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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 20. Oktober 2009; 16:35
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Tuerkei/Kommentar:
Nachfolgender Text stammt aus der Zeitschrift "Intifada". Die 
Schlussfolgerungen des Autors moegen zweifelhaft sein, doch der 
Kommentar enthaelt doch einige nicht uninteressante Fakten und 
Betrachtungen, so dass wir uns fuer einen Nachdruck entschieden haben.
> Amerikanische Seilschaften
Das "Terrorproblem" der Tuerkei
Von Mustafa Ilhan
Ein 25-jaehriger Krieg mit ueber 40.000 Toten - darunter die Morde an 
17.000 kurdischen Oppositionellen in den Neunzigern - das ist die 
Geschichte der Tuerkei.
Nun laesst die AKP-Regierung mit sensationellen Reformen zugunsten der 
Kurden aufhorchen und geraet dabei in Konflikt mit der alten 
Oligarchie. Ist eine Loesung des historischen tuerkisch-kurdischen 
Konfliktes absehbar? Ist das im Rahmen der weiter bestehenden 
westlichen Hegemonie denkbar?
Am 28. Juli 2009 trafen sich die nordirakische Kurdenfuehrung, die USA 
und die AKP-Regierung in Ankara, um die kurdische Frage zu eroertern. 
Es war nicht das erste Mal, dass sich diese drei staatlichen 
Protagonisten diesbezueglich zusammentaten. Zum wiederholten Mal wurde 
das sogenannte Terrorproblem der Tuerkei (PKK) besprochen und von den 
selbst ernannten Weltbefreiern (USA) in die Welt posaunt. Die 
Medienberichte fielen zunaechst nicht anders als in den Jahren zuvor 
aus.
Nun aber hat die AKP-Regierung das ganze Land, besonders das kurdische 
Volk, mit einer Nachricht ueberrascht. Zum ersten Mal im 
kurdisch-tuerkischen Konflikt wurde eine kurdische Partei (DTP, die 
viertgroesste Partei der Tuerkei) von der Regierung anerkannt und zu 
einem Gespraech am 5. August 2009 eingeladen. Ein Motiv dafuer duerfte 
sein, dass es fuer die AKP noch andere Probleme wie z.B. die 
Geheimorganisation Ergenekon gibt, die fuer die AKP noch viel 
gefaehrlicher ist als die PKK. Das Agieren der AKP kann indes nicht 
rein taktisch interpretiert werden. Viele Indizien sprechen dafuer, 
dass sich die AKP nicht nur konjunkturell gegen den alten tuerkischen 
Staat und dessen prowestliche Nomenklatura aufstellt.
Einen Tag spaeter folgte die naechste Ueberraschung. Die DTP-Fuehrung 
traf sich mit US-Botschafter James Jeffrey zum Abendessen. Im 
Anschluss an diese Zusammenkunft erklaerte DTP-Parteichef Ahmet Tuerk, 
dass die Partei in Washington ein Verbindungsbuero eroeffnen wird. Es 
braucht nicht besonders betont zu werden, dass ein Kampf fuer die 
Unabhaengigkeit des kurdischen Volkes, der sich auf die amerikanische 
Demokratie verlaesst, ein jaehes Ende finden wuerde. Wenn die PKK 
amerikanische Interessen im Irak vertreten und/oder einen 
amerikanischen Krieg gegen den Iran unterstuetzen wuerden, waere 
Kollaboration statt Unabhaengigkeit erreicht. Ob die USA allerdings 
einen solchen Partner adoptieren, wird sich spaetestens mit dem 2011 
beginnenden Rueckzug der USA aus dem Irak zeigen.
Moeglicherweise eroeffnet sich fuer die kurdische Bewegung dennoch die 
Moeglichkeit eines demokratischen, von den USA unabhaengigen 
Fortschritts. "Ich bin nicht der Oecalan, der damals an den realen 
Sozialismus glaubte, ich bin auch nicht der Oecalan, der ich vor zehn 
Jahren war. Auch die Tuerkei ist nicht die Tuerkei, die sie vor zehn 
Jahren war." (4. August 2009). Damit ist nicht nur die tuerkische 
Politik gegenueber den Kurden gemeint. Damit ist die Gesamtheit der 
politischen, oekonomischen und kulturellen Schritte der AKP-Regierung 
gemeint, die sich gegen die alte staatlich-militaerische Nomenklatura 
richten.
