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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 13. Jaenner 2009; 18:39
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Israel/Palaestina/Kommentar:
> Der Wahlkampfkrieg
Mit der Bombardierung der palaestinensischen Bevoelkerung und mit dem 
Truppeneinmarsch in Gaza folgt die israelische Regierung einem 
Konzept, das bisher nie aufging. Und das auch diesmal kaum aufgehen 
wird.
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«Israel muss sich gegen die Raketen verteidigen, die unsere suedlichen 
Staedte terrorisieren», verkuendeten israelische Sprecher. «Die 
Palaestinenser muessen auf das Toeten ihrer Kaempfer reagieren», 
erklaerten Hamas-Sprecher. Und alle Welt spricht von einer Feuerpause, 
die es nie wirklich gegeben hat.
Das Wichtigste an einer Feuerpause im Gazastreifen haette die Oeffnung 
der Grenzuebergaenge sein muessen. Ohne einen staendigen 
Versorgungsfluss gibt es im Gazastreifen kein Leben. Aber die 
Grenzuebergaenge waren - abgesehen von ein paar Stunden - nicht 
geoeffnet. Die Blockade des Gazastreifens mit seinen anderthalb 
Millionen Menschen ist eine Kriegshandlung, genauso schlimm wie Bomben 
und Raketen. Sie laehmt das Leben: Sie zerstoert Einkommensgrundlagen 
und bringt Hunderttausende an den Rand des Hungers, Krankenhaeuser 
hoeren auf zu funktionieren, Strom und Wasserzufuhr sind unterbrochen.
Der Vorwand
Wer die Schliessung - egal unter welchem Vorwand - befohlen hat, 
wusste, dass es unter diesen Umstaenden keine wirkliche Feuerpause 
geben konnte. Hinzu kamen kleine Provokationen. So wurde nach mehreren 
Monaten, waehrend deren kaum Kassam-Raketen abgefeuert worden waren, 
eine israelische Armee-Einheit in den Gazastreifen gesandt, um «einen 
Tunnel zu zerstoeren, der nah an den Grenzzaun» herankam. Aus rein 
militaerischer Sicht waere das Legen eines Hinterhalts auf 
israelischer Seite sinnvoller gewesen. Aber das Ziel war, einen 
Vorwand fuer die Beendigung der Feuerpause zu finden - und zwar auf 
solche Weise, dass den PalaestinenserInnen die Schuld dafuer gegeben 
werden konnte. Und tatsaechlich: Nach mehreren solchen kleinen 
Aktionen, bei denen Hamas-Kaempfer getoetet wurden, raechte sich die 
Hamas mit massivem Raketenbeschuss. Die Feuerpause war beendet, und 
siehe da: Alle gaben der Hamas die Schuld.
Was aber war das Ziel? Die israelische Aussenministerin Tsipi Livni 
verkuendete es offen: die Beseitigung der Hamas-Herrschaft im 
Gazastreifen. Die Kassam-Raketen dienten nur als Vorwand. Dabei ist es 
kein Geheimnis, dass die israelische Regierung die Hamas anfaenglich 
mit aufbaute. Als ich einmal Yacob Peri, einen frueheren Chef des 
israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, dazu befragte, gab er 
die raetselhafte Antwort: «Wir haben sie nicht geschaffen, aber wir 
behinderten auch ihre Entstehung nicht.»
Jahrelang haben die israelischen Behoerden die islamische Bewegung in 
den besetzten Gebieten klar beguenstigt. Waren andere politische 
Aktivitaeten hart unterdrueckt, konnte die islamische Bewegung in den 
Moscheen frei arbeiten. Das Kalkuel war einfach und naiv: Damals wurde 
die Palaestinensische Befreiungsorganisation PLO als Hauptfeind 
betrachtet, Jassir Arafat war der Satan. Die islamische Bewegung 
predigte gegen die PLO und gegen Arafat und galt daher als 
Verbuendete.
Mit dem Ausbruch der ersten Intifada 1987 nahm die islamische Bewegung 
offiziell den Namen Hamas an und schloss sich dem Kampf an. Selbst 
dann unternahm der Schin Bet fast ein Jahr lang nichts gegen sie, 
waehrend Mitglieder der groessten PLO-Fraktion Fatah in grosser Zahl 
exekutiert oder verhaftet wurden. Erst nach einem Jahr wurden auch 
Hamas-Mitgruender Scheich Ahmed Jassin und seine Kollegen verhaftet.
Mittlerweile ist die Hamas der Satan. Eine wirklich an Frieden 
interessierte israelische Regierung haette der Fatah-Fuehrung und den 
PalaestinenserInnen weitreichende Zugestaendnisse gemacht. Sie haette 
die Besatzung beendet, einen Friedensvertrag unterzeichnet, die 
Gruendung eines palaestinensischen Staates akzeptiert, sich auf die 
Grenzen von 1967 zurueckgezogen, einer vernuenftigen Loesung fuer das 
Fluechtlingsproblem zugestimmt, die Gefangenen entlassen. All das 
haette der Hamas Einhalt geboten.
Doch nichts davon geschah - im Gegenteil. Nach dem Mord an Arafat* 
nannte der damalige israelische Premierminister Ariel Scharon den 
Arafat-Nachfolger Mahmud Abbas ein «gerupftes Huhn». Der 
glaubwuerdigste Fatah-Fuehrer Marwan Barghuti wurde auf Lebenszeit ins 
Gefaengnis geschickt; statt einer grosszuegigen Gefangenenentlassung 
gab es belanglose und beleidigende «Gesten»; Abbas wurde systematisch 
gedemuetigt. Und die Hamas errang bei den palaestinensischen Wahlen 
2006 - den demokratischsten Wahlen, die je in der arabischen Welt 
abgehalten wurden - einen ueberwaeltigenden Sieg. Israel boykottierte 
die gewaehlte Regierung. Beim folgenden internen Kampf gewann die 
Hamas die Macht im Gazastreifen.
