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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 19. Mai 2009; 18:29
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Libanon/Interview:
> Hisbollah: "Wir akzeptieren kein staatliches Gewaltmonopol"
Abdel Fadlallah ist Praesident des Dokumentationszentrums der
Hizbollah, das sowohl Lehrgaenge in politischer Strategie,
Stadtplanung und Oekonomie abhaelt. Eine angeschlossene Bibliothek
versorgt die Studierenden der Partei Gottes mit einer ausfuehrlichen
Datenbank sowie gedruckten Unterrichtsmaterialien. Das Buero des
40jaehriger, in den suedlichen Vorworten von Beirut gelegen, wirkt
nuechtern und kahl. Die ansonsten in schiitischen Quartieren ueblichen
Nasrallah-Devotionalien fehlen. Stattdessen ziert ein Bild eines
modernen libanesischen Malers die Wand hinter dem Schreibtisch.
Hannes Hofbauer traf Abdel Fadlallah Mitte April 2009 in der
libanesischen Hauptstadt. Eine kurze Fassung des Interviews ist Anfang
Mai 2009 in der Berliner Tageszeitung "Neues Deutschland" erschienen.
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FRAGE: Seit Juni 2006 gilt die Hizbollah in der gesamten islamischen
Welt als standhaftes Bollwerk gegen Israel. Wann und warum wurde die
Partei Gottes gegruendet?
FADLALLAH: Unmittelbar im Anschluss an die israelische Okkupation 1982
wuchs der Widerstand dagegen an, was zwei Jahre spaeter zur
offiziellen Gruendung unserer Organisation fuehrte. Mit einem "offenen
Brief" wandte sich die Hizbollah an die Gesellschaft, wobei religioese
und soziale Belange von Anfang an miteinander verbunden worden sind.
FRAGE: Mit welchem Ziel?
FADLALLAH: Oberste Prioritaet hatte und hat bis heute der Widerstand
gegen die israelischen Attacken, darueber hinaus haben wir uns den
Schutz der armen Viertel und der armen Klassen zur Aufgabe gemacht,
die vom libanesischen Staat keinerlei Unterstuetzung erwarten koennen.
FRAGE: Auf welcher Seite stand die Hizbollah im 15 Jahre andauernden
Buergerkrieg, der erst 1990 beendet werden konnte?
FADLALLAH: Wir haben uns von den inneren Kaempfen so gut es ging fern
gehalten, um unsere gesamte Kraft gegen den israelischen Feind
mobilisieren zu koennen. 1985 musste sich dann die israelische Armee
aus Teilen der zuvor besetzten Gebiete zurueckziehen.
FRAGE: Der im saudiarabischen Taif im Jahre 1989 ausgehandelte Akkord
sollte die libanesische Gesellschaft nach Innen stabilisieren und hat
ein politisches Proporzsystem nach Religionsgemeinschaften zementiert.
Steht die Hizbollah dazu?
FADLALLAH: Nach Taif haben wir unsere Strategie ausgefeilt. Seither
spielt Hizbollah eine doppelte Rolle: als kaempfende Widerstandsgruppe
gegen die Besatzung und als oppositionelle politische Kraft, die sich
hauptsaechlich gegen die fehlende Sozialpolitik von Rafiq Hariri
gewandt hat und zudem die Regierung auffordert, den Widerstand
staerker zu unterstuetzen. Mit der Praesidentschaft von Emile Lahoud
besserte sich die Lage ein wenig. Zum Akkord von Taif stehen wir nach
wie vor.
FRAGE: Wie verhielt sich die Hizbollah zum von der Mehrheit der
Christen und Sunniten betriebenen Rueckzug Syriens aus dem Libanon?
Damaskus war ja Ihrer Organisation freundlich gesinnt.
FADLALLAH: Und umgekehrt. Nach dem 11. September 2001 und dem
anschliessenden Krieg gegen den Irak stellte sich die Hizbollah
eindeutig gegen einen Rueckzug der Syrer aus dem Libanon. Die
UN-Resolution 1559 (aus dem Jahr 2004, HH), die den syrischen Rueckzug
forderte und ihn mit der Entwaffnung der Milizen verband, zielte
einseitig auf unsere schiitische Miliz. Wir lehnten die UN-Resolution
ab. Die Ermordung von Rafiq al-Hariri wurde von uns verurteilt. Fuer
eine Schuldzuweisung an Syrien gibt es unserer Meinung nach keine
Anhaltspunkte. Die Hizbollah hat dann am 8. Maerz 2005 zu einer
Demonstration aufgerufen, mit der wir Syrien fuer das, was es fuer uns
getan hat, fuer die Unterstuetzung des Widerstandes und den
staatlichen Zusammenhalt, gedankt haben. Dass dafuer eine Million
Menschen auf die Strasse gingen, hat uns selbst positiv ueberrascht.