Oecalans These einer "radikalen Demokratisierung" der Tuerkei ist ein 
Modell, um die Strukturen und Akteure der alten "Raeuberregierungen" 
um ANAP, DYP, DSP usw. zu zerschlagen. Es geht darum, die Tuerkei von 
faschistisch-chauvinistischen und anti-kurdischen Parteien wie CHP, 
MHP, DP und von der Vorherrschaft des Militaers zu befreien. Das hat 
noch nichts mit einem unabhaengigen Kurdistan oder gar einer 
kommunistischen Gesellschaft zu tun, kann aber dennoch als legitim und 
notwendig betrachtet werden.
Oecalan formuliert mit seiner These der radikalen Demokratisierung 
viele Ideen, die auch den Interessen der AKP entsprechen. Die 
kurdische Bewegung - in den Kandil-Bergen (Guerilla), in der DTP und 
in Imrali (Gefaengnisinsel) - steht vor der Herausforderung, positive 
Elemente der AKP-Politik aufzunehmen und anzutreiben, waehrend die 
Einmischung der Amerikaner zu bekaempfen ist. Das Gemeinsame von 
tuerkischer Regierung und kurdischer Bewegung kann darin formuliert 
werden, den alten Staat zu zerschlagen. Denn dieser alte Staat und 
seine Regierungen waren es, welche das Land dem Westen ausgeliefert 
haben.
Die tuerkische Gesellschaft kann sich nur emanzipieren, wenn sie sich 
von der westlichen Umklammerung befreit, was mit der AKP - mit ihrer 
religioesen Ideologie zur Verteidigung der Interessen des Landes - 
durchaus kompatibel ist. Das gemeinsame Interesse der Massen und der 
Regierung liegt darin, den Einfluss der USA und der EU zu begrenzen 
und unabhaengig von aussen zu agieren.
Um diesen Prozess in Gang zu setzen, muss die AKP beweisen, dass sie 
sich grundsaetzlich von den alten Regierungsparteien unterscheidet. 
Sicher, die AKP unterliegt auch anderen Einfluessen. Dennoch koennte 
sie durch mutige demokratische Schritte im Inland sowie eine andere 
Aussenpolitik (z.B. durch Energieverhandlungen mit Russland) eine 
fortschrittliche Vorreiterrolle in der islamischen Welt spielen.
Der AKP-Regierung haelt man die versuchte Iranisierung des Landes vor. 
Die AKP sei Feind der Linken und der alevitischen 
Religionsgemeinschaft - ueberhaupt ein Feind der Demokratie. Dem 
entgegnend: Wann durften Gewerkschafter und Arbeiter in den letzten 33 
Jahren, so wie jetzt am 1. Mai 2009, mit roten Fahnen auf dem 
Istanbuler Taksimplatz demonstrieren? Wann konnten die Kurden zuletzt 
ihren nationalen Feiertag Newroz am 21. Maerz ohne offizielle Verbote 
abhalten? Newroz war frueher illegal, warum ist jetzt legal?
Seit 1982 wird das Land mit einer Putschverfassung regiert. Zum ersten 
Mal gibt es einen Vorschlag zur Verfassungsaenderung. Zum ersten Mal 
wird die kurdische Frage als eine Frage der Demokratisierung des 
Landes dargestellt. Die alevitische Minderheit wird vom Staat 
politisch anerkannt und oekonomisch unterstuetzt. Die 
tuerkisch-kurdische demokratische und linke Bewegung sollte die 
AKP-Regierung bei konkreten politischen Reformen unterstuetzen, 
anstatt sie aus allen Richtungen pauschal zu kritisieren und Vorwuerfe 
wie "Iranisierung" und "statt Schulen werden Moscheen gebaut" zu 
erheben.
Am 26. August 2009 sprach sich Generalstabschef Ilker Basbug gegen den 
Verfassungsaenderungsvorschlag der AKP aus. Der tuerkische Staat und 
die tuerkische Nation seien ein unteilbares Ganzes, die Sprache des 
Landes sei einzig tuerkisch. Diese Aussagen spiegeln seht gut wider, 
welcher Antagonismus derzeit in der Tuerkei vorherrscht.
