**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 9. Februar 2010; 20:53
**********************************************************
Vor 10 Jahren:
> Warum ich nur mehr "Guten Tag" sage
Am 4.Februar vor zehn Jahren wurde die erste schwarz-blaue 
Bundesregierung angelobt. Was die einen als "Wende" sahen, sahen 
andere als unverzeihlichen Tabubruch. Unabhaengig von der jeweiligen 
politischen Ausrichtung hat vermutlich jeder diesen Tag und die 
unmittelbar folgenden Ereignisse als spannend erlebt. Ein 
persoenlicher Rueckblick.
Es war die erste Regierungsbildung, die ich live im Fernsehen ansah. 
Im Buero des ORF-Landesstudios NOe. Es war das Zimmer, das fuer 
staendige Freie Mitarbeiter und Volontaere reserviert war. Das gab's 
damals noch. Ich hatte die Aufgabe, aufzupassen, ob etwas besonderes 
passieren wuerde. Abgesehen von der steiernen Miene von 
Bundespraesident Thomas Klestil. Und den Demonstranten vor der 
Hofburg.
Parallel suchte ich mir mal die verfuegbaren Nummern der neuen 
Regierungsmitglieder aus dem Telefonbuch. Man weiss nie, wozu man 
sowas braucht. Ausserdem wusste ich, dass ich fuer den fruehen 
Nachmittag einen Radiobeitrag mit den Ressortzustaendigkeiten machen 
wuerde muessen. Da war das auch eine gute Gedaechtnisuebung im 
Vorfeld. Was ich mir damals dachte, hat damals niemand mitbekommen, 
denke ich. Mit Ausnahme der wenigen Kolleginnen und Kollegen, mit 
denen ich darueber sprach. Das Publikum hoerte bestimmt nichts. Das 
zaehlt nicht zu den Aufgaben eines Journalisten.
Is eh wurscht
Gut kann ich nicht ausgeschaut haben an dem Tag. Ich war, wie man so 
schoen sagt, "uebernachtig". Die Ankuendigung des Vorabends, morgen 
werde die schwarz-blaue Regierung angelobt, raubte mir den Schlaf. "Is 
eh wurscht". Mit diesen Worten waelzte ich mich im Bett hin und her 
und versuchte mich zu beruhigen. Wohl wissend, dass es nicht "wurscht" 
sein werde, dass die FPOe in der Regierung war und die OeVP den 
Kanzler stellte. Die Vorstellung hatte etwas zutiefst Beunruhigendes.
Als 20-Jaehriger machte mir die Sache sicher mehr Angst als mir eine 
vergleichbare Situation heute machen wuerde. Was wunder? Die Parolen 
eines Joerg Haider waren nicht ohne. Die "ordentliche 
Beschaeftigungspolitik im Dritten Reich" hatte ich im Ohr, ebenso die 
Ehrung der Waffen-SS'ler von Krumpendorf. Dazu das 
Auslaendervolksbegehren. Ich fuerchtete um meine vielen Freunde, die 
verschiedene Schicksale und Plaene aus verschiedenen Erdteilen nach 
Oesterreich gebracht hatten. Es erschien mir nicht ausgeschlossen, 
dass diese Regierung alle "Auslaender" rauswerfen wuerde, denen sie 
irgendetwas anhaengen konnte.
Brennende Strassenbahnen und eine politische Bilanz
Das war auch Thema eines Gespraechs am Abend, in irgendeinem Lokal in 
Wien. Vielleicht war es das Sagya, ein sehr empfehlenswertes 
afrikanisches Restaurant. Ich weiss nur, dass neben mir ein Bekannter 
aus dem Senegal stand, und irgendwo in der Naehe war ein weiterer 
Bekannter aus Indien. Wir waren alle aufgewuehlt von der 
Berichterstattung, von Geruechten, die Demonstrationen seien eskaliert 
und eine Wiener Strassenbahn stuende in Flammen. Dazwischen Meldungen 
von Knueppelaktionen der Polizei, die die Runde machten. Und die 
Ueberlegung, was mit den Leuten passieren wuerde, die nicht her 
geboren waren. Die Ueberzeugung, bald wuerde es Massendeportationen 
geben, war zumindest in diesen Kreisen durchaus verbreitet.
