**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 1. Dezember 2009; 20:16
**********************************************************
Glosse:
> Minarette, Kreuze, Menschenrechte, Demokratie
Betrachtungen ueber das "dumme Volk"
*
Viel war jetzt in Zusammenhang mit Religion und Menschenrechten die
Rede und ob denn die Meinung der Mehrheit in einer Demokratie alles
bestimme duerfe -- im Zusammenhang mit den Schulkreuzen in Oesterreich
und Italien sowie mit den Minaretten in der Schweiz. Was die
Menschenrechtsfrage angeht, so ist zu sagen, dass es in beiden
Fragestellungen um die Ungleichbehandlung von Religionen geht. Vor
allem in der Kreuzfrage geht es aber um mehr: Naemlich um die Trennung
von Kirche und Staat, also um staats- und verfassungsrechtliche
Fragen, um Prinzipien fuer einen Rechtsstaat.
Sowohl bei Rechtsstaatsprinzipien als auch bei Menschenrechtsfragen
ist davon auszugehen, dass nicht einfach eine Bevoelkerungsmehrheit
ueber eine Minderheit drueberfahren darf, denn sonst gibt es immer nur
Rechte fuer die Mehrheit. Nachdem jeder Mensch in irgendeiner Hinsicht
einer Minderheit angehoert, waere das natuerlich auch eine wunderbare
Moeglichkeit, das Volk zu entsolidarisieren und mittels Vorurteilen
die Untertanen sich wechselseitig selber fertigzumachen zu lassen;
ganz nach dem Motto "teile und hersche".
Genau das ist aber jetzt in der Schweiz passiert. Die Agehoerigen
einer Minderheit, die Muslime, werden zum Popanz aufgebaut und die
Schweizer "Stimmbuerger" dreschen mehrheitlich auf sie ein. Bei uns
freuen sich darueber natuerlich Strache und Co., weil sie "Volkes
Stimme" auf ihrer Seite sehen koennen; aber auch Kapital und Kirche,
weil ihre Riesenbauten die einzigen Herrschaftssymbole bleiben
duerfen; sowie die liberaleren "Volksvertreter", die darin sehen
wollen, dass eben die Demokratie Grenzen habe und es ja doch gut sei,
dass in Oesterreich alles hauptsaechlich repraesentativ-demokratisch
geregelt werde.
Nur: Sollte man da nicht konsequent sein und auch Wahlen abschaffen?
Schliesslich werden ja auch Leute wie Blocher und Strache gewaehlt --
wenn das Volk so dumm ist und nichts von liberalen Errungenschaften
wie etwa den Menschenrechten versteht, muss man es von der
Entscheidungfindung logischerweise ganz ausschliessen.
Sollen wir also im Namen demokratischer Rechte die Demokratie
sistieren? Nein, das kann es nicht sein, die Fragestellung muss
lauten: Warum kann das "einfache Volk" nicht die Menschenrechte
wertschaetzen? Denn der Widerspruch laesst sich nur aufloesen mit der
Forderung, dass Menschenrechte mehrheitsfaehig sein muessen -- das
heisst, die "Menschen auf der Strasse" muessen die Chance haben, zu
verstehen, wozu diese Menschenrechte gut sind, und damit auch
verstehen, wozu Solidarisierung gut ist. Denn die Menschen- und
anderen Grundrechte sind unter anderem eine Voraussetzung dafuer, dass
das kleine Bisschen an Mitbestimmungsmoeglichkeiten, aber auch die
sozialen Absicherungen, die wir Untertanen haben, wir zumindest
behalten koennen. Denn wer jetzt gegen Minarette wettert, wird sich
anschauen, wenn das naechste Mal jemand gegen Meinungsfreiheit oder
den "ueberbordenden Sozialstaat" oder die hinderlichen
Arbeitsverfassungsgesetze schimpft -- ja, weil dann vielleicht trifft
es gerade diesen Minarett-Gegner...
*
Wir leben nicht in Demokratien, weder in der Schweiz noch in
Oesterreich -- denn zur Demokratie gehoert auch die
Informationsfreiheit. Und das heisst eben nicht nur Meinungsfreiheit
und auch die Freiheit, diese Meinungen und Informationen theoretisch
erlangen zu koennen, sondern es muss auch praktisch moeglich sein.
Denn im Kapitalismus werden die wenigsten Informationen und Meinungen
per Gesetz unterdrueckt, sondern wir haben eine bunte Warenwelt, die
mit ihrem Geplaerr alles uebertoent, und wir haben ein Volk, das
mehrheitlich aus Menschen besteht, die von klein auf dazu gedrillt
wurden, zu parieren, und die in ihrem stressigen Leben einfach keinen
Platz mehr finden, sich fortzubilden oder Verstaendnis fuer ihre
Nachbarn zu finden. Wenn die dann also doch einmal angefressen sind --
und Grund haben sie ja in diesen kapitalismus-apologetischen Zeiten
genug dazu --, sind sie natuerlich sehr empfaenglich fuer die Parolen
der Straches und Blochers dieser Welt. Viele Menschen hatten einfach
nie die Moeglichkeit, sich eben jenes Ruestzeug zu holen, das ihnen
helfen wuerde zu verstehen, dass die politischen Rattenfaenger (egal
ob es sich dabei um die Fuehrer rechtsextremer Parteien oder um
reaktionaere Bischoefe handelt) letztendlich ihre eigenen Feinde sind.
Das Volk ist nicht dumm, zumindest nicht duemmer als die Obrigkeit,
aber leider hilflos.
Unsere politischen Debatten sind immer sehr anlassbezogen und ich
wuerde unter den derzeitigen Bedingungen auch sehr dafuer plaedieren,
dass die Menschenrechte nicht einer Mehrheit zur Disposition gestellt
werden duerften -- weder bei einer Volksabstimmung noch im Parlament.
Aber da kann man nicht stehenbleiben. Die Debatte muss darueber
hinausgehen. Es muss die Frage gestellt werden, wie Demokratie
funktionieren kann und warum sie derzeit eben nicht funktioniert. Doch
diese Debatte wird nicht gefuehrt, weil sie wohl den meisten ein wenig
zu abstrakt erscheint und auch praktikable Loesungsansaetze nicht in
Sichtweite sind. Aber wenn diese Debatte nicht gefuehrt wird und wenn
man nicht zumindest versucht, unpraktikable Loesungsansaetze doch zu
realisieren, werden wir die heutigen Debatten um Kreuze und Minarette
morgen vielleicht schon fuer aeusserst laecherliche Diskussionen
halten.
*Bernhard Redl*
***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der
nichtkommerziellen Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd
muessen aber nicht wortidentisch mit den in der Papierausgabe
veroeffentlichten sein. Nachdruck von Eigenbeitraegen mit
Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete Beitraege stehen in der
Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von Texten mit anderem
Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine anderweitige
Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als Abonnement
verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann den
akin-pd per formlosen Mail an akin.buero{AT}gmx.at abbestellen.
*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
akin.buero{AT}gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976/00, Zweck: akin