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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 9. Juni 2009; 18:05
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Worte zum Sonntag:

> Lasst uns unangenehm sein!

Die Europaparlamentswahl war wohl einer der seltsamsten Urnengaenge
seit langem -- aber auch einer der lehrreichsten.
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Die absolute Mehrheit bei dieser Wahl ging an die Nichtwaehler -- in
Oesterreich genauso wie im EU-Durchschnitt. Zweitbeste wurde die
schwarze EVP/ED-Fraktion. Dann kamen die Sozialdemokraten und die
drittstaerkste Gruppe wurden die Fraktionslosen -- 90 Mandate gingen
an diese Listen ohne Bekenntnis. Das ist auf den ersten Blick ein
erstaunliches Ergebnis. Doch diese o.B.-Listen haben es in sich:
Grosse Bloecke dieser 90er-Partie werden von Parteien wie den
britischen Torys, der tschechischen konservativen, aber auch sehr
EU-skeptischen ODS und der italienischen sozialdemokratischen PD
gestellt. Daneben gibt es hier einige Rechtsradikale, aber auch recht
schraege, eher links angesiedelte Listen wie die schwedische
Piratenpartei oder die Truppe von Hans Peter Martin.

Die EU-Parteien sind in Bewegung, die jetzt angegebenen Ergebnisse
fuer die einzelnen Fraktionen koennen sich bis zur Konstituierung des
Parlaments noch stark verschieben -- ausgemacht ist noch gar nichts.
Die buergerlich-konservativen Parteien haben insgesamt dazugewonnen --
allerdings weiss noch niemand, wie gross die EVP/ED letztendlich sein
wird. Wahrscheinlich wird die christdemokratische Fraktion groesser
sein als jetzt angegeben, vielleicht reissen aber auch Torys und ODS
noch ein paar Parteien und einzelne Abgeordnete aus dem Block und
bilden eine neue Fraktion -- fuer oesterreichische Verhaeltnisse, wo
sich hoechstens noch hie und da die FPOe spaltet, ein unerhoertes
Ereignis. Auf EU-Ebene sind Fraktionen und Parteien keine starre
Angelegenheit. Waehrend man derlei auch in Laendern wie Italien
gewoehnt ist, stoesst so etwas hierzulande auf Unverstaendnis --
deswegen auch die Verwunderung ueber den Erfolg von HPM.

Die Gruenen, die im Gegensatz dazu trotz enormer politischer
Unterschiede der nationalen Parteien wohl die konsolidierteste
Fraktion im EP bilden, haben im EU-Schnitt leicht dazugewonnen. Die
vollkommen farblosen oesterreichischen Gruenen aber, deren Versuch,
mit "Vorwaerts Gruen" doch Farbe zu bekennen, leider weniger nach der
gewollten Nachstellung eines Revolutionsbildes aussah sondern mehr
nach Rapid-Kandidatur, sind abgestunken. Die tschechischen Gruenen
(buergerlich, EU-freundlich, regierungsbeteiligt und wegen einer
NATO-Debatte schwer geschaedigt ) erwischte es noch aerger -- sie
fielen vom eh schon niedrigen Niveau von 3,2% (2004) auf 2% hinunter.

Das Ende der Nettigkeiten

Sowohl die Instabilitaet des buergerlichen Blocks, dessen Parteien
eben nicht mehr alle so bedingungslose "Europaeer" sein wollen, als
auch das Absacken der oesterreichischen Gruenen, deren handzahme
EU-Kritik wirklich nur mehr treue Stammwaehler ins Wahllokal locken
konnte, zeigen eins: Unmut gegenueber Bruessel greift um sich -- egal,
ob er jetzt von links, rechts oder irgendwoher kommt. Gewonnen haben
die Stoerenfriede. Antagonistische Burgfriedensbrecher waren
gefragt -- und nicht nur von ihren blinden Verehrern, sondern quer
durch die Gesellschaft und politische Ueberzeugung. Sie wurden wohl
sogar auch von Leuten gewaehlt, denen sie gar nicht sympathisch sind.
Strache als Van Helsing-Verschnitt mit seinem Kreuz war wohl vielen
seiner Waehler peinlich -- aber er war eben unangenehm und das gesamte
Establishment erkannte ihn und seine Partei als den Feind. Die Feinde
meiner Feinde sind meine Freunde -- das Erfolgskonzept der FPOe.

Aehnlich der eigentliche grosse Sieger dieser Wahl: Mal ehrlich, wer
mag HPM? Der kommt doch immer nur mit seinen Buechern daher, hat
ausser der Kronenzeitung keine Basis, hat so eine "schnarrende"
Stimme, macht sich Spitzelmethoden zu eigen und zerstreitet sich immer
mit allen. Warum wurde er gewaehlt? Die Krone ist eine huebsche
Ausrede. Vor allem von der SPOe, die es nicht verwinden kann, dass
Onkel Hans sich doch wieder einen anderen Lieblingsneffen geholt hat.
Aber was hat Martin Boeses gemacht? Waehrend andere auf ihren
Parteiapparaten aufbauten, hat er halt das Boulevardblatt genuetzt.
Und die Krone ist bekanntlich meistens nur ein Booster der
oeffentlichen Meinung, sie verstaerkt Trends, die auch ohne sie da
waeren. Ohne Dichand waere Martin 2004 nicht ins EP gekommen, ja. Weil
die Krone verkuendete: Dieser Typ ist waehlbar, hat gute Chancen und
eine Stimme fuer ihn ist nicht verloren. Aber nicht nur wegen der
Krone haben so viele diesen Unsympathler gewaehlt. Sondern wohl auch
genau wegen seiner absoluten Nichtsympathietraegerschaft -- weil er
nicht staendig laechelt und nicht lieb und nett ist und nicht
Wohlfuehlparolen verkuendet. Wer sich immer mit allem zerstreitet, dem
glaubt man die Unabhaengigkeit eher.

