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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 9. Februar 2010; 21:23
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Nachruf:

> Im Zickzack vorwaerts

Howard Zinn (1922-2010)

Der unermuedliche Kaempfer fuer Gerechtigkeit Howard Zinn bricht auch
nach seinem Ableben noch mit den Traditionen der Geschichtsschreibung.
De mortuis nil nisi bene, heisst die ungeschriebene Regel fuer
Nachrufe: "Ueber die Toten sagt man nur Gutes". Das gilt offenbar
nicht fuer einen streitbaren Linksintellektuellen.

In der "New York Times" wurde ein erster kontroverser Nachruf
zurueckgezogen, worin es hiess, sogar liberale HistorikerInnen haetten
Zinn wenig geschaetzt. Als Beispiel wurde Arthur Schlesinger jr.
zitiert: "Ich nehme ihn [Howard Zinn] nicht sehr ernst. Er war ein
Polemiker, kein Geschichtswissenschaftler."

Und im lokalen Public Radio, das stets aengstlich um politische
Ausgewogenheit besorgt ist, durfte sich neben Noam Chomsky, der seinem
Freund und Gesinnungsgenossen einen wuerdigen Tribut zollte,
ausgerechnet der rechts-konservative David Horowitz zu Howard Zinn
aeussern. Der politische Konvertit, der selber in den sechziger Jahren
noch am Bertrand-Russell-Friedensinstitut studiert hatte,
verunglimpfte Howard Zinns Hauptwerk "A People's History of the United
States" als Travestie und sagte woertlich: "Absolut nichts, was Howard
Zinn produzierte, verdient den geringsten Respekt. Zinn verkoerpert
eine randstaendige Geisteshaltung, die bis heute leider Millionen von
Menschen verfuehrt hat. Er hat tatsaechlich das Bewusstsein von
Millionen von jungen Menschen veraendert - zum Schlechten hin."

Die ganze Wahrheit

Offenbar muessen sogar politisch Andersdenkende den grossen Einfluss
des engagierten Historikers anerkennen, der von der
Geschichtsschreibung zeitlebens mehr wollte als "Objektivitaet",
naemlich eine groesstmoegliche Annaeherung an die Wahrheit, und zwar
die ganze Wahrheit. Im Vorwort zum 2004 erschienenen Quellenband
"Voices of a People's History" schreibt Howard Zinn: "Durch meine
Geschichtsschreibung von unten wollte ich das Bewusst-sein wecken fuer
Klassenkonflikte, Rassenprobleme, sexuelle Diskriminierung und
nationalistische Arroganz. Aber ich wollte auch den verborgenen
Widerstand des Volkes gegen etablierte Maechte an den Tag bringen."

Er selbst kam auch von unten

Dieses Programm vertrat Howard Zinn in vielen Buechern, Artikeln,
persoenlichen Auftritten und letztes Jahr in einem Film mit bissigem
Humor. Ich selber war 1980 von der Erstauflage von «A People's
History" begeistert.

Meine Kinder lesen das Buch heute noch mit derselben Begeisterung -
obwohl es von fortschrittlichen LehrerInnen mittlerweile auf die
offizielle Leseliste gesetzt worden ist.

Als Howard Zinn seine "Geschichte des amerikanischen Volkes" schrieb,
hatte er bereits zwanzig Jahre als Historiker unterrichtet; die
Haelfte davon am Spelman College fuer schwarze Frauen im Sueden der
USA, wo er zum Aerger seiner Vorgesetzten mit den Studentinnen
zusammen, unter anderem mit der Schriftstellerin Alice Walker, im
Civil Rights Movement aktiv war. Darauf beteiligte sich der
Geschichtsprofessor zehn Jahre lang am Protest gegen den Vietnamkrieg.
Als der Whistleblower Daniel Ellsberg l968 einen Ort suchte, um die
hochbrisanten Pentagonpapiere zu verstecken, wandte er sich ebenfalls
an seinen radikalen Historikerfreund und dessen Frau.

Zinn hatte sich mit der orthodoxen Geschichtsschreibung, welche die
Vereinigten Staaten als eine grosse Familie oder Nation darstellte,
nie identifizieren koennen. Das sei die geschoente Geschichte des
weissen Mannes. Er selber wurde als ArbeiterInnen- und Immigrantenkind
und dann als Hafenarbeiter in New York von allem Anfang an mit
Klassen- und Rassenunterschieden konfrontiert. Auch sein Einsatz als
Bombenschuetze im Zweiten Weltkrieg schaerfte seinen Sinn fuer
Hierarchien und Machtverhaeltnisse - und machte ihn zu einem
entschlossenen Kriegsgegner.

Ein Optimist der Ungewissheit

Howard Zinn blieb sein Leben lang kaempferisch und radikal. Als er
sich 1988 pensionieren liess, soll er seine letzte Vorlesung vorzeitig
beendet haben, um an einem Streik teilnehmen zu koennen. Einer seiner
juengsten Texte

zieht Bilanz ueber Obamas erstes Regierungsjahr. "Ich glaube, die
Leute lassen sich von Obamas Redekunst blenden", schrieb er Mitte
Januar im Linksmagazin "The Nation". "Obama wird ein mittelmaessiger
Praesident werden - und das heisst, in unserer Xeit, ein gefaehrlicher
Praesident -, ausser es entsteht eine nationale Bewegung, die ihn in
die richtige Richtung stoesst."

Howard Zinn ist nie davon ausgegangen, dass das Geschick der USA -
oder eines andern Landes - letztlich von seinem Praesidenten geleitet
oder gar gerettet werden kann. Es komme nicht so sehr darauf an, wer
im Weissen Haus, als vielmehr, wer auf der Strasse sitze, pflegte er
zu Sagen. Kurz vor seinem Tod erteilte uns der 87-jaehrige Professor
Zinn noch eine letzte Geschichtslektion: "Unsere politische Geschichte
zeigt, dass bloss starke soziale Bewegungen und mutige Aktionen, die
wie in den dreissiger und den sechziger Jahren die Nation aufweckten
und das Establishment bedraengten, bisher faehig waren, die Pyramide
der wirtschaftlichen und militaerischen Macht zu erschuettern und
zumindest zeitweilig den Lauf der Dinge zu aendern."

Revolutionaere Aenderungen geschehen nicht in einem alles umwaelzenden
Moment, sondern als endlose Abfolge von Ueberraschungen, die uns im
Zickzack in Richtung Fortschritt bewegen. Davon war der alte Aktivist
ueberzeugt. Er sei sich ueberhaupt nicht sicher, dass die Welt besser
werde, sagte er, aber er wisse bestimmt, dass wir die Chance zur
Verbesserung nicht verspielen duerften. Howard Zinn war ein Optimist
der Ungewissheit. Jetzt schon menschenwuerdig zu leben, im Widerstand
gegen alle menschenverachtenden Kraefte, das sei an sich schon ein
grossartiger Sieg.
(Lotta Suter, WoZ 5/2010)


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