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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 10. Maerz 2009; 18:00
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Brasilien:

> Lulas Aera geht dem Ende zu - Eine kritische Bilanz

Luiz "Lula" da Silvas zweite Amtszeit geht naechstes Jahr zu Ende.
Eine gute Gelegenheit, ernsthaft und kritisch seine Jahre als
Praesident Brasiliens zu bilanzieren.
*

Lula schaffte erst 2002 -- nach einigen erfolglosen Anlaeufen -- die
Praesidentschaft. Obwohl sein Wahlprogramm ziemlich gemaessigt war,
war der Sieg das Ergebnis einer massenhaften Mobilisierung "von
unten". Gewerkschaften -- besonders CUT und der Landlosenbewehung
MST -- bzw. die sozialen Bewegungen hatten sich fuer ihn maechtig ins
Zeug gelegt.

Dementsprechend gab es sehr viele Hoffnungen auf eine grundsaetzliche
Aenderung der Gesellschaft -- etwa einer tiefgehenden Agrarreform.
Lula daempfte von Anfang an solche Bestrebungen. In der Agrarfrage
etwa ging er "gespalten" vor. Das wichtigere Agrarministerium wurde
mit einem direkten Repraesentanten der Agro-Exportindustrie besetzt,
fuer die Agrarreform wurde bloss ein Staatssekretariat geschaffen und
mit einem bekannten Linken (Rossetto) besetzt.

Alle inhaltlichen Abschwaechungen des urspruenglichen PT-Programms,
und "politisch gewagte" Buendnisse (mit Rechten) wurden mit dem
Argument gerechtfertigt, dass man ja im Parlament und erst recht in
der zweiten Kammer, dem Senat, keine Mehrheit habe.

Diese Argumentationsmuster wurde bis auf die einzelnen Bundestaaten
runterdekliniert und fuehrte zu Koalitionen selbst mit reaktionaeren
Kraeften. Dies war uebrigens ein wichtiger Grund fuer den Ausschluss
bzw. das Rausgehen vieler Linken aus der PT (und fuehrte u.a. zur
Gruendung der Psol, des bedeutendsten politischen Ansatzes links von
der PT).

Ich moechte in diesem Zusammenhang auf eine nicht unwichtige
"Stil"frage verweisen. Kurz nach dem Wahlsieg Lulas war Anfang 2003
das 3.WSF in Porto Alegre. Lula kam zur Eroeffnungsfeier und bedankte
sich bei "seinen" WaehlerInnnen. Aber er erging sich auf breiten
Strecken seiner Rede in allgemeinen Phrasen. Vor allem gab es keinen
konkreten Appell zur Fortsetzung und Intensivierung der
Mobilisierungen. Gerade der waere jedoch wichtig gewesen. Man hatte ja
schliesslich nur Wahlen gewonnen, die extrem muehsame Aenderung der
oekonomischen, sozialen und politischen Machtverhaeltnisse stand
jedoch weiter an.

Als Lula 2006 dann zum zweiten Mal antrat, bevorzugten entscheidende
Teile der Bourgeoisie ihn und NICHT den buergerlichen Kandidaten: in
der meinungspraegenden linksliberalen Tageszeitung" Folhio de Sao
Paolo" zum Beispiel gab es reihenweise diesbezuegliche Aufrufe und
Kommentare. Der Tenor dieser statements war "Lula steht fuer keine
Experimente". Lulas Kurs eines "starken Brasiliens" kam diesen
weiterdenkenden Teilen des Buergertums entgegen, mit Lula konnten die
Gewerkschaften -- insbesonders die CUT -- bei der Stange gehalten
werden...

Kleine Verbesserungen -- unerledigte grosse Brocken

Bilanziert man differenziert die "richtungsweisenden" Massnahmen der
Regierungen Lula I und II so lassen sich folgende Punkte festhalten:

- die "bolsa familia" wurde eingefuehrt und der Geltungsrahmen
kuerzlich auf mehr Familien ausgeweitet. Die prekaere Situation der
armen Massen konnte dadurch freilich nicht geaendert werden. Die
BezieherInnen der bolsa haengen sozusagen am Tropf der Sozialhilfe:
Auf dem Weltsozialforum in Belem hat sie der MST-Sprecher Egid als
"Anaesthesie der Gehirne" charakterisiert ).

- in der Aussenpolitik gab es die meisten fortschrittlichen Akzente --
ein gewisses Einsetzen fuer Cuba, Solidaritaet mit Morales und Chavez
. Die "guten Beziehungen" zur Bush-Administration wurden jedoch stets
herausgestrichen.

- in der Aussen-Wirtschaftspolitik wurden einige Akzente gesetzt:
Mitarbeit im Mercosur, aber kaum Forcierung von ALBA. Die Verstaerkung
der oekonomischen Kontakte mit Laendern der "Dritten Wel " wie Indien
oder China ist zweifelsohne interessant. Aber der Umfang dieses
Handelsvolumens ist recht bescheiden. Er reicht in keiner Weise an die
nach wie entscheidende Rolle der Wirtschaftsbeziehungen mit
imperialistischen Laendern wie den USA heran.

