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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 24. Maerz 2009; 19:41
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Glosse:
> Bericht von einer realen Krise
Kommentar eines untypischen AHS-Lehrers
Es sind ja keine Fabriken in die Luft geflogen und es gab auch keine 
gravierenden Ernteausfaelle. Die Finanzkrise ist also lediglich eine 
virtuelle, d.h. in irgendwelchen Computern sind auf irgendwelchen 
Festplatten die magnetischen Bits unguenstig ausgerichtet.
Genauer: unguenstig fuer die, die keinen Zugriff auf diese Computer 
haben. Es handelt sich "lediglich" um eine Umverteilung von unten nach 
oben, wenn auch um eine selten brutale. Und natuerlich hat diese 
virtuelle Krise ganz reale Auswirkungen, unter anderem die ganz reale 
Krise im Bildungsbereich:
Waehrend Elisabeth Gehrer mit ihren Stundenverkuerzungen (die in der 
AHS ungefaehr einem 1/2 Schuljahr entsprechen) direkt auf die Kinder 
losging und damit indirekt natuerlich auch auf uns LehrerInnen, geht 
die aktuelle Ministerin direkt auf uns LehrerInnen los und damit 
indirekt auf die SchuelerInnen. Das gehoert argumentiert:
Claudia Schmieds Vision ist die Einfuehrung einer gemeinsamen Schule 
fuer die 10-14(15)-Jaehrigen. Das ist auch meine Vision, auch wenn ich 
nicht sicher bin, ob die Umwandlung eines zweigliedrigen Schulsystems 
in ein dreigliedrigess (Hauptschule, Neue Mittelschule, AHS) ein 
vernuenftiger Weg ist, um zum eingliedrigen System zu gelangen. (Ich 
haette an ihrer Stelle versucht, die Gesamtschule in Vorarlberg 
flaechendeckend einzufuehren. Bei einem Erfolg haette sich die 
Maechtigen dieses Landes outen muessen, was ihnen die Bildung in ganz 
Oesterreich wert ist. Auch die Finnen haben die Gesamtschule von 
Norden nach Sueden eingefuehrt, warum also wir nicht von Westen nach 
Osten?)
Claudia Schmied moechte die LehrerInnen mehr in der Schule haben. Das 
halte ich fuer paedagogisch sinnvoll.
Ich weiss, dass ein nicht geringer Teil meiner KollegInnen dagegen 
ist, mehr Zeit in der Schule zu verbringen. Ein guter Grund dafuer ist 
der (bauliche) Zustand unserer Schulen. Es waere unzumutbar und 
muesste vom Arbeitsinspektorat verboten werden, saemtliche unserer 
Taetigkeiten, wie z.B. Korrekturen, Vor- und Nachbereitungen in die 
Schule verlegen zu muessen.
Unser Dienstgeber ist heilfroh, dass wir z.B. unsere privat gekauften 
Computer und ein halbes Zimmer unserer Wohnung fuer unsere Arbeit 
einsetzen.
Aber wie gesagt: Prinzipiell bin ich dafuer, dass wir LehrerInnen mehr 
Zeit in der Schule verbringen und damit mehr Moeglichkeiten haben, 
unsere SchuelerInnen auch ausserhalb des Regelunterrichtes zu treffen.
Die Mehrheit der AHS-LehrerInnen ist auch gegen die Einfuehrung der 
Gesamtschule vor allem mit dem Argument (wenn sie halbwegs ehrlich 
sind): "Zugegeben, es ist ein Privileg mit den SchuelerInnen, die 
einen guten Rueckhalt zu Hause haben unter besseren Bedingungen um 
mehr Geld zu arbeiten, aber dieses Privileg haben wir uns im 
Unterschied zu den PflichtschullehrerInnen durch unser Studium an der 
Universitaet verdient."
Ich wurde schon von meiner (AHS)-Gewerkschaft fuer mein Eintreten fuer 
die Gesamtschule kritisiert, da ich die Interessen der KollegInnen zu 
vertreten haette, die mich gewaehlt haben.
Es ist der Exministerin Gehrer zu verdanken, dass die gemeinsame 
akademische Ausbildung der LehrerInnen aller Schultypen durch die 
Einfuehrung der paedagogischen Hochschule vorerst nicht auf der 
Tagesordnung steht, aber es ist doch zu hoffen, dass wir auch in 
Oesterreich irgendeinmal den Weg in die bildungspolitische Steinzeit 
verlassen. Dann wuerde das Argument mit dem wertvolleren Titel 
wegfallen und alle Unterrichtenden haetten einen vergleichbaren 
Anspruch auf eine adaequate Bezahlung.
