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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 9. Dezember 2008; 23:30
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Kapitalismus/Reportage:
> Die gestohlene Zeit
Hunderttausenden Handelsangestellten ist das verlaengerte Wochenende
genommen worden, das die anderen Werktaetigen in Oesterreich genossen
haben. Ein Umstand, mit dem sich die Betroffenen arrangiert haben. Wut
fuehlen sie keine. Protestmassnahmen gegen den 8.Dezember liessen sich
heute kaum mehr organisieren.
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Die Verkaeuferin in einer Parfumerie auf der Thaliastrasse bastelt
Weihnachtspaeckchen fuer die Dekoration. Es ist wenig los an diesem
Nachmittag. "Voriges Jahr war es deutlich mehr", erzaehlt eine
Kollegin. Sie wirkt nicht ungluecklich darueber, heute nicht mehr zu
tun zu haben als an einem anderen Wochentag. Dass sie heute arbeiten
muss, wenn alle anderen frei haben? Achselzucken. So ist das eben.
"Wir bekommen es bezahlt". Aehnlich reagiert der stellvertretende
Filialleiter einer Elektrohandelskette in der Gegend. "Ich arbeite am
8. Dezember, seitdem ich fuer diese Firma arbeite. Wir bekommen es
wenigstens bezahlt. Und das zahlt sich aus". Zweihundert Prozent
Zuschlag fuer einen Tag gestohlener Freizeit. "Wenn man daran gewoehnt
ist, ist das kein Problem. Aber wenn sie nicht zahlen wuerden, wuerden
sie niemanden finden, der im Geschaeft steht". Ein pragmatischer
Zugang. Sicher auch erklaerbar durch die nicht gerade ueppigen
Gehaelter im Handel. "Mit dem Geld kommt man einigermassen sicher ins
Neue Jahr. Anfang Jaenner werden ein paar Extrazahlungen faellig,
Versicherungen und so, da ist man ueber jeden Euro froh". Was aus
seiner Sicht auch die langen Einkaufssamstage vor Weihnachten begehrt
macht. "Anders als sonst arbeite ich im Dezember jeden Samstag und die
Ueberstunden fuer die Zeit nach 17 Uhr zahlen sich aus". Dass der
Feiertag zu einem Einkaufstag geworden ist, stellt er nicht infrage.
"Heute muss man offenhalten, auch wenn es sich vielleicht nicht
auszahlt. Sonst macht die Konkurrenz das Geschaeft". Das
Wettbewerbsprinzip, das den Eigentuemern seiner Kette gutes Geld
bringt, hat der stellvertretende Filialleiter verinnerlicht. Was fuer
meinen Chef gut, muss auch fuer mich gut sein. geht's der Wirtschaft
gut, geht's uns allen gut. Dass Billa auf dieses Prinzip pfeift, zeigt
hier keine Wirkung. Auch wenn die Entscheidung des
Lebensmittelhaendlers eher oekonomisch begruendet ist denn mit
uebertriebener Ruecksicht auf die eigenen Angestellten, PR hin oder
her. Dass Billa eine einstweilige Verfuegung der SCS verhindert hat,
seine Filialen dort heute aufzusperren, staerkt den Werbeeffekt. Wobei
es unserioes waere zu behaupten, Billa haette allein aus PR-Gruenden
zu juristischen Mitteln gegen Oesterreichs Shoppingtempel gegriffen.
Der stellvertretende Filialleiter hat Glueck. Nicht alle Ketten gelten
die gestohlene Zeit an den Einkaufssamstagen in Geld ab. Viele nutzen
die Alternative, den Angestellten Zeitguthaben zu geben. "Das sind
komplizierte Regelungen", sagt Kurt Zach von der
niederoesterreichischen Arbeiterkammer. "Da gibt es Zuschlaege von 30
bis 70 Prozent auf die geleistete Zeit, je nachdem, wann konsumiert
wird". Dass das immer so ablaeuft wie vorgeschrieben, kann niemand
garantieren. "Bei uns liegen keine vermehrten Beschwerden wegen der
Einkaufssamstage vor Weihnachten vor, aber solche Ansprueche werden
auch meist erst gestellt, wenn das Arbeitsverhaeltnis beendet ist".