Und genau darum geht es: Wenn die diversen Spindoktoren immer
verkuenden, man muesste Positivbotschaften verkuenden, so ist das
kompletter Unsinn. Das half vielleicht zu Zeiten des
Wirtschaftswunders im oesterreichischen Zwei-Parteien-Staat, aber
diese Zeit ist laengst vorbei. Pikanterweise muessten gerade die
Gruenen das wissen, sind sie doch eine Partei, die sich nur dank sehr
negativer Parolen, alarmistischer Umweltszenarien und einer --
ebenfalls von der Krone unterstuetzten -- erfolgreichen
Hainburg-Besetzung etablieren konnten.

Stimmt schon, die Voggenhuber-Geschichte hat den Gruenen auch viel
gekostet. Obwohl Voggenhuber ein EU-Fan war -- aber er hatte Profil,
Ecken und Kanten. Stattdessen eine Lunacek hinzusetzen, die auf
sympathisch macht, aber genausowenig EU-kritisch ist, war wohl keine
so gute Idee.

Wahlzelle als Experimentierfeld

EU-Wahlen haben ihre eigenen Gesetze. Da weniger Abgeordnete pro Land
zu waehlen sind, ist das Wahlrecht zumeist ein anderes als auf
nationaler Ebene. Auch gehen viel weniger Menschen zur Wahl -- was
nicht nur der Ablehnung des EP oder der EU im Allgemeinen geschuldet
ist, sondern auch der Tatsache, dass wir von unseren Abgeordneten nur
kurz vor der Wahl etwas hoeren, sonst aber das EP kaum mediale
Oeffentlichkeit erhaelt.

Auch auschlaggebend war bei dieser Wahl das Gefuehl, dass "es ja eh um
nix geht", sondern nur um die Zusammensetzung eines europaeischen
Bundesrates -- das machte die Wenigen, die doch zur Urne schritten,
experimentierfreudiger. Viele sahen die EU-Wahl so einfach auch als
Moeglichkeit an, Protest zu formulieren.

Aber genau das macht die EU-Wahlen so interessant. Denn hier wurde
deutlich, dass der Protest nicht immer nur zu rechtsextremen Parteien
geht, wenn auch ein anderes Angebot vorhanden ist. Sicher, ein
dezidiert linkes Projekt findet wohl keine Unterstuetzung bei der
Kronen-Zeitung. Aber die Piratenpartei hatte in Schweden auch keine
Kronen-Zeitung, sondern ganz gezielt sich unter der Internet- und
Buergerrechtsgemeinde eine Massenbasis aufgebaut.

Das ist vielleicht ein Weg. So -- oder zumindest so aehnlich. Und zwar
nicht nur, um in die Parlamente einzuziehen, sondern um tatsaechlich
politischen Einfluss zu gewinnen. Denn die Parlamente sind nicht
uninteressant, um Oeffentlichkeit zu gewinnen, wichtiger aber ist es,
den Common Sense auch von unten zu beeinflussen -- denn eine Bewegung
mit neuen Ideen und vor allem mit eben diesen Ecken und Kanten kann
wirklich etwas veraendern.

Langweilige Linksprojekte, nur fuer irgendeine laeppische Einzelwahl
krampfhaft zusammengebastelt aus ein paar Kleingruppen, werden wohl
nie was reissen. Wir muessen uns als Linke der verschiedensten
Geschmacksrichtungen nicht wirklich lieben, um miteinander zu
kaempfen, und wir muessen nicht einmal von irgendwelchen Massen
geliebt werden. Wir brauchen keine ausgefeilten Parteiprogramme, die
sowieso niemand liest, sondern provokante Ansagen. Keine politische
Korrektheit, sondern klare Aggression gegen das bestehende
kapitalistische und militaristische System. Hoeren wir auf, Bewegungen
schaffen und kanalisieren zu wollen, sondern unterstuetzen wir den
aufkommenden Unmut. Und das ist auch eine zutiefst demokratische
Frage: Wollen wir Schafe, die uns blind folgen, oder Leute, die einen
Teil des Wegs mit uns gehen, aber vor allem durch unsere wilden Ideen
die Lust am Selberdenken schaetzen lernen?

Das sollten wir aus dieser EU-Wahl gelernt haben: Die Menschen in
diesem Land und auf diesem Kontinent haben genug davon, gegaengelt zu
werden. Und das ist gut so. Wenn die Linke diesen Unmut nutzen -- und
nicht ausnutzen -- moechte, dann muss es heissen: An der Urne, auf der
Strasse, im Betrieb, in den Medien, in der oeffentlichen Diskussion
brauchen wir das kreative Chaos!
*Bernhard Redl*



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