Achtzig Tote fuer einen Sitz
Offiziell heisst der laufende Krieg «Gegossenes Blei». Genauer waere 
die Bezeichnung «Wahlkampfkrieg». Militaeraktionen in Wahlkampfzeiten 
(im Februar wird in Israel gewaehlt) haben Tradition: Waehrend des 
Wahlkampfs 1981 liess Ministerpraesident Menachem Begin eine irakische 
Atomanlage bombardieren, im Wahlkampf 1996 befahl Regierungschef 
Schimon Peres eine Invasion des Libanon. Nach Beginn des jetzigen 
Krieges gewann laut Umfragen die Arbeitspartei von 
Verteidigungsminister Ehud Barak innerhalb von 48 Stunden fuenf 
Knessetsitze dazu. Das macht achtzig tote PalaestinenserInnen pro 
Sitz. Aber ein solcher Erfolg kann sich rasch wieder in Luft 
aufloesen: Wenn der Krieg von der israelischen Oeffentlichkeit als 
Fehlschlag betrachtet wird. Oder wenn die Bodenoffensive zu vielen 
israelischen Gefallenen fuehrt.
Der Zeitpunkt wurde auch nach anderen Gesichtspunkten sorgfaeltig 
gewaehlt: Ueber Neujahr sind viele westliche PolitikerInnen in den 
Ferien, ausserdem regiert in Washington immer noch George Bush und 
unterstuetzt den Krieg enthusiastisch. Sein Nachfolger Barack Obama 
schweigt mit dem Vorwand: «Es gibt nur einen Praesidenten.» Sein 
Schweigen laesst fuer seine Amtszeit nichts Gutes ahnen.
Israels Kriegskonzept aehnelt jenem des zweiten Libanonkriegs, dessen 
Fehler - so wird endlos beteuert - nicht wiederholt werden sollen: Die 
zivile Bevoelkerung wird durch unablaessige Luftangriffe terrorisiert, 
was die Piloten nicht gefaehrdet. Wenn die Infrastruktur des 
Gazastreifens voellig zerstoert ist und Anarchie herrscht, so das 
Kalkuel, werde sich die Bevoelkerung erheben und das Hamas-Regime 
stuerzen.
Im Libanon ist diese Rechnung nicht aufgegangen. Dort hat sich die 
bombardierte Bevoelkerung, inklusive der christlichen Minderheit, 
hinter die Hisbollah geschart. Etwas Aehnliches wird auch jetzt 
geschehen.
Das Experiment
Vor einiger Zeit schrieb ich, die Gazablockade sei eine Art 
Experiment: Wie weit kann man eine Bevoelkerung aushungern und ihr 
Leben zur Hoelle machen, bevor sie dem Druck nachgibt? Bisher ist das 
Experiment trotz grosszuegiger Unterstuetzung von Europa und den USA 
nicht gelungen. Die Hamas wurde staerker, die Reichweite der 
Kassam-Raketen nahm zu. Der derzeitige Krieg ist eine Fortsetzung des 
Experiments mit andern Mitteln.
Tag fuer Tag und Nacht fuer Nacht sendet der arabische Kanal von 
Al-Dschasira grauenhafte Bilder: verstuemmelte Leichen, weinende 
Angehoerige; eine Frau zieht unter den Truemmern ihre junge Tochter 
hervor; Aerzte ohne Medikamente versuchen, Verletzte zu retten.
Millionen sehen die Bilder, die sich ihnen fuer immer ins Gedaechtnis 
einpraegen: schreckliches Israel, abscheuliches Israel, unmenschliches 
Israel. Eine ganze Generation von Hassenden wird heranwachsen. Das ist 
der schreckliche Preis, den wir bezahlen werden, wenn die israelische 
Oeffentlichkeit den Krieg laengst vergessen haben wird.
Und noch etwas wird sich tief eingraben: das Bild der erbaermlichen, 
korrupten, passiven arabischen Regime. Und die Mauer der Schande an 
der Grenze zu Aegypten. Hier ist die einzige Oeffnung zur Welt, die 
nicht von Israelis beherrscht wird. Nur von hier koennen 
Nahrungsmittel und Medikamente kommen, doch die aegyptische Armee 
haelt den Durchgang geschlossen.
Dies wird Konsequenzen haben. Die Nachfahren des aegyptischen 
Staatsgruenders Gamal Abdel Nasser und von Jassir Arafat, eine ganze 
von der Idee eines saekularen arabischen Nationalismus beseelte 
Generation, werden von der historischen Buehne gefegt. Uebrig bleibt 
im arabischen Raum nur eine einzige Alternative: die des islamischen 
Fundamentalismus.
(Uri Avnery, WoZ 1/09 / gek.)
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Quelle der dt. Uebersetzung: WoZ
http://www.woz.ch/artikel/2009/nr01/international/17334.html
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*Anm. akin.: Die Behauptung, Arafat waere ermordet worden, liess uns 
stutzig werden, war doch unmitelbar nach dessem Tod im November 2004 
von serioeser Seite derlei nicht behauptet worden. Allerdings 
vermutete bereits im September 2005 die als liberale angesehene 
israelische Tageszeitung Haaretz, dass Arafat an AIDS oder einer 
Vergiftung gestorben waere. Die weitergehenden Recherchen der Haaretz 
ergeben in der Interpretation Avnerys ein Bild, dass eine Vergiftung 
noch am wahrscheinlichsten anzusehen sei. Siehe auch: 
http://zmag.de/artikel/Wer-mordete-Arafat/
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