In der zentralen Agrarfrage ist kaum etwas weitergegangen. Nach wie
vor gibt es Ermordungen von landlosen Bauern, die Boden besetzen oder
einfach den Grossgrundbesitzern bzw. dem Agrobusiness" im Weg sind.
Der MST kommt jetzt sogar wegen seiner mobilen Schulen unter
politischen Druck (1). Allerdings nimmt auch der MST
allgemeinpolitisch gegenueber Lula eine "lavierende" Haltung ein --
und zwar nicht nur wegen der finanziellen Abhaengigkeit vieler
Projekte von der Zentralregierung bzw. von Administrationen der
Bundesstaaten: oft ist verbale Kraftmeierei gegenueber den Regierungen
mit einer passiven, zynischen Haltung gegenueber politischen Ansaetzen
links von der PT verbunden.

Brasilien und die Globale Krise des Kapitalismus

Angesicht der -- mittlerweilen dramatischen -- globalen Krise des
Kapitalismus haben Lula, sein Kabinett und das PT-Establishment zuerst
auf typisch sozialdemokratische Manier reagiert. Die Krise wurde
kleingeredet: "Brasilien steht besser da -- es gibt ohnedies Pac" (das
2007 ins Leben gerufene staatliche "Wachstumsprogramm").

Heute kann allerdings um die bittere Wahrheit der Krisenrealitaet kein
Umweg gemacht werden. Die Industrieproduktion ist im Dezember um 12%
eingebrochen. Selbst renommierte Firmen wie Philips in Pernambuco
entlassen MitarbeiterInnen. In anderen Branchen ist die Lage aehnlich.

Der Staat versucht nun verstaerkt selbst in die Bresche zu springen:
milliardenschwere Hilfen fuer Banken, Ausdehnung des Volumens von PAC
oder durch Mehrinvestitionen des Erdoelkonzerns Petrobras, der sich in
oeffentlicher Hand befindet (2).

Es ist jedoch mehr als fraglich, ob ein "brasilianischer"
Neokeynesianismus mehr greifen soll, als der Staatsinterventionismus
in anderen Laendern. Die "Hilfe von oben" fuer den kriselnden
Kapitalismus verfehlt bislang selbst in den hochindustrialisierten
Laendern die noetige Wirkung und Brasilien kann bestenfalls als
"Schwellenland " charakterisiert werden.

Strategische Defizite

Geht man mit offenen Augen durchs Land -- ich hatte durch meine Fahrt
zum Weltsozialforum in Belem fast 3 Wochen die Gelegenheit dazu --,
liest die wichtigsten Zeitungen und spricht vor allem mit vielen
Menschen, kann man vorsichtig folgendermassen resumieren.

Unter Lula hat es einige Reformen, Verbesserungen fuer die Masse der
Bevoelkerung gegeben, groessere Veraenderungen blieben jedoch aus.
Forciert wurde die Exportindustrie, Binnenmarktstaerkung erfolgte nur
sehr selektiv. In oekologischen Fragen herrscht eine starke
Unsensibilitaet (Umleitung des Rio San Francisco; weitgehende Freigabe
Amazoniens fuer Kapitalinteressen; ....). Die Landfrage wurde nicht
angegangen. Die Grossgrundbesitzer-Kaste sitzt wie eh und je fest im
Sattel.

Aber auch die alten konservativen politischen Strukturen sind
weitestgehend erhalten. Im Senat wie in der ersten Kammer stellen
Buergerliche den Praesidenten.

Gerade wenn man realistischerweise davon ausgeht, dass Brasilien eine
spezielle politische Struktur hat, waere eine andere, kaempferische
Vorgangweise noetig gewesen. (Brasilien hat sich nicht wie etwa Mexico
via Revolution vom kolonialen "Mutterland" getrennt, sondern der
portugiesische Hof floh zu Tausenden vor Napoleon in die Kolonie und
das Land erklaerte sich in der Folge von Lissabon unabhaengig -- ein
"reformismo", der das Land tief gepraegt hat und in vielem noch heute
zu erkennen ist (3))

Selbst eingefleischte PTlerinnen meinen, dass Dilma Rousseff, die von
Lula auserkorene Spitzenkandidaten fuer die Praesidentanwahlen 2010
"alles andere als ideal" ist, ein PT-Erfolg daher keineswegs als
sicher gilt.

Es droht also -- mit oder ohne buergerlichem Comeback 2010 -- ein
"Versanden" der Hoffnungen. Aehnlich wie in Suedafrika, wo es sogar
einen jahrzehntelangen bewaffneten Befreiungskampf des ANC gegeben
hat.

Die Schuld in Suedafrika wie in Brasilien ist NICHT kurzschluessig in
"Verrat" zu sehen. Es ist vor allem die strategische
Unzulaenglichkeit, die in die Defensive gefuehrt hat: Orientierung am
Neoliberalismus, Unterordnung der Partei- und Bewegungsinteressen
unter die Regierungslinie, weitgehender Verzicht auf Mobilisierungen
und Kampfmassnahmen, um real die Kraefteverhaeltnisse zu aendern.
*Hermann Dworczak*


(1) Aktuell laeuft ein MST-Solidaritaets-Kampagne (siehe
Extra-Aussendung im heutigen akin-pd)
(2) Andreas Novy, Die Rueckkehr des Entwicklungsstaats, in :
Lateinamerika Anders Nr. 1 Februar 2009 S. 6 f.
(3) Patrick Wilcken, Imperio a deriva. A corte portuguesa no Rio de
Janeiro 1808-1821. Objetiva Rio de Janeiro 2005.



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