Auf Deutsch: Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verzichten auf
ihre Ansprueche, bevor sie Probleme in der Firma riskieren. Nur, wenn
der oder die Betroffene gehen muss, brechen die Daemme. Das Pech beim
Weihnachtsproblem: Die Ansprueche verlieren nach ein paar Monaten ihre
Gueltigkeit. Wird jemand im Juli gekuendigt, kann er oder sie die
fehlenden Ueberstunden aus dem Weihnachtsgeschaeft nicht mehr
einklagen.
Der Handel ist nicht die einzige Branche, in der es so laeuft. Aber
eine, bei der es laut Gewerkschaft und Arbeiterkammer zu
ueberdurchschnittlich vielen Problemen kommt. Kaum jemand ist bei der
Gewerkschaft, es fehlt das Bewusstsein fuer die eigenen Rechte. Oft
erfahren Handelsangestellte erst bei einer Kuendigungsberatung bei der
Arbeiterkammer, worauf sie Anspruch gehabt haetten. Dass es in den
meist kleinen Betrieben keinen Betriebsrat gibt, traegt das seine dazu
bei. Niemand, der die Kolleginnen und Kollegen staendig aufklaert,
niemand, der bei Problemen im Betrieb vermitteln kann, bevor sie
eskalieren. Und selbst wenn es einen Betriebsrat gibt - der ist oft
weit weg, in der Zentrale und fuer seine Kolleginnen und Kollegen kaum
greifbar. Die dezentrale Struktur ermoeglicht es auch der einen oder
anderen Kette, Druck auf ihre Belegschaft auszuueben um auf ihre
Personalvertretung zu verzichten. Ansprechsstellen wie die
Aussenstelle der Arbeiterkammer in der SCS oder der Gewerkschaft in
der Linzer Plus City sind auch die Ausnahme. Vielleicht weitet der
OeGB diesen Service aus. Selbst wenn wird er aber nur einen Bruchteil
der Betroffenen erreichen koennen. Nicht jeder Handelsangestellte
arbeitet in einem Einkaufszentrum. Andere Organisationsformen sind
logistisch und finanziell kaum bewaeltigbar.
Da ueberrascht die Aussage einer Angestellten bei einer Drogeriekette
wenig. "Heute zahlt es sich nicht aus. Die zahlen das wie jeden
anderen Tag". Einen Ersatz fuer den gestohlenen Tag gebe es auch
nicht. Die Kroatin zweiter Generation ist nachvollziehbarerweise
veraergert, dass sie ihren freien Tag opfern muss. Eher ueberraschend,
wen sie fuer diese Entwicklung verantwortlich macht. "Wir muessen
einen Feiertag opfern. Wenn das so weitergeht, muessen wir auch bald
zu Weihnachten arbeiten. Wenn wir so weitermachen, werden bald die
Moslems das Sagen haben und wir muessen alle eingehuellt herumlaufen",
sagt sie mit Zorn in der Stimme und spielt mit dem grossen Kreuz, das
an ihrer Halskette baumelt. Nicht die Firmeneigentuemer sind schuld,
die mit moeglichst geringen Kosten moeglichst viel Gewinn
erwirtschaften wollen. Es sind die "Anderen" - auch wenn die
nachweislich nichts mit dem 8. Dezember zu tun haben. Wenn sich die
Frau die fehlenden Zuschlaege einfordert oder auf ihrem Recht besteht,
nicht zur Arbeit am 8. Dezember arbeiten zu muessen, riskiert sie
ihren 20-Stunden-Job. Tuerkische Mitbuergerinnen und Mitbuerger, oft
genug in der gleichen oekonomischen Situation und noch oefter in einer
noch schlechteren, haben dieses Drohpotential nicht. Ueber diese sich
aufzuregen, ist eine sichere Angelegenheit. Viel Reflexion erfordert
das auch nicht. Sie ist kein Einzelfall. Die Saat der FPOe und des
Vatikan geht auf. Solidaritaet und das gemeinsame Vertreten
gemeinsamer Interessen war gestern. Der Schrei nach Nation und Rasse
ertoent wieder.
*Viktor Englisch*
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