Die Woche darauf, am 14. Maerz 2005, demonstrierte dann die
Hariri-Allianz.
FRAGE: Das kam einer Zurschaustellung der entlang religioesen und
sozialen Linien gespaltenen libanesischen Gesellschaft gleich.
FADLALLAH: Diese Auseinandersetzung auf der Strasse, auf der Hizbollah
eindrucksvoll ihre Staerke beweisen konnte, hatte zur Folge, dass nach
dem Rueckzug der Syrer keine Entwaffnung unserer Miliz stattgefunden
hat.
FRAGE: Seitdem bildet die Hizbollah so etwas wie einen Staat im
Staate. Ist das fuer den Libanon auf Dauer verkraftbar?
FADLALLAH: Unsere Position war und ist klar: Niemand darf die Waffen
des Widerstandes im Libanon angreifen, auch nicht die Regierung.
Insofern akzeptieren wir das Gewaltmonopol des Staates nicht.
FRAGE: Aber Israel war doch im Jahr 2000 abgezogen.
FADLALLAH: Unsere Waffen dienten und dienen der Selbstverteidigung. Zu
oft war der Libanon Ziel israelischer Attacken gewesen. Ausserdem
hielt die israelische Armee auch nach 2000 die Shabaa-Farm auf
libanesischem Territorium besetzt. Im Juli 2006 war es dann
offenkundig: die zionistische Aggression wollte den Widerstand im
Libanon brechen.
FRAGE: Mit klammheimlicher Unterstuetzung christlicher und
sunnitischer Kraefte im Land?
FADLALLAH: Nein. Israel hat diesen Krieg im Auftrag der USA gefuehrt,
nicht fuer irgendwelche Parteien oder Kraefte im Libanon. Freilich gab
es vor allem von Seiten Walid Dschumblatts (dem Drusenfuehrer, HH)
Druck auf die Hizbollah und auch politische Kampagnen, die uns zum
Einlenken bewegen sollten. Wir hielten stand. Und eine Umfrage mitten
im Krieg hat gezeigt, dass 77% aller Libanesen den von der Hizbollah
gefuehrten Widerstand unterstuetzt haben.
FRAGE: Gab es auch andere Kraefte, die gegen die israelische
Aggression ins Feld zogen?
FADLALLAH: Mit uns waren Brigaden der Amal-Milizen, der Kommunisten
und der Moslembrueder. Aber die Mehrheit der Kaempfer kam aus den
Reihen der Hizbollah.
FRAGE: Hizbollah gilt in Westeuropa als verlaengerter Arm des Iran im
Nahen Osten. Was sagen Sie dazu?
FADLALLAH: Wir sind eine libanesische Kraft, die sich fuer Loesungen
sozialer Probleme hier einsetzt. Gleichzeitig haben wir eine tiefe
politische und religioese Allianz mit dem Iran, dessen Revolution uns
alle beeinflusst hat. Finanzielle und militaerische Unterstuetzung
diskutieren wir nicht oeffentlich.
FRAGE: Wie sind die Beziehungen der Hizbollah zu den Palaestinensern,
sowohl zu jenen, die als Fluechtlinge im Libanon leben als auch zu den
grossen politischen Gruppen Fatah und Hamas. Koennen sich schiitische
mit sunnitischen Moslems vertragen?
FADLALLAH: Fuer uns stellt das keinerlei Problem dar. In den
palaestinensischen Fluechtlingslagern geniesst die Hizbollah grosse
Popularitaet. Auf nationaler Ebene steht uns die Hamas naeher als die
Fatah, aber wir mischen uns in innerpalaestinensische Belange nicht
ein und stellen uns keineswegs gegen Praesident Abbas.
FRAGE: Der libanesische Verteidigungsminister war kuerzlich in
Washington und ist von dort mit zwei Antworten zurueckgekommen. Die
USA sehen in der Hizbollah keinen Gespraechspartner sondern eine
Terrororganisation, und Washington will die Bewaffnung der
libanesischen Armee verbessern. Richtet sich das auch militaerisch
gegen die Hizbollah?
FADLALLAH: In die libanesische Armee haben wir ein tiefes Vertrauen.
Gleichzeitig ist natuerlich klar, dass die US-Waffen nicht fuer den
Widerstand gedacht sind. Washington handelt nicht im Interesse des
libanesischen Volkes.
FRAGE: Ein Waffenstillstand garantiert derzeit relative Ruhe. Wie
stellt sich die Hizbollah einen moeglichen Umgang mit dem Staat Israel
in Zukunft vor?
