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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 11. November 2008; 19:50
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Serbien:

> Selbstorganisierte Arbeiter

Zwischen September 2007 und Maerz 2008 besuchten Isa Fremaux und John
Jordan 12 antikapitalistische und selbstverwaltete Utopien in Europa,
um zu zeigen, dass es nicht nur moeglich ist, trotz des Kapitalismus
zu leben, sondern dass es sogar schoen und bereichernd sein und
Denkanstoesse vermitteln kann. Der folgende Artikel handelt von ihrem
Aufenthalt in Serbien.
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Der Regen vereist auf der Windschutzscheibe, sobald er sie beruehrt.
Dieser Rauchglaseffekt ist hoechst unwillkommen, wenn man auf einer
Strasse faehrt, die einer Eisbahn gleicht. Es ist stockdunkel, und es
waere nuetzlich, zu sehen, wohin wir fahren. Bei jeder Sturmboee
waechst die Eisschicht um unseren Bus. Die Heizung im Wageninnern
funktioniert nicht. Alles in allem nicht sehr utopisch. Willkommen in
Serbien.

Wir sind auf dem Weg nach Zrenjanin, einer Industriestadt im Norden.
Zuvor hatten wir einiges von Jugoremedija, einer Arzneimittelfabrik,
gehoert. Nach einem Kampf, der vier Jahre dauerte, gehoert sie heute
zu einer der wenigen von Arbeitern selbstverwalteten Fabriken in
Europa. Um dies zu erreichen, warfen die Arbeiter den neuen - von
Interpol gesuchten - Besitzer hinaus, streikten und besetzten die
Werkstaetten. Am Vortag unserer Ankunft erfuhren wir, dass nicht nur
ein Betrieb, sondern drei Betriebe besetzt waren. Zwei Unternehmen,
die vor der Schliessung standen, nahmen sich den Erfolg von
Jugoremedija zum Beispiel: die groesste fuer den Eisenbahnbedarf
produzierende serbische Fabrik Sin-voz und der Schlachthof Bek. Ivan,
ein junger intellektueller Aktivist, den die Arbeiter den
«Philosophen» nennen, organisiert den Widerstand im Zusammenspiel mit
Zdravko, dem rebellischen und charismatischen Arbeiter von
Jugoremedija, der auch als Che von Zrenjanin bekannt ist. Sie hatten
sich im Buero von Ivan in Belgrad getroffen, wo dieser fuer eine
staatliche Agentur, dem Antikorruptionsrat, arbeitet. Am Anfang war
Ivan vor allem ein militanter Antinationalist und Kriegsgegner. Die
Privatisierungswelle sah er zuerst nicht sehr kritisch. Er hielt sie
fuer ein Mittel, die Kontrolle der Arbeiter zu brechen, die eine
starke Tendenz aufwiesen, nationalistisch gesinnte Politiker zu
unterstuetzen. Dass der Privatisierungsprozess genauso korrupt und
brutal wie irgendein Krieg war, begriff er durch die Lektuere der
Unterlagen, die sich auf seinem Schreibtisch anhaeuften, und durch
mehrere hundert Zeugenaussagen von Arbeitern ueber die Art und Weise,
wie die Privatisierungen ihre Betriebe ruinierten. Waehrend eines
Rundgangs mit uns durch die eisigen leeren Hallen von Sinvoz sagte der
Arbeiter Mita sehr treffend: «Fuer das, was sie Uebergang zur
Demokratie nennen, haben wir eine andere Bezeichnung, naemlich
Diebstahl.»

Keiner der Arbeiter trauert der sozialistischen Zeit hinterher. Sie
koennen aber nicht einfach dabei zusehen, wie die Grosskapitalisten
Anteile ihrer Fabriken kaufen, nur um sie durch undurchsichtige
Machenschaften in den Bankrott zu treiben, schliesslich die Kontrolle
ueber sie gewinnen und ihren Reichtum auf der Misere der Arbeiter
aufbauen. Tatsache ist, dass in Serbien die Fabriken wirklich zum Teil
den Arbeitern gehoeren: dank des - zumindest auf dem Papier
stehenden - Selbstverwaltungssystems der Tito-Aera, sind sie
Aktionaere ihrer eigenen Fabriken. «Waehrend des Kampfes um
Jugoremedija», erklaert uns Ivan, «war es sehr frustriernd, wie die
Medien sich weigerten zu begreifen, dass die Streikenden nicht nur
Arbeiter sondern auch Mitbesitzer der Fabrik sind.» Die Arbeiter
widersetzten sich dem Druck, ihre Anteile zu verkaufen, und entdeckten
dabei, welch beachtliche Staerke sie gegen die neuen gnadenlosen
Besitzer darstellten, wenn sie sich gemeinsam organisierten.

Von der direkten Aktion zur Wiederinbetriebnahme der Fabrik haben die
Arbeiter gezeigt, dass sie sehr wohl in der Lage sind, ihre eigene
Zukunft zu lenken. Sich niemals vom Gegner aufsplittern zu lassen, um
danach besser kontrolliert zu werden, ist ihre groesste Staerke. Nach
dem extrem harten Streik und als die Fabrik dann in ihren Haenden war,
gaben die Arbeiter sogar den Streikbrechern ihre Arbeitsstellen
zurueck. Waehrend unseres letzten Abends in Zrenjanin beobachteten wir
Zdravko, den ehemaligen Mechaniker und heutigen Betriebsleiter, beim
Organisieren einer Solidaritaetsaktion fuer die anderen beiden
kaempfenden Betriebe: das Blockieren einer Autobahn durch die
Lastwagen mit dem Markenzeichen von Jugoremedija!

Ein waermender Hauch von Utopie in der kalten Realitaet dieses Landes
kommt auf.
(Isabelle Fremeaux, aus: Archipel)


*
Die Arbeiter rufen zu internationaler Solidaritaet auf. Mehr dazu
unter http://www.freedomfight.net
Mehr Informationen zu «Utopien»: http://www.utopias.eu
und Archipel 159,160,161 und 163


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