 ff). Das Resumee von Evo Morales: "Die Unabhaengigkeit 
1825 und der bolivianische Nationalstaat waren nicht fuer uns gemacht" 
(S. 8).
Diese historische Schieflage begann sich erst mit Kaempfen wie dem 
historischen Marsch der Tieflandindios fuer "Land und Wuerde" 1990 
oder der Organisierung der cocaleros, wo Evo Morales herkommt, zu 
aendern. Entscheidend war der Beschluss, sich ueber die sozialen und 
gewerkschaftlichen Kaempfe hinaus ein explizit politisches Instrument 
zu schaffen. 1999 wurde die MAS gegruendet. Den Wahlerfolgen von 2005 
folgte die neue multiethnische Verfassung und die Zweidrittelmehheit 
fuer die MAS in beiden Kammern im Dezember 2009.
2007/08 stand das Land am Rande des Buergerkriegs. Die Rechte hatte 
sich insbesonders im reichen Tiefland eingebunkert. Sie ueberspannte 
jedoch den Bogen (bis hin zu Terrorakten und Mordplaenen gegen Evo 
Morales) und brach in der Folge wahlmaessig weitestgehend ein.
Der "cambio" hat bereits einige wesentliche positive Veraenderungen 
bewirkt: Von der drastischen Reduzierung der Analphabentenrate bis hin 
zu Enteignungsmoeglichkeiten via Verfassung und Ueberfuehrung in 
kollektiven Produktionsformen. Trotzdem: Noch immer ist der Reichtum 
des Landes gaenzlich ungleichmaessig verteilt, die Agrarreform steht 
erst am Anfang,von einer Agrarrevolution ist nicht zu reden.
Lessmann schildert all das kenntnisreich und behutsam. Er spart auch 
nicht mit Kritik, zeigt zu Recht Schwaechen und Inkompetenzen auf - 
z.B. auf dem Demokatrie-Sektor.
Zwei kritisch-solidarische Anmerkungen scheinen mir sinnvoll:
Nicht Marx und "der" Marxismus haben Spezifisches (z.b. die Situation 
der Indigenen) ausgeblendet (S.58 ff), sondern insbesonders dessen 
stalinistische Verballhorner. Marx selbst hat sich eingehend mit der 
"asiatischen Produktionsweise" (allgemeiner den 
"Wasserbaubueroktratien") beschaeftigt. In der Debatte mit der 
russsischen Revolutionaerin Vera Sassulitsch vertrat er die Ansicht, 
dass unter bestimmten Bedingungen die russische Form des laendlichen 
Gemeineigentums ("obscina") eine Basis fuer eine sozialistische 
Produktionsweise sein kann. Und in Lateinamtika selbst war es der 
undogmatische Marxist Jose Carlos Mariategui, der sich mit der 
Spezifik der Indigenas intensiv auseinandersetzte. Erst mit 
Kanonisierung der historischen Entwicklungslinie 
"Feudalismus-Kapitalismus-Sozialismus" wurde dieser - fuer 
Besonderheiten offene - Theorie-und Praxis-Strang ins Abseits 
gestellt. Vor allem um ein -klassenuebergreifendes- Buendnis der KPs 
mit der angeblich "progressiven" (Industrie-) Bourgeoisie theoretisch 
zu legitimieren.
Das als "vage " eingestufte Konzept des Vizepraesidenten Alvaro Garcia 
Linares eines "capitalismo andino-amazonico" (S. 154) waere bestimmter 
zu hinterfragen. Natuerlich bedarf es auch im "neuen Bolivien" 
Kompromisse, Lavieren ist nicht zu vermeiden - v.a. gegenueber dem 
US-Imperialismus, um sich nicht in eine bewaffnete Konfrontation 
draengen zu lassen .
Die berechtigten grossen Erwartungen der bolivianischen Massen werden 
jedoch nur durch einen -sicher gut vorbereitenden- "Bruch" mit der 
kapitalistischen Produktionsweise und seinen Traegern zu erzielen 
sein: Den Grossgrundbesitzern und der Unternehmerklasse.
Von 19. - 22.April findet in Cochabamba der weltweite Gipfel der 
sozialen Bewegungen zur "Rettung der Mutter Erde" statt. Die "Augen 
der Welt" werden nach dem offiziellen Flop von Kopenhagen ( und dem 
Erfolg des Alternativgipfels) auf Bolivien gerichtet sein.
Das Buch von Robert Lessmann bietet eine hervorragende Gelegenheit, 
die Hintergruende der vielen Debatten, die es dort geben wird, besser 
zu verstehen.
*Hermann Dworczak*
***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der 
nichtkommerziellen Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd 
muessen aber nicht wortidentisch mit den in der Papierausgabe 
veroeffentlichten sein. Nachdruck von Eigenbeitraegen mit 
Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete Beitraege stehen in der 
Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von Texten mit anderem 
Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine anderweitige 
Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als Abonnement 
verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann den 
akin-pd per formlosen Mail an akin.buero{AT}gmx.at abbestellen.
*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
akin.buero{AT}gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976/00, Zweck: akin