So weit kam es doch nicht. Etwas hysterisch waren wir schon. Was aber 
diese "Wenderegierung" nicht zu einer Wohltat fuer diese Republik 
macht. Sozialabbau, Kahlschlag bei oeffentlichen Infrastrukturen von 
Bezirksgerichten, Postaemtern bis zu Gendarmerieposten. Da war alles 
drin. Nebenbei die Verstaatlichte verscherbelt, oder was von ihr 
uebrig war. Und offensichtlicher politischer Postenschacher wie beim 
Hauptverband der Sozialversicherungstraeger. Das alles war 
Schwarz-Blau I. Schwarz-Blau II machte dort munter weiter und 
enteignete Millionen Arbeitnehmer mittels so genannter 
Pensionssicherungsreform.
Der abgeschaffte Konsens
Diese Entwicklungen waren am ersten Tag der Angelobung nicht absehbar. 
Oder vielleicht auch nur fuer mich nicht vorstellbar. Ich kannte 
nichts anderes als die Grosse Koalition. An Fred Sinowatz konnte ich 
mich nur rudimentaer erinnern, und dass damals eine - wenn auch ihrem 
Wesen nach ganz andere - FPOe in der Regierung war, war nicht Teil der 
aktiven Erinnerung. Ich wusste es aus Schulbuechern.
Nicht, dass mir die Grosse Koalition als die Verkoerperung meiner 
Ideale erschienen waere. Ich haette damals eine Ampel-Koalition 
bevorzugt. Nur ging sich die hint und vorn nicht aus. Allein schon 
mangels LIF im Nationalrat. Aber es reichte, um mir die schwarze 
Zusammenarbeit mit der blauen Truppe suspekt zu machen. Mehr als 
suspekt, um genau zu sein.
Und bis zum 4. Februar 2000 galt - bei allen Breschen, die die FPOe 
geschlagen hatte - so etwas wie ein Grundkonsens in punkto des 
politischen Anstands in diesem Land. Zumindest bei den 73 Prozent der 
Bevoelkerung, die die FPOe nicht gewaehlt hatten. Deutsche oder 
franzoesische Standards erreichte der Konsens nicht, aber er war da.
Von heute aus betrachtet nehmen sich die bald anschliessenden 
Haiderschen Exkurse (der franzoesische Staatspraesident Jacques Chirac 
als Westentaschen-Napoleon, die Anspielungen auf die "Ostkueste" als 
Gegensatz zum "goldenen Wiener Herz") beinahe wie unschuldige 
Redewettbewerbe in einem Maedchenpensionat aus. "Wien darf nicht 
Chicago werden" sorgte ein paar Jahre davor noch fuer helle Aufregung. 
Was ist das im Vergleich zu "Daham statt Islam" oder "Abendland in 
Christenhand"? Nur hat die Tatsache, dass diese gezielten Ausrutscher 
Joerg Haiders keinerlei Konsequenzen hatten, den Boden fuer die 
aktuelle Stimmung in diesem Land aufbereitet. Jeder darf alles sagen - 
Hauptsache, es kommt von rechts.
Wir rechneten mit einem baldigen Ende
Dass so etwas passieren konnte, war schon damals allen klar, die sich 
irgendwie mit Politik beschaeftigten, auch mir als 20-Jaehrigem. Den 
Menschen, die auf den Donnerstagsdemonstrationen waren, sowieso. 
Irgendwie sympathisierte ich mit ihnen, hielt aber ihre Versuche fuer 
fruchtlos. Dennoch ging ich wie viele davon aus, dass es diese 
Regierung bald zerreissen wuerde. Dass Wolfgang Schuessel bei aller 
seiner amoralischen Paktiererei nach irgendeinem allzu argen 
Haider-Sager die Koalition wuerde platzen lassen muessen. Allein schon 
seiner Eitelkeit halber.
Dass Schuessel die Sanktionen der EU-14 ignorierte, darf nicht 
darueber hinwegtaeuschen, dass fuer ihn eine gewisse Reputation 
Oesterreichs wichtig war. Er erwartete zumindest, als 
"Europapolitiker" hofiert zu werden. Ob Oesterreich als rassistisches 
Land galt, schien ihn nur insofern zu interessieren, als es sich auf 
seine Ambitionen auswirkte. Im Regelfall also nicht. Die Vorstellung 
mag Wunschdenken gewesen sein. Vielleicht hielt sich Haider auch 
gerade genug zurueck.