Die linke Bewegung darf sich nicht auf die einseitige Formel 
reduzieren, dass die AKP die kurdische Frage nicht wirklich loesen 
wolle - stattdessen ist es geboten, positiven Bezug auf den Vorschlag 
einer Verfassungsaenderung (was zurecht immer von der Linken gefordert 
wurde) zu nehmen. Es ist klar, dass die AKP-Regierung die PKK fuer 
illegitim erklaert. Doch eine demokratische Loesung der kurdischen 
Frage ist nur moeglich durch den Kampf gegen die kemalistischen 
Militaers und Putschisten wie Ergenekon. In Bezug auf die religioese 
Entwicklung des Landes (Bau von Moscheen, Religionsunterricht) muss 
man die demokratische und linke Bewegung daran erinnern, dass die 
Tuerkei immer noch zur islamischen Welt gehoert.
Es sollen keine masslosen Hoffnungen in die AKP gesetzt und auch nicht 
der Eindruck erweckt werden, dass ausnahmslos alle Reformen 
fortschrittlich sind. Es sind verschiedenste Faktoren am Wirken. 
Vieles haengt von der Politik der PKK gegenueber dem Iran ab. PJAK, 
die Iranfront der PKK, steht jetzt zwar auf der Terrorliste, wurde 
aber bis vor Kurzem mit Geldern der USA unterstuetzt. Anstatt sich 
westlichen Hegemoniebestrebungen anzudienen, sollte die kurdische 
Bewegung einen Waffenstillstand mit dem Iran vereinbaren. Ohne ein 
intelligentes Agieren in der Tuerkei und ohne Verhandlungen mit 
Teheran und Damaskus wird eine demokratische kurdische Nation 
perspektivisch nicht entstehen.
Es gilt also, auch mit dem Iran gemeinsame Interessen auszuloten (ohne 
auf die kurdischen Rechte zu verzichten), anstatt dem US-Imperialismus 
um den Hals zu fallen. Um zu eruieren, wie man mit dem Iran 
gemeinsames Handeln entwickeln kann, lohnt ein Blick auf das 
venezolanische Vorgehen. Um hingegen eine Vorstellung davon zu 
gewinnen, wie Kurdistan aus westlicher Sicht aussehen soll, ist ein 
Blick auf die EU-Kolonie Kosovo angebracht: Das kann und soll kein 
Vorbild fuer die unterdrueckten Voelker dieser Erde sein.
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> Ergenekon
Ergenekon ist laut Anklageschrift der Istanbuler 
Generalstaatsanwaltschaft eine "terroristische Vereinigung". Diese 
Organisation mit nationalistischem und faschistischem Hintergrund 
betaetigt sich innerhalb der staatlichen Strukturen und insbesondere 
der Sicherheitskraefte des Landes. So wie diese Tendenz in den 1990er 
Jahren gegen die Linke und die kurdische Bewegung agierte, so richtet 
sie sich heute gegen islamische Einfluesse. Man schuerte nicht nur den 
kurdisch-tuerkischen sondern auch andere Konflikte, wie den 
alevitisch-sunnitischen, den islamisch-laizistischen und natuerlich 
ging man gegen Kommunisten vor.
Im Ergenekon-Verfahren sind Militaerangehoerige bis hin zu 
Vier-Sterne-Generaelen, Polizeibeamte, Juristen und sogar 
Gewerkschafter sowie Journalisten angeklagt. Im am 20. Oktober 2008 in 
Silivri begonnenen Prozess werden der Organisation ein Putschversuch 
gegen den Regierung, zahlreiche Attentate sowie Drogenhandel 
vorgeworfen.
Die Organisation wurde nach Angaben der Anklage durch CIA, Mossad und 
selbst von ehemaligen Nazi-Generaelen ausgebildet. Ergenekon geht auf 
das Gladio-Netzwerk zurueck, das in den 1950er Jahren durch die USA 
ueber die NATO-Staaten gesponnen wurde aber andernorts aufgehoert hat 
zu existieren. (gek.)
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Quellen: beides aus intifada 19, Sommer 2009
http://www.intifada.at/node/581
 http://www.intifada.at/node/580
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