FADLALLAH: Unsere Aufmerksamkeit widmen wir dem Libanon. Wir
verteidigen unser Land. Was Palaestina betrifft, so werden wir Israel
niemals anerkennen. Seit der Besetzung und Vertreibung des Jahres 1948
spielt Israel eine destruktive Rolle in der Region. Wir betrachten es
als illegitime Einheit.
FRAGE: In welcher Hinsicht ist die Hizbollah neben ihrer
militaerischen und politischen Schlagkraft auch eine soziale
Organisation? Was wird von ihr betrieben?
FADLALLAH: Wir haben ein Netzwerk sozialer Institutionen aufgebaut.
Dieses ist nicht gratis verfuegbar, je nach den Moeglichkeiten des
einzelnen werden dafuer Kosten eingehoben. Wer keine Mittel hat,
bekommt beispielsweise medizinische Hilfe entgeltlos. Wir haben uns
zum Ziel gesetzt, die Lebensverhaeltnisse in den armen Quartieren zu
verbessern. Gleichzeitig wissen wir, dass das ohne staatliche Hilfe im
grossen Stil nicht machbar ist, weshalb unsere politische Forderung
nach einer gerechteren Sozialpolitik bestehen bleibt.
FRAGE: Wir haben von so genannten Maertyrer-Institutionen gehoert, die
von Hizbollah unterstuetzt werden. Was kann man sich darunter
vorstellen?
FADLALLAH: Die Angehoerigen getoeteter Kaempfer des Widerstands werden
von uns grosszuegig unterstuetzt. Die Maertyrerorganisation ist eine
selbstaendige Nichtregierungsorganisation, die ihre Mittel aus dem
Iran erhaelt; sie ist selbst Teil der iranischen
Maertyrerorganisation.
FRAGE: Was unternimmt die Hizbollah in Richtung Bildungspolitik?
FADLALLAH: Unsere Al Mahdi-Schule bietet Unterricht fuer jene
Menschen, die sich teure Schulen nicht leisten koennen. Nicht nur
Schiiten gehen in die Al-Mahdi-Schulen. An 15 Standorten werden etwa
20.000 Studenten unterrichtet, die zwischen sechs und 17 Jahre alte
sind.
FRAGE: Was unterscheidet die Mahdi-Schulen von anderen Schulen?
FADLALLAH: Neben dem einfacheren Zugang fuer Arme ist es die
religioese Erziehung, der wir erhoehte Aufmerksamkeit schenken.
Daneben werden wie ueberall sonst auch Fremdsprachen und alle
ueblichen Faecher gelehrt.
FRAGE: Wuerden Sie Hizbollah als sozialpolitisch links definieren?
FADLALLAH: Unser Draengen auf ein Ende der herrschenden liberalen
Politik muendet in die Forderung, einen sozial fairen Staat zu
kreieren. Das inkludiert ein gerechteres Steuersystem, Schutz vor
Arbeitslosigkeit, soziale Versicherungsgarantien und Zugang zu
oeffentlichen Schulen und Universitaeten fuer jedermann. Auch der
daniederliegende Agrarsektor muss staatlicherseits unterstuetzt
werden, um die Abhaengigkeit von Importen zu reduzieren. Gleichzeitig
stellen wir uns nicht gegen ein freies Wirtschaftssystem. Wir wollen
eine soziale Marktwirtschaft, die freie oekonomische Subjekte kennt.
Danke fuer das Gespraech. ###
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Kasten:
> Die Hisbollah
Die "Partei Gottes" ist eine libanesische Organisation, deren Fuehrer
Hassan Nasrallah ist. Sie entstand als paramilitaerische Organisation
ab 1982 durch den Zusammenschluss verschiedener schiitischer Gruppen
beim Widerstand gegen die damalige israelische Invasion.
Ueber den Charakter der Hisbollah herscht Uneinigkeit: Die Bandbreite
reicht von gewagten Vergleichen mit dem Republikanischen Schutzbund
der oesterreichischen Zwischenkriegszeit bis hin zur Einschaetzung als
islamistische Terrororganisation. Letztere teilen die USA und Israel.
Der EU fuehrt hingegen die Hisbollah in ihrer beruechtigten Liste von
Terrororganisationen nicht an.
Die Hisbollah hat zwar nach den 9/11-Ereignissen terroristischen
Methoden abgeschworen, wird aber noch derartiger vereinzelter Aktionen
aus der Zeit nach 2001 bezichtigt.
Anm.d.Red.: Der Abdruck des obstehenden Interviews, das wir der
Homepage der Antiimperialistischen Koordination entnommen haben, soll
keine affirmative Haltung gegenueber dieser Organisation ausdruecken.
Dieser Hinweis sollte zwar obsolet sein, da es aber gerade bei linken
Publikationen diesbezueglich oft zu Missverstaendnissen kommt,
erschien er uns als notwendig.
Quelle des Interviews:
http://www.antiimperialista.org/content/view/6132/52/
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