Ich habe keine Ahnung, wie ich auf diese Regierungsbildung reagiert 
haette, wenn ich juenger, aber schon politisch interessiert gewesen 
waere. Vielleicht waere es mir als normaler Regierungswechsel 
erschienen. Vielleicht waere ich auf die Strasse gegangen. Ich bin 
froh darueber, dass ich es nicht erfahren musste. Die FPOe mit ihren 
diversen Abspaltungen oder Doch-nicht-mehr-Abspaltungen ist fuer mich 
bis heute keine "normale" Partei, mit der man leben kann. Hoechstens 
Bestandteil der oesterreichischen Realverfassung.
Fuer Menschen, die fuenf oder zehn Jahre juenger sind, ist das anders. 
Die haben diese Entwicklung nicht miterlebt. Sie koennen sich nur 
erinnern, dass rechtslastige Gestalten in hoechste Staatsaemter 
gekommen sind und fragen sich wahrscheinlich, was die Aufregung damals 
sollte. Fuer viele sind verhoehnende, menschenverachtende Sprueche und 
Diffamierungen einfach ein Bestandteil der Realitaet. Immer schon da 
gewesen. Warum sich aufregen? Ist doch normal.
Das gleiche gilt fuer die Mentalitaet, die die FPOe verkoerpert. Deren 
Angriffe richten sich immer gegen Menschen, die sich nicht wehren 
koennen. Migrantinnen und Migranten, Menschen in finanziellen 
Notlagen, Studierende und so weiter. Menschen ohne einflussreiche 
Lobby in dem Land.
OeVP-Programm mit blauen Placebos
Schwarz-Blau brachte mich dazu, vieles zu hinterfragen. Natuerlich 
erkannte ich irgendwann, dass hier in Wahrheit ein 
OeVP-Regierungsprogramm durchgeboxt wurde, mit ein paar blauen 
Placebos drin. Damals war meine Entruestung ueber die OeVP eher 
moralischer Natur. Sie hatte den Cordon Sanitaire durchbrochen, den 
konservative Parteien in ganz Europa errichtet hatten. Nur der Macht 
wegen.
Was sie ist, zeigt sich mir wenig spaeter: Eine Mischung aus 
beinharter Unternehmervertetrung und alpenlaendisch-miefiger 
Fortschrittsfeindlichkeit in gesellschaftlichen Belangen, mit ein 
wenig Dekoration aus salbungsvollen Worten ueber katholische 
Soziallehre, Zuckerstreuseln auf einer Torte gleich. Damit man die 
bitteren Pillen nicht schmeckt, die in der Mehlspeise stecken. Nicht, 
dass mir die Clique vorher sympathisch gewesen waere. Aber groesser 
wurde die Sympathie seitdem auch nicht.
Warum ich "Guten Tag" sage
Ich fluechtete mich damals in eine teilweise innere Emigration, die 
einige Jahre anhielt. Ganz hinnehmen wollte ich das Geschehene nicht. 
Kleine Zeichen des Widerstands im Alltag setzen. Zeigen, dass ich 
nicht Teil dieser fremden- und intelligenzfeindlichen miefigen Allianz 
bin. Den ersten Schritt tat ich an diesem 4. Februar. Ich beschloss, 
mir diese Verkoerperung des katholischen Miefs abzugewoehnen, dieses 
furchtbare "Gruessgott", das die rechte Reichshaelfte so sehr zum 
oesterreichischen Gruss hochzustilisieren versucht. Der Gruss, der die 
weltanschauliche Haltung zu einer Frage des Patriotismus macht - oder 
zu einer des mangelnden Reflexionsvermoegens. Bis dahin hatte ich 
mir - wie viele - wenig dabei gedacht. An diesem 4. Februar aenderte 
sich das. Ich sage nur mehr "Guten Tag".
*Christoph Baumgarten (bearb.)*
Originaltext: http://www.politwatch.at/stories/guten-tag/
***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der 
nichtkommerziellen Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd 
muessen aber nicht wortidentisch mit den in der Papierausgabe 
veroeffentlichten sein. Nachdruck von Eigenbeitraegen mit 
Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete Beitraege stehen in der 
Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von Texten mit anderem 
Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine anderweitige 
Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als Abonnement 
verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann den 
akin-pd per formlosen Mail an akin.buero{AT}gmx.at abbestellen.
*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
akin.buero{AT}gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976/00, Zweck: akin