Ich denke, dass ich den bildungspolitischen Wahnsinn der Exministerin 
Gehrer nicht naeher argumentieren muss: Sie hat mit dem Argument, die 
SchuelerInnen zu entlasten, eine brutale Stundenkuerzungen 
vorgenommen, die in vermehrten Ausmass zu Ein-Stunden-Faechern 
gefuehrt haben. Ich kenne eine Kollegin, die im vorigen Jahr deshalb 
325 SchuelerInnen zu unterrichten hatte. Und wie hat die das mit dem 
differenzierten Unterricht gemacht? Naja, sie hat (nicht in allen 
Klassen, sonst waere sie jetzt in einer anderen Anstalt) die Schueler 
Portfolios anlegen lassen, in denen sie ihren individuellen Zugang zum 
Thema erarbeiten konnten und ist dann naechtelang ueber diesen 
Portfolios gesessen, hat sich auf die konkrete Person eingelassen und 
so individuell betreut. Jetzt hat sie ein Jahr unbezahlten Urlaub 
nehmen muessen. Ihr duerft einmal raten, warum. Die Aktionen von 
Elisabeth Gehrer, die direkt auf Einsparungen zu Lasten der 
SchuelerInnen abgezielt haben, haben sich auf solche und aehnliche Art 
indirekt auch gegen uns LehrerInnen gerichtet.
Unsere aktuelle Ministerin geht einen anderen Weg: Sie schlaegt uns 
vor, unsere Arbeit "umzustrukturieren", also den Schluessel 1 
Unterrichtsstunde : 1 Vor- bzw. Nachbereitungsstunde (der nebenbei 
gesagt nicht stimmt, aber das wuerde zu weit ins Detail gehen) zu 
aendern. Im Klartext heisst das: "Reduziert eure Taetigkeit ausserhalb 
der Klasse, also akzeptiert eine Qualitaetsminderung eurer Arbeit oder 
arbeitet einfach mehr. Um den Qualitaetsstandard zu halten, bedeutet 
das eine Erhoehung der Arbeitszeit um 10 %."
Vielleicht wird der Unterricht nicht so leiden, weil die KollegInnen 
eher ihre Taetigkeiten, die ueber den Unterricht in den Klassen 
hinausgehen, wie z.B. Projekte, die eine arbeits- und zeitintensive 
Vorbereitung erfordern, einstellen oder indem sie sich weigern 
permanent an der Entwicklung neuer Konzepte, vielleicht nicht 
unbedankt aber auf jeden Fall unbezahlt, zu arbeiten oder indem sie 
schlicht und einfach lediglich festhalten, ob eine Hausuebung richtig 
oder falsch gemacht ist, sich aber nicht mehr bemuehen, den 
SchuelerInnen individuelles Feed back zu geben.
Das Argument, dass wir LehrerInnen bei einer Erhoehung der 
Lehrverpflichtung mehr Zeit mit
den Kindern und Jugendlichen verbringen wuerden, war intellektuell 
schon nahezu peinlich.
Wir wuerden nicht mehr Zeit mit den Kindern, sondern mit mehr Kindern 
die Zeit verbringen, was die Qualitaet der Betreuung natuerlich senken 
wuerde.
Kaum zu glauben, dass irgendwer auf diese Argumentation reinfaellt. 
War aber so in einer Diskussion im ORF2, als ein Elternvertreter der 
Pflichtschulen gebetsmuehlenartig genau diese Logik vertrat.
Ich kenne junge engagierte KollegInnen, die auf dem Zahnfleisch gehen, 
weil sie noch wenig Erfahrung haben und ihre Arbeit noch nicht optimal 
organisieren koennen.
Ich werde jetzt 61 Jahre alt und merke, dass ich langsamer werde. Samt 
meiner Erfahrung gehe ich auch manchmal auf dem Zahnfleisch.
"Oba die Obezahrer!" Ja, die gibt's und die wuerden am wenigsten unter 
der Erhoehung der Lehrverpflichtung leiden, wenn sie auf eine weitere 
Klasse losgelassen werden.
