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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 2. Februar 2010; 13:34
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Glosse:
> Die Magie der bestimmten Zahl
Anfang der Neunziger war eine Debatte ueber Auschwitz ausgebrochen, 
deren Hauptprotagonisten die Historiker Jean-Claude Pressac und 
Franciszek Piper waren. Pressac, der urspruenglich nicht an die 
Existenz der Gaskammern geglaubt hatte und damit ausserhalb der 
Community der Holocaustforscher stand, fand bei seinen Studien heraus, 
dass er sich gar maechtig geirrt hatte -- und ging nun daran, den 
Holocaust und speziell die Maschinerie in Auschwitz ohne vorgefasste 
Meinung erforschen zu wollen. Er recherchierte anhand von 
Originaldokumenten den gesamten Aufbau der Massenvernichtung und nahm 
fuer sich in Anspruch, eine systematische Aufstellung des Geschehenen 
geschaffen zu haben. Auch errechnete er Zahlen, die seiner Meinung 
nach als "Minimalvariante" der Vernichtung vor jedem pruefenden Auge 
bestehen konnten.
Nun sollte man meinen, Holocaust-Forscher und vor allem auch die 
Opferverbaende haetten sich darueber gefreut, dass ein ehemaliger 
Gaskammernleugner nun derartige Arbeiten praesentiert. Franciszek 
Piper gestand auch Pressacs durchaus zu, "auf der Grundlage einer 
Analyse der deutschen Unterlagen, vor allem der Bauplaene, 
zweifelsfrei die Existenz der Gaskammern im KZ Auschwitz nachgewiesen 
zu haben". Aber ansonsten wollten Piper und die Verbaende nichts von 
Pressacs Arbeit wissen, kam er doch in seinen Berechnungen auf nicht 
einmal eine dreiviertel Million Menschen, die in Auschwitz ermordet 
worden waren -- Piper nahm etwa das Doppelte an, die Schaetzunger der 
Opferverbaende gingen urspruenglich sogar von mehr als dem Vierfachen 
aus. Piper damals: "Im allgemeinen ist er bestrebt, die Zahl der Opfer 
zu minimieren, die Kapazitaet der Krematorien und Gaskammern zu 
verringern und den Zeitpunkt des Treffens bestimmter Entscheidungen 
und Massnahmen hinauszuzoegern."
Vielleicht war Piper mit seinen Zahlen wirklich am naechsten dran --  
aber Pressacs Verdienst war es, als ausgewiesener Skeptiker sich 
selbst von der Existenz des Massenmords ueberzeugt zu haben und damit 
als sehr glaubwuerdiger Zeuge auftreten zu koennen. Ja, es macht einen 
erheblichen Unterschied ob 700.000 oder 1.500.000 oder 2.800.000 
Menschen ermordet worden sind, aber es macht in der Bestialitaet des 
Geschehenen und damit in der politischen und moralischen Beurteilung 
keinen Unterschied. Hingegen hat weitaus mehr Gewicht, ob die Belege 
dieser Mindestzahlen glaubwuerdig sind.
Als sich 2003 die Debatte wiederholte, da der Spiegel-Journalist 
Fritjof Meyer Zahlen angab, die noch ein wenig unter denen von Pressac 
lagen, verteidigte sich Meyer, dass seine Arbeit "die Barbarei nicht 
relativiere, sondern verifiziere". Natuerlich konnte man die Tatsache, 
dass die "Nationalzeitung" sich auf Meyers Erkenntnisse stuerzte und 
verkuendete, dies sei "die Wahrheit" ueber Auschwitz, als Beleg dafuer 
lesen, dass solche Zahlen nur der extremen Rechten nuetzten. Nur: 
Erstens sollte man wohl nicht wissenschaftliche Erkenntnisse danach 
ausrichten, wem sie gefallen koennten, und zweitens stand damit wohl 
zum ersten Mal in der Nationalzeitung explizit, dass Gaskammern und 
Holocaust "die Wahrheit" gewesen seien.
Warum ich jetzt diese Debatte ueber Opferzahlen wieder aufwaerme? Nun, 
sie kam mir in den Sinn, als im Dezember letzten Jahres vor allem in 
den Internetforen ueber die "Klimaluege" schwadroniert wurde -- Google 
liefert mittlerweile 302.000 Treffer zu diesem Stichwort. Durch den 
Hack eines Servers von Klimaforschern wurde bekannt, dass diese sich 
in emails dafuer ausgesprochen hatten, die Ergebnisse insofern zu 
"schoenen", dass sie aussagekraeftiger werden. Was sie dann wohl auch 
getan haben. Und so -- und weil auch die Medien Horrormeldungen 
lieben -- kamen dann die 7 Grad Klimaerwaermung bis 2010 in unsere 
Zeitungen. Denn sollten es nur 2-3 Grad im Laufe eines ganzen 
Jahrhunderts sein, juckt das im reichen und kuehlen Norden 
niemanden -- auch eine solche Erwaermung waere eine wahrscheinlich 
eine Katastrophe, aber die muesste man erst erklaeren. Wenn man dann 
noch dazusagt, dass selbst diese Zahlen nicht ganz sicher sind und man 
auch nicht genau wuesste, wie gross der menschengemachte Anteil an der 
Erwaermung ist, schert sich ueberhaupt niemand mehr darum. Bei der 
Behauptung von 7 Grad hingegen ist auch Menschen ohne klimatologische 
Kenntnissen klar, dass damit Italien bspw. bald zur Sahelzone gehoeren 
wuerde.