Die Kontrolle der Qualitaet des Unterrichtes waere einen eigenen 
Artikel wert. Nur eins sei dazu geschrieben: In einer Schule, die sich 
zu Recht Gesamtschule nennt, arbeiten die LehrerInnen im Team und die 
Arbeit jedes Einzelnen wirkt sich auf die Arbeit der anderen aus. Da 
faellt es dann auf, wenn einer seine Arbeit nicht ordentlich erledigt.
Ich persoenlich glaube, dass die Zukunft einer guten Schule eine 
Gesamtschule, die ganztaegig gefuehrt werden muss, sein wird. Das wird 
etwas kosten. Und das muss es uns wert sein.
Und in dieser Schule werden die LehrerInnen viel mehr Kontakt zu den 
SchuelerInnen haben, als jetzt. Aber das ist etwas ganz anderes als "2 
Stunden laenger in den Klassen zu stehen", wie das unsere Ministerin - 
sich durch diese Formulierung ja selbst entlarvend - formuliert hat.
Tja unsere Ministerin! Ein guter Freund hat mir einmal erklaert, dass 
ich PolitikerInnen nur dann verstehen kann, wenn ich beruecksichtige, 
dass sie mies UND dumm sind. Ich glaube, dass Claudia Schmied weder 
das eine noch das andere ist. Zumindest angetreten ist sie mit guten 
Ansaetzen.
Nur: Sie ist Mitglied einer Partei, die sich den Spruch "Wer hat uns 
verraten, Sozialdemokraten" wieder einmal mehr als redlich verdient. 
Wenn sie meint, was sie sagt, ist das ein Beweis dafuer, dass sie vom 
Schulbetrieb noch immer keine Ahnung hat. Sie haette zum Beispiel den 
Umbau in meiner Schule, dem Bernoulligymnasium, der in keiner Weise 
Unterrichtsformen beguenstigt, die sie angeblich anstrebt, niemals so 
zulassen duerfen.
Sie hat sich in eine Position draengen lassen, in der sie nur mehr 
zuruecktreten kann, wenn sie nicht mies agieren will.
Der Widerstand: Er beginnt sich zu regen. Auf den 
Dienststellenversammlungen am 12.Maerz haben sich im Schnitt 95% der 
KollegInnen fuer gewerkschaftliche Massnahmen bis zum Streik 
ausgesprochen. Als langjaehriges Gewerkschaftsmitglied weiss ich aber, 
dass das noch lange nicht heisst, dass sich die Gewerkschaft letzten 
Endes zu einem unbefristeten Streik durchringen wird. Und das wissen 
auch die anderen.
Aber immerhin
....haben wir uns im Bernoulligymnasium bereits einmal mit den Eltern 
getroffen und ein schuechternes Pflaenzchen der Solidaritaet gesetzt.
....haben sich die verschiedenen Lehrergewerkschaften bisher nicht 
auseinander dividieren lassen und signalisieren gemeinsamen 
Widerstand.
....beginnen wir zu ueberreissen, dass es nicht nur gegen die 
LehrerInnen sondern gegen den oeffentlichen Dienst schlechthin geht 
und nicht nur gegen den.
Am 28. Maerz werden wir ja bei der Demonstration unter dem Motto "Wir 
zahlen nicht fuer eure Krise" ja sehen, wie sehr es uns gelungen ist, 
unsere Gemeinsamkeiten zu kapieren.
P.S. Ich bin kaum auf die Argumente, die (leider auch von unserer 
Unterrichtsministerin) in den Boulevard-Zeitungen verbreitet werden, 
eingegangen, erstens weil dann der Kommentar noch laenger geworden 
waere und zweitens weil ich die LeserInnen der AKIN nicht 
unbeabsichtigt beleidigen wollte. Ich wuerde mich aber ueber 
Gegendarstellungen freuen, auf die ich dann gerne eingehen wuerde. Es 
lebe die AKIN als Diskussionsforum.
P.P.S. Da ich AHS-Lehrer bin, habe ich aus der Sicht eines 
AHS-Lehrers geschrieben und es waere toll, wenn sich auch ein 
Pflichtschullehrer oder eine Lehrerin aeussert. Nur ein kleines 
furchtbares Detail am Rande. Die Gruppe der ErzieherInnen, die von 
dieser Erhoehung betroffen waeren, muessten in Zukunft statt 40 
Stunden nicht 44 sondern 47 (in Worten siebenundvierzig) Stunden in 
der Woche arbeiten.
*Kurt Winterstein*
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