Nur: Irgendwann kann es dann passieren, dass man die Uebertreibungen 
aufdeckt. Und dann gilt: Wer einmal luegt, dem glaubt man nicht...
Genau deswegen habe ich das problematische Beispiel mit Auschwitz 
verwendet -- ich weiss schon, man kann oder soll zumindest nichts mit 
Auschwitz vergleichen, aber den Umgang mit den Zahlen kann man 
vergleichen. Jeder, der im Zusammenhang mit Auschwitz oder generell 
dem Holocaust geringere Zahlen als die allgemein anerkannten nennt, 
kommt in den Geruch, den Holocaust kleinreden zu wollen -- oft genug 
zu Recht. Aber das gutgemeinte, jedoch nicht wirklich gute Nennen von 
Zahlen, die einer serioesen Ueberpruefung nicht standhalten, leistet 
der Gesellschaft einen Baerendienst. Wenn wir glauben, ein derartiges 
Verbrechen eindrucksvoller machen zu koennen, indem wir ueberhoehte 
Zahlen praesentieren, deuten wir auch an, dass die Wahrheit gar nicht 
schlimm genug ist oder zumindest, dass wir glauben, dass diese 
undiskutierbar grausliche Wahrheit nicht ausreicht, um den 
nachfolgenden Generationen dieses Grauen nahezubringen. Ja, wer die 
Zahlen von Auschwitz in Frage stellt, bekommt Applaus von der falschen 
Seite. Aber wenn wir Fakten nicht mehr hinterfragen duerfen, weil es 
politisch nicht opportun ist, kommt die Wissenschaft in ein 
bedenkliches Fahrwasser.
Auschwitz ist ein plakatives Beispiel, zugegeben, aber es zeigt sehr 
schoen die Tendenz des Gutgemeinten auf. Vielleicht nicht ganz so 
plakativ, aber in Zusammenhang mit der Klimadebatte wohl passender, 
waere das Beispiel des beruechtigten Peak Oil. Wie oft wurden uns 
schon Jahreszahlen genannt, wann die Hoechstfoerdermenge an Oel 
erreicht sein wird? -- und wieviele dieser Zahlen liegen bereits in 
der Vergangenheit? Ja, irgendwann geht das Erdoel sicher aus und 
spaetestens dann sollten wir Energie-Alternativen entwickelt haben --  
aber "irgendwann" ist sehr unbestimmt und daher liefert uns die 
Wissenschaft immer neue Jahreszahlen...
So geht es auch mit Zahlen ueber die Hinrichtungen in China oder die 
Armutsgefaehrdung in Europa oder die Toten in tuerkischen 
Gefaengnissen -- Zahlen werden oft mit den besten Absichten 
"geschoent" (oder besser "verhaesslicht") und man stellt sie als 
absolut korrekt und unanzweifelbar hin, damit man das Publikum 
aufruetteln kann. Dass die Medien diese angeblichen Fakten lieben 
(sofern sie der Blattlinie und den Interessen der Medieninhaber nicht 
zuwiderlaufen), versteht sich von selbst.
Natuerlich: Sinnvoll waere eine Gesellschaft, in der unabhaengige 
Wissenschafter erforschen und publizieren, was sie wissen, was sie 
vermuten und was sie nicht wissen. Und dass sie dann auch noch dazu 
sagen, welchen wissenschaftlichen, oekonomischen und philosophischen 
Background sie haben. Dazu kaemen dann Medien, die versuchen wuerden, 
diese Ergebnisse moeglichst objektiv zu allgemeinverstaendlichen 
Berichten zu kondensieren. Aufgrund dieser Berichte koennte dann eine 
demokratische, aufgeklaerte, am Allgemeinwohl interessierte 
Weltgesellschaft entscheiden, was zu tun sei -- und dann wachen wir 
auf, weil genauso ist es halt nicht.
Selbst unabhaengige oder zumindest standesbewusste Wissenschafter, 
NGOs und Medien luegen, indem sie masslos uebertreiben, weil sie Angst 
haben, die Wahrheit koennte nicht aufruettelnd oder verkaufsfoerdernd 
genug sein - kein Wunder in einer Gesellschaft, die staendig an 
medialer Ueberreizung mit Superlativen leidet.
Doch eine einfache Schelte der Wissenschaft, der NGOs und der Medien 
ist billig. Denn es ist auch eine Holschuld der Konsumenten.
Wenn wir zu einem Arzt gehen, der sagt, er wuesste auch nicht an 
welcher Krankheit man leide, sondern er koenne nur Vermutungen 
anstellen, dann kommen wir uns verschaukelt vor -- vermuten koennen 
wir selber, vom Arzt wollen wir aber Gewissheit. Der Arzt wird also 
dazu tendieren, eine eindeutige Diagnose zu stellen -- auch wenn er 
sich selber nicht sicher ist. Dennoch koennen Arzt und Patient fuer 
den Moment besser damit leben. Nur: Langfristig ist es ein Problem, da 
der Patient nun vielleicht nur deswegen falsch behandelt wird, weil 
der Arzt mit der Diagnose zu sicher war. Danach kann man dann nur mehr 
sagen: Gewissheit wird uns erst die Obduktion bringen!
Wir muessen wissen wollen, was Sache ist. Wir muessen uns auch dann 
fragen, was bestimmte gesellschaftliche Parameter bedeuten, wenn wir 
nicht mit irgendwelchen Aufregerzahlen konfrontiert werden. Und wir 
muessen mit diesen Informationen in den Bereichen, wo wirklich die 
Katastrophen passieren, den Druck von unten verstaerken. Sonst sind 
wir selbst schuld, wenn wir verarscht werden.
*Bernhard Redl*
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